Richard von Weizsäcker Forum 2020
Die ungleiche Verteilung von Macht, Wohlstand und Privilegien innerhalb und zwischen Gesellschaften gehört zu den drängendsten Herausforderungen unserer Zeit. Wachsende Ungleichheiten verschärfen gesellschaftliche Polarisierung und untergraben die Legitimität politischer Institutionen. Beim Richard von Weizsäcker Forum vom 12. bis 15 Oktober 2020 setzten sich rund 50 ehemalige, aktuelle und zukünftige Fellows der Robert Bosch Academy mit den vielschichtigen Dimensionen des Themas Ungleichheit auseinander.
Am ersten Tag des Forums – dem virtuellen „Fellows in Conversation Day“ – näherten sich die Fellows dem Thema aus einer globalen Perspektive.
„Ungleichheit ist eng mit anderen Herausforderungen unserer Zeit verflochten, wie dem technologischen Wandel, der Klimakrise und der Migration. Die Robert Bosch Stiftung prüft derzeit, wie sie einen Beitrag zur Reduzierung von Ungleichheit leisten kann. Wir richten unsere Aufmerksamkeit darauf, wirkungsvolle systemische Herangehensweisen in Forschung und Praxis zu identifizieren und zu fördern“, sagte Sandra Breka, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung, in ihren einleitenden Worten.
Nach der anschließenden Eröffnungsrede von Yascha Mounk, Associate Professor of Practice an der Johns Hopkins University, diskutierte dieser mit Emilia Roig, Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice, und Samir Saran, Präsident der Oberserver Research Foundation, über die verschiedenen Facetten von Ungleichheit. Moderiert wurde die Diskussion von der Journalistin Femi Oke.
Mit den Impulsen aus der virtuellen Paneldiskussion ging es in die Breakout Sessions, in denen sich die Teilnehmer auf spezifische Ausprägungen von Ungleichheit fokussierten. In der ersten Gruppe drehte sich die Diskussion um Polarisierung und Populismus als Symptome wachsender Ungleichheit. „Wie können politische und gesellschaftliche Gräben überwunden werden?“, war die zentrale Frage der Debatte. Die zweite Gruppe diskutierte die Frage, wie und warum Pandemien wie Covid-19 Ungleichheiten verschärfen und sogar neue Formen verursachen. Die dritte Gruppe nahm politische und gesellschaftliche Entscheidungsträger in den Blick und debattierte über die Frage, wie politische Maßnahmen inklusiver gestaltet werden können um Ungleichheiten zu reduzieren.
Auf den virtuellen „Fellows in Conversation Day“ folgte eine Studienreise in das Ruhrgebiet. Eine ausgewählte Gruppe von Fellows, die trotz der aktuellen Beschränkungen durch die Pandemie nach Deutschland reisen konnten, beschäftigte sich hier mit dem Strukturwandel in der Region und seinen sozioökonomischen Folgen. Die Studienreise begann in Dortmund mit einem gemeinsamen Mittagessen mit Stephan Holthoff-Pförtner, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales des Landes Nordrhein-Westfalen.
„Die erste Universität in Ruhrgebiet wurde 1962 in Bochum gegründet. Heute hat das Ruhrgebiet die dichteste Hochschullandschaft Europas. Wir haben gelernt, dass die Suche nach Neuem nicht die Neuerfindung des Alten ist. Daher möchten wir eine Infrastruktur verfestigen, die für die Menschen, die Kunst und die Start-Ups da ist.“ (Stephan Holthoff-Pförtner)
Anschließend folgte ein Besuch beim Verein „Die Urbanisten“ und ein Gespräch mit dessen Vorstandsmitglied Jan Bunse. „Die Urbanisten“ engagieren sich durch verschiedene Stadtentwicklungsprojekte für die Verbesserung des städtischen Zusammenlebens und der urbanen Lebensräume.
„Die herkömmliche Wahrnehmung ist, dass Kunst etwas Elitäres ist. Doch Kunst ist viel diverser. Wir möchten die Vielfalt urbaner Kunst aufzeigen, vor allem die aus weniger privilegierten Gesellschaftsschichten, und mit unseren Projekten Menschen zusammenbringen, die sich ansonsten nicht treffen würden.“ (Jan Bunse)
Die nächste Station auf der Studienreise war der Fußballverein Borussia Dortmund (BVB). Im Gespräch mit Daniel Lörcher, Abteilungsleiter für Corporate Responsibility des BVB, ging es um die Rolle des Fußballs im Ruhrgebiet und die Verantwortung von Vereinen wie dem BVB bei der Überwindung von gesellschaftlicher Polarisierung.
„Die Stadt und die Region haben eine besondere Beziehung zum Fußball. Wenn in Dortmund etwas passiert, ist der BVB immer dabei. Daher möchten wir die Attraktivität unserer Marke nutzen, um wichtige gesellschaftliche Debatten anzustoßen und Narrative zu prägen. Zum Beispiel durch die Besuche im Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz oder unsere Bierdeckelaktion ‚Kein Bier für Rassisten!'“ (Daniel Lörcher)
Das Abendessen ermöglichte den Fellows einerseits die Erfahrungen des Tages zu reflektieren, und andererseits tauschten sie sich untereinander über ihre aktuellen Projekte aus.
