Die Auswirkungen von KI auf die Demokratie
Wie Technologie zur Herausforderung für Staaten in aller Welt wird
von Cathy Mulligan
Im Vorfeld der Europawahlen Anfang Juni verging kaum eine Woche, in der nicht behauptet wurde, dass künstliche Intelligenz (KI) den demokratischen Prozess schädigt und die Wähler:innen mit falschen Informationen füttert. Hat die KI wirklich Einfluss auf unsere Wahlen, oder wirft sie lediglich ein Schlaglicht auf Probleme, die wir bisher geflissentlich übersehen haben?
Es ist viel passiert, seit Barack Obama 2008 im Rahmen seiner Präsidentschaftskampagne erfolgreich soziale Medien nutzte, um jüngere Wähler anzusprechen. Im Jahr 2024 ist die Technologie so weit fortgeschritten, dass KI täuschend echte falsche Inhalte erstellen kann, darunter sogenannte „Deepfakes“, die die Öffentlichkeit über die Haltung der Kandidaten zu Themen und Ereignissen in die Irre führen können. Alternativ könnte KI zur Verbreitung von Desinformationen eingesetzt werden, um die Wahlbeteiligung durch falsche Angaben über den Standort von Wahllokalen und deren Öffnungszeiten zu unterdrücken oder die Wähler davon abzuhalten, zur Wahl zu gehen. Oberflächlich betrachtet mag es den Anschein haben, dass solche von einer KI erstellten Inhalte darauf abzielen, das Recht der Wähler auf eine informierte Entscheidung zu verletzen. Wenn wir jedoch eine weiter gefasste Perspektive einnehmen, können wir erkennen, dass die Probleme, über die sich die Menschen im Zusammenhang mit der künstlichen Intelligenz Sorgen machen, auf eine viel größere Problematik hinweisen: Die Technologie stellt das Konzept des Nationalstaats und die Art und Weise in Frage, wie Individuen ihre Identität finden.
Affinitäten über Grenzen hinweg
Traditionell fanden die Menschen ihre Identität innerhalb ihrer Nation, doch jetzt finden sie viele Gemeinsamkeiten auf internationaler Ebene. Im US-Wahlkampf sieht man Wähler, die T-Shirts tragen, auf denen steht, dass sie „lieber ein Russe als ein Demokrat“ wären. Während sich die extreme Rechte früher oft auf das eigene Land beschränkte, finden Rechte jetzt Gemeinsamkeiten nicht nur innerhalb der nationalen Grenzen, sondern darüber hinaus in einer globalen, international aufgestellten Community. Digitale Technologien ermöglichen diese Verbindungen und schaffen das Gefühl, Teil einer weltweiten Bewegung zu sein, deren Mitglieder sich nicht mehr mit denjenigen zusammentun müssen, mit denen sie in einem Land oder einer Region leben. Stattdessen vernetzen sie sich überall digital mit anderen, die ihre gesellschaftlichen Werte und Vorstellungen teilen.
Während es bei Obamas Kampagne darum ging, eine Bewegung innerhalb der Landesgrenzen zu schaffen, werden die heutigen Kampagnen auf unterschiedlichen Social-Media-Kanälen oft durch ausländische Einflüsse angetrieben. Russland, China und der Iran setzen soziale Medien nachweislich und sehr geschickt gegen den Rest der Welt ein, um die Demokratie zu destabilisieren und die traditionellen Machtstrukturen der globalen Weltordnung in Frage zu stellen.
In einer Zeit, in der digitale Technologien zu solch tiefgreifenden Spaltungen in der Welt beitragen, sollte man sich unbedingt daran erinnern, dass das Internet aus der Kriegsführung heraus entstanden ist – und dabei ging es ebenso sehr um Verhaltenswissenschaft wie um Datenprotokolle. Die heute übliche Behauptung, das Internet sei für Transparenz und offene Gesellschaften entwickelt worden, ist bestenfalls unaufrichtig. Der Aufbau des Internets diente ursprünglich dem Zweck, Menschen zu lenken und Kriege gegen andere Nationen zu führen. Die Ursprünge des in der Eisenhower-Ära der 1950er Jahre konzipierten Projekts der US Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), die die Grundlagen der Internet-Technologie entwarf und umsetzte, wurden zum Teil mit der Idee entwickelt, Menschen mit der neuen Computertechnologie kontrollieren zu können. Die DARPA hoffte, dies bei der russischen Bevölkerung zu erreichen oder zumindest einen Weg zu finden, die Verantwortlichen für die russischen Atomwaffen zu beeinflussen. Es sollte niemanden überraschen, dass Russland, China und der Iran nun innovative Wege finden, um diesen ursprünglichen Auftrag zu erfüllen.
