Wird der Ukraine-Krieg Polen in den demokratischen Schoß Europas zurückführen?
Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine wird die europäische Ordnung neu verhandelt. Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz spekulieren darüber, was diese Entwicklungen für Polen und seine Beziehungen zu Europa bedeuten könnten.
Von Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz
Was für einen Unterschied ein Krieg macht. Vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar galt Polen als das schwarze Schaf Europas. Die illiberale Regierung unter der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) trat die demokratische Verfassung des Landes mit Füßen, knechtete die öffentlichen Medien und griff die Rechte von Frauen und Minderheiten an. Polen nahm so die Außenseiterposition in der Europäischen Union ein. Die EU leitete in der Folge mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen die polnische Regierung ein, weil sie die Regeln der Union für eine demokratische Staatsführung verletzt hatte.
Die Regierung in Warschau schien mit diesem Zustand gut leben zu können. Gegenüber den polnischen Wähler:innen konnte sie die Spannungen mit Brüssel als Beweis für die kompromisslose Selbstbestimmung ihres Landes darstellen. Andere europäische Populist:innen fanden in Warschau eine offene Tür: Letztes Jahr beispielsweise trafen sich Frankreichs damalige Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban und andere Gleichgesinnte in Warschau mit dem PiS-Vorsitzenden, Jaroslaw Kaczynski, um eine angebliche Brüsseler Machtübernahme anzuprangern, die die EU in einen „Superstaat“zu verwandeln drohte.
Der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hat ein Umdenken in der europäischen Ordnung erzwungen. Dabei hat sich Polen als wichtiges Teil des Puzzles erwiesen: Unmittelbar nach dem Beginn der Invasion nahm Warschau die Dinge in die Hand und half der Ukraine. Zur Überraschung vieler nahm das Land schätzungsweise vier Millionen ukrainische Geflüchtete mit offenen Armen auf; das entspricht etwa zehn Prozent der polnischen Bevölkerung und ist die größte Zahl von Migrant:innen im Land seit 1945. Warschau gewährte Kiew auch umfangreiche militärische und andere Hilfe, darunter Panzer im Wert von fast zwei Milliarden Euro, moderne Artillerie, Flugabwehrgerät, Kampfdrohnen, Überwachungssysteme und andere Ausrüstung. Der in der südöstlichen Ecke des Landes gelegene Flughafen Rzeszow-Jasionka hat sich zu einem globalen Drehkreuz für Waffenlieferungen und andere Ausrüstungsgegenstände für die Ukraine entwickelt. Sehr schnell wurde Polen zum drittwichtigsten Unterstützer der Ukraine nach den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Im Rahmen der Bemühungen um eine bessere Sicherung der Ostgrenze der transatlantischen Allianz wurde auch die Unterstützung Polens durch andere NATO-Mitglieder erheblich verstärkt. Infolgedessen ist die Isolation des Landes, die noch vor dem Krieg herrschte, wie Wachs in der Sonne geschmolzen.
Doch der Versuch des Kremls, die Demokratie in der Ukraine zu zerstören, hat die europäischen Politiker:innen auch daran erinnert, dass die Achtung der Demokratie nicht nur eine abstrakte Idee ist. Da sich Europa in seiner Unterstützung für die Ukraine einig ist, ist die Hoffnung groß, dass sich Polen nicht nur strategisch an den Rest Europas anpasst, sondern auch auf den politischen Weg der liberalen Demokratie zurückfindet.
Die Nähe zu einem immer aggressiveren Russland wirkte auf Polens ideologisch aufgeheizte Köpfe wie eine kalte Dusche
Einige der jüngsten Signale aus Warschau scheinen diese Erwartungen zu erfüllen. Seit Beginn des Krieges scheint Polen sein illiberales populistisches Bündnis mit Ungarn bis auf weiteres ausgesetzt zu haben. Kaczynski hat die pro-russischen Sympathien Orbans offen kritisiert. In der Debatte um ein EU-weites Embargo für russisches Erdgas hat sich Warschau auf die Seite seiner EU-Partner gestellt, während Budapest zwischen Russland und dem Westen hin und her schwankt. Im Moment wäre es auch schwer vorstellbar, dass Le Pen wie in der Vergangenheit mit den offiziellen Ehren eines Staatsoberhaupts durch Warschau fährt. Das EU-Bashing der Regierung ist unter dem Druck der geopolitischen Realität in den Hintergrund getreten vor allem durch die Angst Polens vor dem russischen Neoimperialismus und den gestiegenen Bedarf an westlicher Unterstützung.
Doch auch wenn diese Zeichen hoffnungsvoll stimmen, ist Polens Rückkehr auf den liberalen Weg nicht so einfach. Ja, die geopolitischen Interessen Warschaus liegen heute viel näher an denen Washingtons und Brüssels als in den vergangenen Jahren. Die Furcht vor russischen Versuchen der Rekolonisierung Osteuropas, wie sie in den letzten drei Jahrhunderten wiederholt stattgefunden haben, wird von der Regierung und der Gesellschaft kollektiv geteilt – nicht nur in Polen. Die baltischen Staaten zum Beispiel teilen die Überzeugung Polens, dass Russland die größte Bedrohung für ihre Souveränität und Staatlichkeit darstellt. Diese posttraumatische Souveränität, wie wir sie nennen, prägt ihre Innen- und Außenpolitik weit mehr als jeder nationalistische Dissens mit den EU-Institutionen. Laut einer Zymetria-Meinungsumfrage vom April äußerten 84 Prozent der Polen die Befürchtung, dass militärische Aktionen auf polnisches Gebiet übergreifen könnten.
Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass dies die derzeitige polnische Regierung automatisch dazu bringen könnte, die Werte liberaler Demokratien zu unterstützen. Polens innenpolitischer Weg wird komplex bleiben, vielleicht vergleichbar mit Ländern in Südosteuropa, wie Serbien.
Wenn Warschau nun seine Interessen mit denen Brüssels in Einklang bringt, ist das nicht gleichbedeutend damit, dass es die Werte seiner EU-Partner teilt. Kaczynski und seine Gefolgsleute werden wahrscheinlich nicht als liberale Demokrat:innen wiedergeboren, sondern bleiben, was sie bisher waren: Verfechter:innen nationalstaatlicher Souveränität, die ihre Macht für illiberale Zwecke nutzen. Sie mögen jetzt, in Zeiten der Gefahr, die westlichen Institutionen als Garanten der polnischen Souveränität mehr schätzen, aber der aktuelle Krieg wird sie nicht davon überzeugen, ihre Ansichten über die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Rechte von Frauen und Minderheiten oder die Rolle der öffentlichen Medien zu ändern. Das sind die wichtigsten Bereiche, in denen die liberale Demokratie in Polen seit 2015 Schaden genommen hat. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien haben sich seit 2015 der Regierung untergeordnet und senden weiterhin ununterbrochen politisch illiberale Inhalte.
Zudem versucht Warschau nach wie vor, seine nationalistischen Allianzen auszubauen. Nachdem Ungarn zurzeit wegen seiner stark pro-russischen Ausrichtung diskreditiert ist und der Versuch, eine Achse mit Post-Brexit-Großbritannien zu bilden, gescheitert ist, wird nun in Kiew ein potenzieller Partner gesehen. Mitglieder der polnischen Regierung haben bereits ihren Wunsch geäußert, ein starkes polnisch-ukrainisches Bündnisaufzubauen, das Osteuropa unabhängig von der EU dominieren könnte. Sie hoffen, dieses Bündnis auf nationalistischen und antiwestlichen Gefühlen aufbauen zu können, auch wenn Kiew heute überwiegend auf die EU ausgerichtet ist.
Dennoch könnte Warschau durch die Ereignisse, einschließlich derer, die durch Russlands Krieg ausgelöst wurden, gezwungen sein, sich dem europäischen demokratischen Mainstream anzunähern. Die polnische Regierung weiß, dass das Land nicht allein gegen Russland bestehen kann – nicht einmal im Bündnis mit der Ukraine. Und Polens enge Beziehungen zur NATO reichen nicht aus, denn die aktuellen Herausforderungen sind nicht nur militärischer Natur. Die polnische Inflation ist auf über 15 Prozent gestiegen, und die große Zahl ukrainischer Flüchtlinge stellt eine offensichtliche Herausforderung für das Bildungssystem, die öffentlichen Einrichtungen und den sozialen Zusammenhalt im Land dar. In dieser Situation ist es schwer vorstellbar, dass Warschaus Wunsch, die EU-Standards zu unterlaufen, so groß ist, dass es den Zugang zu EU-Mitteln für die Zeit nach der Pandemie verliert. Dieses Geld hat Brüssel momentan als Reaktion auf die Krise des polnischen Rechtsstaats vorübergehend blockiert. Auch wenn die polnische Regierung immer noch versucht, die Europäische Kommission zu überlisten und den Wähler:innen gegenüber behauptet, dass sie die Erwartungen der EU nicht erfüllen wird, riskiert sie bei den nationalen Wahlen in 2023 einen Rückschlag, wenn sie nicht tut, was die EU verlangt, damit Brüssel die Gelder freigibt.
Bei den derzeitigen Auseinandersetzungen mit den EU-Ländern wird Warschau nur widerstrebend an den Verhandlungstisch zurückkehren, damit die Einheit des Westens gewahrt bleibt. Die Nähe zu einem zunehmend aggressiven Russland war eine kalte Dusche für ideologisch erhitzte Gemüter. Das wird Polens regierende Politiker:innen zwar nicht in absehbarer Zeit in lupenreine liberale Demokratinnen und Demokraten verwandeln, aber es wird wahrscheinlich ihre rechtskonservative Agenda in einigen Punkten abmildern. Das schwarze polnische Schaf ist nicht plötzlich weiß geworden, doch seine Wolle scheint sich grau zu färben.
Karolina Wigura ist politische Redakteurin der Kultura Liberalna, Assistenzprofessorin an der Fakultät für Soziologie der Universität Warschau und Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy. Twitter: @KarolinaWigura
Jaroslaw Kuisz ist Chefredakteur von Kultura Liberalna, Dozent an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Universität Warschau und Policy Fellow an der University of Cambridge.
Quarterly Perspectives
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