Die Europäische Union muss der Ukraine klare Beitrittsziele setzen
Nur weil andere EU-Länder in Mittel- und Osteuropa an demokratischer Substanz verloren haben, heißt das nicht, dass es der Ukraine auch so gehen wird. Das weitere Vorgehen der EU ist entscheidend.
Von Marija Golubeva
In einer Rede an der Karlsuniversität in Prag im August 2022 sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, dass die EU bereit sein solle, neue Mitglieder an ihrer Ostflanke, einschließlich der Ukraine, aufzunehmen. Damit die Erweiterung stattfinden könne, dürfe die EU die Frage ihrer eigenen Reformen nicht ignorieren, so Scholz. In diesem Punkt stimmt der Kanzler weitgehend mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron überein, während eine Reihe von Staats- und Regierungschefs in den mittel- und osteuropäischen sowie in den nordischen Mitgliedstaaten sehr skeptisch gegenüber Eingriffen in die Gründungsverträge der EU sind, vor allem zur jetzigen Zeit.
Es stimmt, dass das derzeitige Modell der Entscheidungsfindung nach dem Einstimmigkeitsprinzip nicht praktikabel ist, wenn Europa als geopolitischer Akteur auftreten will. Und es wird noch unpraktischer, wenn neue Mitgliedstaaten der Union beitreten. Es stimmt auch, dass die derzeitige Vertragsvorgabe zur Einstimmigkeit von Entscheidungen kleineren Mitgliedsstaaten einen Weg offenlässt, um ein gewisses politisches Gewicht in der EU zu behalten. Angesichts dieser Tatsache ist es unwahrscheinlich, dass selbst eine minimalistische Reform der EU – nämlich Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit (statt Einstimmigkeit) in den Bereichen Außenpolitik und Steuern – in den nächsten Jahren stattfinden wird.
Dies wäre jedoch ein schlechter Grund, den EU-Beitritt von Kandidatenländern zu verzögern, insbesondere jener Kandidaten, deren Entscheidung für Europa vom autoritären Nachbarn Russland mit heftigen Drohgesten oder sogar Aggressionen beantwortet wurde. Dies trifft sowohl auf die Ukraine als auch auf die Republik Moldau zu. Vor allem die Ukraine ist dabei zwei gegensätzlichen politischen Tendenzen in der EU ausgesetzt: einerseits der Notwendigkeit, geopolitisch zu handeln, um das Überleben des europäischen Projekts zu sichern, und andererseits der Zurückhaltung bei der EU-Erweiterung, weil man befürchtet, den liberal-demokratischen Kern dieses Projekts zu verlieren.
Die EU und ihre liberal-demokratischen Werte
Es gibt sicherlich praktische Gründe, die EU-Reform als Voraussetzung für die Erweiterung zu betrachten. So wird beispielsweise das politische Gleichgewicht im Europäischen Parlament durch die große Anzahl von Sitzen, die an die Ukraine mit ihren über 40 Millionen Einwohner:innen gehen, sicherlich beeinträchtigt werden. Außerdem würde der riesige ukrainische Agrarsektor eine Herausforderung für die lange nicht reformierte Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) darstellen. Keines dieser Probleme ist jedoch mittelfristig unlösbar. Sowohl die Governance der EU als auch die GAP brauchen Reformen. Was jedoch zuerst geklärt werden muss, ist die Frage des Vertrauens in die demokratische Zukunft der Ukraine – und zwar frei von irrationalen Vorstellungen.
Die Sorge um die Bewahrung der liberalen demokratischen Werte der EU ist angesichts der Fälle von demokratischen Rückschritten in Ungarn und teilweise in Polen berechtigt. Doch die Prämisse, dass die östlichen Beitrittskandidaten solche Probleme eher haben als die „alten“ EU-Mitglieder, gilt 2023 nicht mehr. Politische Trends in Frankreich, Italien und anderswo zeigen, dass illiberale Parteien auch in westlichen Demokratien vermehrt Zustimmung finden. Es ist falsch, die Fähigkeit eines Landes, sein Engagement für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu verbessern, in erster Linie als eine Frage der Kultur zu betrachten. Schauen wir uns nur die Länder an, denen es gelungen ist, ihre Regierungsführung umzugestalten, eine unabhängige Justiz aufzubauen und die Messlatte für die Korruptionsbekämpfung höher zu legen. Die baltischen Länder, die 2004 der EU beigetreten sind, haben diesen Wandel zum Beispiel geschafft. Die Fälle von demokratischen Rückschritten, die es derzeit gibt, rechtfertigen es nicht, alle EU-Beitritte in eine Schublade zu stecken und sie als potenzielle Misserfolge abzustempeln. Der Schlüssel zur Verbesserung der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in einem Kandidatenland liegt in der Qualität der dortigen Regierungsführung.
