Forschung und Wirklichkeit im 21. Jahrhundert: „Die Zeit für eine neue Wissenschaft ist jetzt.“

März 2023

Wie können Forschung und digitale Technologien der Welt bei der Lösung ihrer schwierigsten Probleme helfen?

von Cathy Mulligan

Cathy Mulligan Technologie
IMAGO / Westend61 Andrew Brookes

Der Klimawandel ist eine drohende Gefahr, die das Potenzial hat, die Welt, wie wir sie kennen, erheblich und weitreichend zu verändern. Die Auswirkungen des Klimawandels werden sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen bemerkbar machen, auch in den wirtschaftlichen und sozialen Systemen. Das verlangt von uns, dass wir neu darüber nachdenken, wie wir unsere Welt organisieren. Das gilt besonders für die Art und Weise, wie wir unsere Grundbedürfnisse befriedigen: von Wasser und Lebensmitteln über Energie, Verkehr und Logistik bis hin zu unseren Bildungssystemen und Arbeitsmärkten.

Ich glaube, dass zwei Dinge entscheidend sind, um die Menschheit bei diesem Wandel zu unterstützen:

  • neue Forschungsinstrumente, die sich mit realen Problemen befassen und nicht nur akademische Papiere produzieren und
  • sinnvoll eigesetzte digitale Technologien, die uns bei den erforderlichen Veränderungen helfen können, auch in der Forschung selbst.

Die Notwendigkeit für grundlegende Veränderungen

Es gibt zwei Hauptgründe, warum wir etwas verändern müssen: Erstens, um die negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Folgerisiken zu verringern, und zweitens der sich verstärkende Anpassungsdruck selbst. So werden zum Beispiel die Systeme zur Lebensmittelversorgung, die wir im großen Maßstab angelegt haben und die sich über den gesamten Globus erstrecken, ins Wanken geraten, wenn wir bei unserer derzeitigen Anpassungsgeschwindigkeit bleiben. Wir sehen bereits jetzt die negativen Auswirkungen, weil Ernten weltweit wegen abnormaler Temperaturen infolge des Klimawandels ausfallen. In der heutigen Welt werden solche Herausforderungen von Unternehmen mit ihren globalen Lieferketten bewältigt; deshalb wird viel über die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit von Lieferketten diskutiert. Diese Debatten finden derzeit nur intern in großen Unternehmen statt, müssen aber unbedingt in der gesamten Gesellschaft geführt werden.

Das Ausmaß des Wandels und der damit verbundene Veränderungsdruck bedeuten, dass wir Vorbereitungen für die Resilienz kritischer Infrastrukturen auf gesellschaftlicher Ebene treffen müssen. Wirtschaftsunternehmen betrachten die Versorgungskette aus der Eigenperspektive: Sie wollen widerstandsfähig sein, um ihre Produkte und Dienstleistungen weiterhin liefern zu können. Niemand betrachtet die Frage der Resilienz auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene.

Während die Welt lernt, mit dem Klimawandel umzugehen, müssen die Menschen sich darauf einstellen, die globalen Lieferketten dann zu nutzen, wenn sie verfügbar sind – aber auch die Fähigkeit entwickeln, auf lokale Versorgungskapazitäten zurückzugreifen, wenn die globalen Lieferketten ausfallen, insbesondere wenn es um kritische Versorgungsgüter und Dienstleistungen geht.

Neue Governance-Mechanismen sind erforderlich

Deshalb müssen Landkreise, Städte und sogar Stadtteile in der Lage sein, selbst Versorgungsleistungen zu erbringen, während sie darauf warten, dass die globalen Versorgungsketten wieder funktionieren. Die Verantwortung dafür liegt derzeit bei den Regierungen von Nationalstaaten, doch es wird immer unwahrscheinlicher, dass diese mehrere Krisen gleichzeitig bewältigen können. Wir brauchen daher neue Governance-Mechanismen, die eine dezentrale Bereitstellung großer Infrastrukturen ermöglichen, um echte Flexibilität und Widerstandsfähigkeit für die Gesellschaft zu erreichen – und nicht nur für Großunternehmen. Wir müssen uns eher jetzt als später fragen: Wie lässt sich die Bereitstellung der zunehmend knapper werdenden Ressourcen für alle Menschen am besten organisieren?

