Cem Özdemir in der Diskussion mit Jannik Rust und Soli Özel
Am Rande der Veranstaltung „Still a European Turkey? Election Gambit, Kurdish Question and Turkey’s Quest for a Stable Middle East” mit Soli Özel und Cem Özdemir haben wir den Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen zur Rolle Deutschlands in der Flüchtlingskrise und dem Bürgerkrieg in Syrien befragt.
In einem kürzlich erschienen Interview sagten Sie, dass die Politik der offenen Tür von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Union sehr umstritten ist. Sehen Sie die Gefahr vor allem innerhalb ihrer Partei? Oder könnte die Haltung von Frau Merkel in der Flüchtlingspolitik auch die Wähler beeinflussen?
Bislang war es Frau Merkel in ihrer Kanzlerschaft nicht gewohnt, die Ruder selbst in die Hand zu nehmen und zu rudern. In einer Situation, wie vor der sie jetzt steht, schrumpft man entweder und wird weggefegt oder man wächst. Wie das ausgeht für sie, vermag ich, ehrlich gesagt, noch nicht zu sagen.
Ihr Hauptproblem liegt in ihrer eigenen Partei. Die Union ist im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie keine Partei, die ihre Kanzler permanent in den Senkel stellt, sondern eher ein Kanzlerwahlverein. Das Rumoren an der Basis ist ja nicht zu überhören, und man darf gespannt sein, wer sich da durchsetzt.
Als Bürger der Republik wünsche ich mir natürlich, dass sich die Haltung von Frau Merkel durchsetzt, denn wir brauchen eine Mehrheit in der Politik, die wiederum in der Gesellschaft für Mehrheiten wirbt, dass wir die Flüchtlinge aufnehmen, akzeptieren und gut in unsere Gesellschaft integrieren.
Horst Seehofer hat kürzlich die Kanzlerin wegen ihrer Haltung in der Flüchtlingspolitik kritisiert und auf die begrenzten Aufnahmemöglichkeiten Deutschlands hingewiesen. Auch der Bundespräsident hat zum ersten Mal Bedenken geäußert. Wie stehen Sie zur Aufnahmebegrenzung von Flüchtlingen?
Der Bundespräsident und andere erinnern daran, dass die Aufnahme von Flüchtlingen kein gemütlicher Spaziergang wird, sondern eine anstrengende Sache ist. Man muss davon ausgehen, dass die weitaus größte Zahl an Flüchtlingen auf Dauer bei uns bleiben wird, da eine Besserung in ihren Herkunftsländern bedauerlicherweise nicht in Sicht ist. Daraus folgt, dass wir dafür sorgen müssen, dass die Leute so schnell wie möglich Deutsch lernen. Deutschkenntnisse sind auch wichtig, damit die Berufs- und Fachkenntnisse nicht verlorengehen, sondern zur Anwendung kommen können. Es geht aber auch um eine kulturelle Integration. Denn wer nach Deutschland kommt, muss auch wissen, in welches Land er oder sie kommt. Nämlich in das Land des Grundgesetztes, in ein säkulares Land, in dem zwar Religionsfreiheit herrscht, aber auch umgekehrt die Freiheit von der Religion dazu gehört.
Das alles ist kein Selbstläufer. Das alles muss organisiert werden. Wir sind ein Land, dass aus seiner Geschichte über Erfahrung verfügt in der Assimilation, wenn man an die Hugenotten, die Waldenser, an die Ruhrgebietspolen denkt. Aber wir haben noch nicht so viel Erfahrung damit, wie es ist, Vielfalt auszuhalten und zugleich ein einigendes Band zu haben. Darauf kommt es heute aber an. Zusammengefasst: Es geht darum, aus dem „Ihr“ ein „Wir“ zu machen bzw. ein neues „Wir“ zu formulieren.
Was Herr Seehofer und andere machen, ist Stimmungsmache. Ich glaube nicht, dass sich das auszahlt. Die einzigen, die davon profitieren, sind AfD und andere rechts außerhalb des demokratischen Spektrums. Demokratische Parteien müssen natürlich Menschen, die Ängste haben, ansprechen und ihnen eine Heimat geben. Aber sie dürfen Ängste nicht schüren. Wenn man das macht, dann sind auch wir nicht vor dem gefeit, was wir in Österreich oder anderswo in Europa erleben, nämlich dass rechtspopulistische Parteien wieder kräftig Zulauf haben.
Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie sich eine internationale Friedenskonferenz zu Syrien in Berlin vorstellen könnten, weil Deutschland ein guter Mediator zwischen den beteiligten Parteien sein kann. Was zeichnet Deutschland aus? Und wann findet die Konferenz statt?
Deutschland hat eine positive Rolle in den Nuklearverhandlungen mit dem Iran gespielt. Ich wünsche mir, dass Deutschland weiterhin eine Außenpolitik der aktiven Diplomatie betreibt. Auch im Fall von Syrien! Ich bedauere, dass in der Öffentlichkeit Syrien erst jetzt wieder eine Rolle spielt, nachdem die Flüchtlingszahlen so drastisch hoch gegangen sind. Der syrische Diktator Assad hat auch davor schon Fassbomben geworfen. Und ISIS hat auch davor Frauen versklavt und Menschen grausam umgebracht. Das ist alles nicht neu.
Wir müssen alles dafür tun, dass es unter Einbeziehung der Nachbarn – natürlich wird man auch um Russland nicht herumkommen – zu einer Lösung kommt. Oberstes Ziel muss sein, dass die Waffen ruhen und die Menschen humanitär versorgt werden können. Jeder Tag, der vergeht, ist für uns alle eine Katastrophe und ein Versagen der Staatengemeinschaft. Deshalb muss jetzt alles dafür getan werden, damit es auf der Basis der Vereinten Nationen zu einer Einigung kommt. Von mir aus – und ich sage das als jemand, der findet, dass Assad eigentlich nach Den Haag gehört – soll der Mann ein sicheres Geleit nach Moskau bekommen, wenn damit die Gewalt beendet wird. Deutschland sollte die Bemühungen um eine Verhandlungslösung mit allen Kräften unterstützen.
Quarterly Perspectives
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