Der Zeitplan für den Beitritt ist entscheidend
Seit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens im Jahr 2014 hat die Ukraine ein umfassendes Reformprogramm eingeleitet. Viele Elemente dieses Programms wurden bereits weitgehend umgesetzt: die Reform der Polizei, der Korruptionsbekämpfungsbehörden, des Bankensektors, der Landnutzung und nicht zuletzt auf kommunaler Ebene eine Reform der Gemeinden. Diese Reformen ermöglichen ein demokratischeres, dezentralisiertes Governance-Modell. Das bedeutet jedoch nicht, dass die noch ausstehenden Maßnahmen als selbstverständlich angesehen werden können, oder dass entscheidende Reformen wie die Dezentralisierung unumkehrbar sind. Auch nach dem Krieg wird noch einiges zu tun sein, um das dezentralisierte Modell der regionalen Verwaltungsstrukturen zu sichern. Während des Krieges wurde die Ukraine bisher sehr zentralistisch regiert. So wurden beispielsweise die pro-europäischen Oppositionsparteien teilweise von der Zusammenarbeit mit der Regierung bei Reformen, dem EU-Beitritt und dem Wiederaufbau ausgeschlossen.
Nichts auf der Reformagenda der Ukraine scheint jedoch innerhalb von drei bis fünf Jahren unerreichbar zu sein, vorausgesetzt, der Krieg ist bis dahin vorbei. Dies stellt die EU vor die klare Aufgabe, sicherzustellen, dass die Unterstützung der Öffentlichkeit für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine auch in den kommenden Jahren intakt bleibt. Dies lässt sich am besten durch die Festlegung klarer Zwischenziele erreichen, die die Ukraine in die europäischen Strukturen integrieren, während sie auf politische Entscheidungen über ihre Vollmitgliedschaft wartet. Solche Zwischenziele könnten darin bestehen, dass der Ukraine der volle Zugang zu den vier Freiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, einschließlich des Zugangs zum Binnenmarkt) erst dann angeboten wird, wenn sie die Kapitel über Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftsreformen abgeschlossen hat. Eine weitere Option für Zwischenziele ist ein stufenweiser Beitritt, bei dem ein Kandidatenland schrittweise Zugang zu den Vorteilen der Mitgliedschaft, einschließlich der EU-Kohäsionsfonds, erhält.
Wenn dieser schrittweise Mechanismus für ein Land angewendet wird, sollte er auch für andere potenzielle Mitglieder gelten. Das wäre eine gute Nachricht für die Kandidaten auf dem westlichen Balkan. Sie sollten ebenfalls von Änderungen profitieren, die den seit Jahren ins Stocken geratenen Beitrittsprozess wieder Dynamik verleihen.
Anstatt die Ukraine und andere Kandidaten warten zu lassen, bis die EU ihre unvollendeten Reformen abgeschlossen hat, kann Deutschland der Ukraine helfen, ihre eigene Reformagenda voranzubringen, und ihr einen klaren Zeitplan für den Beitritt anbieten. Da Deutschland ein wichtiger Akteur in Europa ist, kann sein Standpunkt entscheidend dazu beitragen, dass die europäischen Perspektiven der Ukraine nicht durch politisches Zögern im Keim erstickt werden.
Marija Golubeva ist eine Politikberaterin und war Mitglied des lettischen Parlaments (2018-2022) sowie Vorsitzende des Ausschusses für europäische Angelegenheiten. Von 2021 bis 2022 war sie Innenministerin ihres Landes und hat in dieser Funktion die lettische Reaktion auf die Flüchtlingskrise in der Ukraine nach dem Ausbruch der russischen Aggression in der Ukraine entwickelt und umgesetzt und die Zusammenarbeit mit der Ukraine und der Republik Moldau im Bereich Inneres gefördert.
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