Unsere traditionellen Arbeitsweisen aus dem 20. Jahrhundert werden nicht ausreichen, um die künftigen Probleme zu bewältigen. Auch wenn diese Herausforderungen heute weit weg zu sein scheinen, muss sich die Menschheit auf eine radikal andere Zukunft vorbereiten. Die Herausforderungen, die der Klimawandel stellt, sind komplex und vielschichtig. Indem wir gemeinsam daran arbeiten, unsere kritischen Systeme widerstandsfähiger zu machen, können wir jedoch dazu beitragen, eine nachhaltigere und sicherere Zukunft für alle zu gewährleisten. Darüber hinaus erfordert der Aufbau von Resilienz eine konzertierte Anstrengung von Regierungen, Unternehmen, der Zivilgesellschaft und Bürger:innen.

Um die zur Bewältigung des Klimawandels erforderliche Widerstandsfähigkeit zu erreichen, ist ein systemübergreifender Ansatz erforderlich, der die gegenseitige Abhängigkeit der Systeme berücksichtigt. Anstatt sich auf Einzellösungen oder -konzepte zu verlassen, müssen wir die komplexen Wechselwirkungen zwischen sozialen Organisationen, Wirtschaft und Technologie berücksichtigen.

Dies bedeutet schwierige Entscheidungen über die Nutzung von Ressourcen zu treffen, auf nachhaltigere Energie- und Produktionsformen umzustellen und neue Ansätze für die Planung und Entscheidungsfindung zu entwickeln. Wir müssen auch grundlegend über die Rolle der neuen Technologien und der Forschung nachdenken, um der Gesellschaft zu helfen, schnell genug zu reagieren.

Welchem Zweck dient Forschung im 21. Jahrhundert?

Um die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen, können wir nicht die wissenschaftlichen Methoden des 20. und in einigen Fällen des 19. Jahrhunderts anwenden. Die Forschungseinrichtungen müssen sich anpassen und Ergebnisse von echtem Nutzen liefern. Ich bin der Meinung, dass sich unser Forschungsansatz grundlegend ändern muss, weil mir die Art und Weise, wie Universitäten zurzeit arbeiten, den neuen Zielen nicht mehr angemessen erscheint – das gilt insbesondere für unsere Konzepte zur Erforschung digitaler Technologien.

In der Diskussion über digitale Innovation und Universitäten wurde viel über die Zukunft der Bildung gesprochen. Wie soll man eine Generation unterrichten, die Fähigkeiten braucht, die die Lehrenden selbst noch nicht verstehen? Gleichzeitig bleibt die Forschung selbst unerforscht – und die Forschung ist das, worauf Universitäten am stolzesten sind und worauf sie den größten Wert legen, noch vor ihrem Bildungsauftrag. Das liegt vielleicht daran, dass es schwieriger ist, ein System von innen heraus zu verändern, oder daran, dass Akademiker:innen sehr gut darin sind, Dritte zu erforschen, aber nicht darin, sich selbst und ihre Methoden kritisch zu beurteilen.

In vielen Fällen behindern die akademische Welt und ihr teils klischeehaftes Selbstbild die Entwicklung einer nützlichen und brauchbaren Forschung, die der Menschheit bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen soll. Aufsätze und Bücher werden produziert, weil Akademiker:innen in der heutigen Welt an Veröffentlichungen gemessen werden und diese ihnen Beförderung, Stipendien und Festanstellung – mit anderen Worten: Erfolg – versprechen. Akademische Arbeiten werden jedoch nicht von Menschen außerhalb der akademischen Welt (und oft nicht einmal innerhalb) gelesen. Wissenschaftliche Ergebnisse werden selten umgesetzt, weil sie esoterisch sind und oft imaginäre Probleme lösen, die in der realen Welt nicht existieren. Selbst Ansätze, die auf der Interaktion mit Endnutzer:innen beruhen, wie z. B. das nutzerzentrierte Design, führen oft zu Forschungsergebnissen, die eher performativ als praktisch sind. Infolgedessen sind die Business Schools voll von talentierten Menschen, die Frameworks für die Digitalisierung schaffen, die von Unternehmen, Regierungen und der Gesellschaft jedoch kaum genutzt werden. Sozialwissenschaftler:innen und zunehmend auch viele Informatiker:innen verfügen über wertvolle Erkenntnisse. Dennoch verfassen sie oft nur aufwendige Meinungsartikel über die Ethik der Künstlichen Intelligenz und neuer Technologien, um Forschungsziele zu erreichen. Gleichzeitig werden in den Ingenieurwissenschaften Forschungsarbeiten für veröffentlicht, aber die Ergebnisse werden nur selten für reale, arbeitende IT-Systeme eingesetzt.