Der zweite Tag der Studienreise begann mit einem Blick in die Gründerszene des Ruhrgebiets. Im Gespräch mit Ersin Üstün, Programmleiter bei der Gründerallianz Ruhr, und Stefan Weber, Start-up Ecosystem Manager beim Initiativkreis Ruhr, tauschten sich die Fellows über die Chancen, Probleme und Herausforderungen von Start-Ups in der Region aus.
„Das Ruhrgebiet verfügt über ein einzigartiges Ökosystem für Gründer. Die 22 Hochschulen mit rund 300.000 Studenten bieten eine dynamische Grundlage. Hinzu kommt die Nähe zur Industrie: Durch die zahlreichen Unternehmen, darunter ThyssenKrupp, Evonik und Signal Iduna, haben die Start-Ups kurze Wege zu ihren Kunden und Investoren.“ (Ersin Üstün)
„Das Ruhrgebiet hat nach außen leider oft noch das Image einer Problemregion. Wir wollen aufzeigen, dass es eine Chancenregion für junge Unternehmer ist mit einer Vielzahl von Bildungs- und Kulturangeboten, die es sonst fast nirgends gibt." (Stefan Weber)
Im Anschluss besuchten die Fellows das UNESCO Welterbe Zeche Zollverein in Essen und erhielten eine Führung durch das ehemalige Kohlebergwerk. Beim darauffolgenden Mittagessen mit Franz-Josef Wodopia, Geschäftsführer des Vereins der Kohlenimporteure, ging es um die anhaltende Bedeutung der Kohleindustrie für die Region und Gesellschaft.
„Das Zeitalter der Kohleindustrie hat ein gutes Ende gefunden. Ein Ende, das sich jedoch bis in die Gegenwart und Zukunft zieht. Die Aufgaben und die Verantwortung der Kohleindustrie für die Umwelt und die Menschen im Ruhrgebiet wird daher bis in alle Ewigkeiten währen.“ (Franz-Josef Wodopia)
Nach dem Blick auf die Industrie, die das Ruhrgebiet in der Vergangenheit besonders prägte, folgte ein Blick in die Zukunft. Über die Ergebnisse der Shell Jugendstudie sowie die Anliegen und Prioritäten der Jugendlichen sprachen die Fellows mit Mathias Albert, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bielefeld und Autor der Shell Jugendstudie, Frank Meetz, Geschäftsleiter des TalentKollegs Ruhr, und Lena Kah, Vertreterin von Fridays for Future in Dortmund.
„Unter den Jugendlichen ist es heute cool, politisch interessiert und engagiert zu sein. Es fällt jedoch auf, dass die Unterschiede hierbei nicht entlang des Geschlechts oder der Herkunft verlaufen, sondern entlang des sozialen Status. Die strukturelle Kluft ist deutlich zu erkennen.“ (Mathias Albert)
„In einigen Großstädten des Ruhrgebiets leben bis zu 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft. Viele dieser Talente tragen schon allein deshalb einen schweren Rucksack, der eine erfolgreiche Bildungsbiografie sehr herausfordernd macht. Ziel der NRW-Talentförderung ist die Entfaltung von Talenten unabhängig von ihrem Elternhaus. Wir können es uns weder gesellschaftlich noch volkswirtschaftlich erlauben, dieses große Potenzial an Talenten zu vergeuden." (Frank Meetz)
„Auf die Straßen zu gehen und zu protestieren, gibt uns das Gefühl, etwas tun und bewegen zu können. Denn der Klimawandel löst bei den Jugendlichen Angst und Hilflosigkeit aus. Leider verstehen die politischen Entscheidungsträger diese Angst und Dringlichkeit nicht. Daher glaube ich nicht daran, dass sie einen substanziellen Wandel anstoßen werden.“ (Lena Kah)
Am Ende des zweiten Tages ging es um die politische Lage in Deutschland, kurz nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen und ein Jahr vor den Bundestagswahlen 2021. Beim gemeinsamen Abendessen mit Ulf Buermeyer, Co-Host des wöchentlichen Podcasts „Lage der Nation“ und Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte, diskutierten die Fellows über aktuelle politische Themen, die Lage der Parteienlandschaft und mögliche Koalitionen in der „post-Merkel Ära“.
„Zu zwei wichtigen Politikfelder haben die Parteien keine Antworten, auf die sich eine Wahlentscheidung stützen ließe: die Wirtschaft nach der Corona-Pandemie und die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt. Hier sind die Parteien entweder selber ratlos - oder sie unterscheiden sich in ihren Ansätzen kaum voneinander.“ (Ulf Buermeyer)
Zum Ende des Richard von Weizsäcker Forums resümierte Henry Alt-Haaker, Leiter des Bereichs Strategische Partnerschaften und Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung, die Erfahrungen der Studienreise: „Es war eine große Freude, diese Reise in das Ruhrgebiet mit den Fellows durchzuführen. Einerseits haben die vielfältigen Gesprächspartner einen umfassenden Einblick in die Herausforderungen in der Region gegeben. Andererseits sind die mitreisenden Fellows in den letzten Tagen noch enger zusammengewachsen und konnten Bezüge zwischen ihrer Arbeit und den Erfahrungen der Region diskutieren. Die Robert Bosch Academy lebt vom Austausch und Begegnungen ihrer Fellows. Im nächsten Jahr können wir dann hoffentlich wieder eine größere Zahl an Fellows begrüßen – so es die Pandemie zulässt.“