Schließlich hat die akademische Welt ein Ausgrenzungsproblem, das von Sexismus bis Rassismus reicht. Wir müssen alle Köpfe einbeziehen, um die großen Probleme unserer Welt zu lösen. Im 21. Jahrhundert müssen wir eine erneuerte, integrative Wissenschaft schmieden, die sich auf die Lösung unserer größten Probleme konzentriert. Wissenschaft sollte widerstandsfähige Lösungen für die Gesellschaft liefern und sich nicht auf die Produktion von akademischen Papieren konzentrieren. Das Forschungsinstrumentarium des 21. Jahrhunderts darf sich auf bewährte Methoden stützen, soll aber einen neuen Zweck und ein neues Ziel verfolgen: Es muss zur Entwicklung der Fähigkeiten beitragen, die eine Gesellschaft braucht, um die Auswirkungen des Klimawandels zu überleben, sich an sie anzupassen und sie schließlich zu beseitigen.

Die Rolle der digitalen Technologien

Digitale Technologien und ihre neuen Instrumente und Methoden, die Verbindungen zwischen Menschen, Orten und sogar Dingen schaffen oder wiederherstellen, können unsere Organisationsstrukturen grundlegend verändern. Da diese Strukturen angesichts des Klimawandels aufbrechen und ins Wanken geraten, müssen wir auf verschiedenen Ebenen Koordinierungsmechanismen einführen.

Nehmen wir noch einmal das Lebensmittelsystem als Beispiel: Angenommen, dass ein schwerwiegender Klimazwischenfall Teile der Welt daran hindert, Lebensmittel zu importieren oder zu exportieren. In einem solchen Fall müssen dezentrale Systeme die Versorgungslücken füllen und die Nachfrage mit dem Angebot auf einer niedrigeren Ebene der Versorgungskette verbinden. Die Verteilung lokal angebauter Lebensmittel muss neu koordiniert werden, um Versorgungslücken zu schließen. Letztlich könnten solche lose verknüpften Lieferketten die Auswirkungen auf das Klima drastisch reduzieren. Das kann auch zu einer sinnvolleren Interaktion zwischen den Menschen und ihrer Umwelt führen. Ähnliche Beispiele können im Energiesystem nachgeahmt werden, mit dezentraler erneuerbarer Energie, die auf Gemeindeebene betrieben wird und in ein größeres Netz eingespeist wird. Die vielleicht kritischste Ressource wird das Wasser sein, dessen Vorräte in Europa und anderen Ländern weltweit bereits drastisch zurückgegangen sind. Die Zeit, neue Lösungen zu untersuchen, zu entwickeln und praktisch zu nutzen, ist gekommen. Die Zeit für eine neue akademische Welt ist jetzt.

Digitale Technologien sind, aufgrund der durch sie ermöglichten Koordinierungsmechanismen, die Grundlage für solche lose gekoppelten, widerstandsfähigen Systeme. Das sind Systeme, die anpassungsfähig genug sind, um sich dynamisch zu verändern, wenn Klimaereignisse verschiedene Teile der Welt treffen. Sie erfordern grundlegend andere Organisationsstrukturen, und sie brauchen andere Wirtschaftsmodelle, innovative Technologieparadigmen und neue Theorien des Wandels. Resiliente Systeme haben andere Fähigkeiten und müssen die Methoden, mit denen Technologie erforscht und konzipiert wird, neu ausbalancieren – dafür brauchen wir eine neue Art der Forschung.

Diese Notwendigkeit wird durch das Aufkommen von Software wie GPT 3 und 4 noch verstärkt: Bald werden Computer bessere wissenschaftliche Abhandlungen schreiben als menschliche Forscher:innen – einfach weil viel zu viele davon produziert werden, als dass Menschen sie alle lesen könnten. Tatsächlich wird es letztendlich kosteneffizienter sein, dafür KI zu nutzen anstatt Nachwuchswissenschaftler:innen für das Verfassen von Papieren zu beschäftigen.

Ein neues Forschungsinstrumentarium, das von der Vision angetrieben wird, positive Lösungen für den Klimawandel in der realen Welt zu finden, wird unabdingbar sein, um sicherzustellen, dass digitale Technologien sich mit den Problemen der Menschheit befassen können. Die Umsetzung von Forschung in Fähigkeiten und Wissensressourcen erfordert eine einzigartiges Skill Set, das wir alle aufbauen sollten – digitale Werkzeuge können uns dabei helfen. Die Digitalisierung selbst ermöglicht es uns, dieses neue Forschungsinstrumentarium zu schaffen, das auf robusten Methoden basiert, um Probleme der realen Welt zu lösen. Es ist an der Zeit, dass sich die Forschung von der akademischen Welt löst. Wissenschaftliche Methoden und die Forschung gehören nicht den akademischen Institutionen, sie gehören der Menschheit.

Cathy Mulligan rund grau

 

Cathy Mulligan ist eine interdisziplinäre Forscherin zu nachhaltiger, digitaler Wirtschaft und Gastdozentin am Imperial College London.

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