Das sind die neuen Datensammler
Es ist zwar verlockend, die Schuld ausschließlich auf ausländische Einflüsse zu schieben, doch das Problem ist etwas komplexer: Denn ohne die Unterstützung und die Infrastruktur, die von einer Reihe von Unternehmen bereitgestellt wird, wäre diese ausländische Einflussnahme gar nicht erst möglich gewesen. Die meisten dieser Unternehmen haben ihren Sitz in den USA. In diesem Zusammenhang müssen wir uns die Unternehmen im Bereich Social Media und High-Tech genauer ansehen, die ich als „Datensammler“ bezeichne. Es sind Unternehmen wie Meta, Google, Amazon und neuerdings auch OpenAI. Diese Unternehmen unterscheiden sich in einem entscheidenden Punkt von anderen Technologieunternehmen: Seit Anfang der 2000er Jahre machen sie gezielte Anstrengungen, Daten über Menschen zu sammeln und zu erfassen, um menschliche Verhaltensmuster zu erforschen und zu lenken. Dieser Themenkomplex wird gewöhnlich unter dem Blickwinkel des Eingriffs in die Privatsphäre oder der gezielten Werbung diskutiert. Doch es lohnt sich, das Datensammeln aus einer etwas anderen Perspektive zu betrachten, wenn es um das Thema Wahlen geht. Die verwendeten Technologien sind so konzipiert, dass sie die Schaffung eines kollektiven Gedächtnisses stören. Anders ausgedrückt stören sie die Fähigkeit der Menschen, eine gemeinsame Basis zu finden und damit gemeinsame, auf Konsens beruhende Interpretationen dessen zu finden, was in einem Land und in der Welt geschieht. Diese Technologien sind nicht zufällig so konstruiert worden. Sie wurden bewusst so konzipiert, dass sie zu Brüchen in der Selbstorganisation der Gesellschaft führen.
Einige Tech-Unternehmer sind Antidemokraten
Wenn man sich die Ursprünge vieler Social-Media- und Datensammler-Unternehmen ansieht, gibt es ein zentrales Thema: Mehrere der ursprünglichen Unternehmensgründer:innen befürworten nicht unbedingt die Demokratie. Die meistzitierte Autor:in unter diesen Silicon-Valley-Eliten ist Ayn Rand. Viele der Gründerinnen und Gründer und vor allem die Geldgeber:innen im Silicon Valley orientieren sich in ihrer Selbststilisierung fast religiös an der Romanfigur John Galt aus Rands Buch „Atlas Shrugged“ (deutscher Titel „Atlas wirft die Welt ab“ oder in der Neuübersetzung von 2021 „Der freie Mensch“). Während diese Art von Ideologie in den Händen anderer Menschen relativ harmlos sein mag, wirft sie in Verbindung mit einer extrem leistungsfähigen Technologie, die jetzt nicht nur auf lokaler, sondern auf globaler Ebene zur Manipulation großer Bevölkerungsgruppen eingesetzt wird, die Frage auf, ob diese Menschen tatsächlich diejenigen sind, die unserer Meinung nach die Welt regieren sollten. Mit der Menge an Daten, die sie über die Menschen haben, können sie Meinungen und Vorstellungen verändern und die politische Stimmung beeinflussen. Kurz gesagt: Auch wenn Russland digitale Technologien und künstliche Intelligenz nutzt, um demokratische Prozesse zu stören, kopieren sie vielleicht nur das Vorgehen der US-amerikanischen Datensammler.
Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die demokratischen Länder selbst zu dieser Verwirrung beitragen. Jedes Mal, wenn eine Regulierungsbehörde vorschlägt, dass Medienunternehmen für das, was auf einer Social-Media-Plattform geäußert wird, zur Verantwortung gezogen werden sollen, tun die Datensammler alles, um wirkungsvolle neue Regeln zu umgehen oder zu verhindern. Auch wenn die EU mit ihrer Gesetzgebung zur KI und die USA mit ihrem Digital Services Act (DSA) versuchen, die Spielregeln zu ändern, müssen die Regierungen erkennen, dass die Konzentration der Macht bei der Datensammlung, die die Grundlage dieser Technologien bildet, nur sehr schwierig in den Griff zu bekommen ist. Während frühere Monopolisten versuchten, die Märkte für Produkte und Dienstleistungen oder den Output der Wirtschaft zu kontrollieren, schaffen die neuen Unternehmen eine monopolistische Kontrolle über die Daten. Damit kontrollieren sie den entscheidenden Input für die digitale Wirtschaft und besitzen zugleich ein Monopol zur Steuerung menschlichen Verhaltens.
Und dann ist da noch das Quantencomputing
Es ist auch wichtig festzustellen, dass KI nur ein Teil des Spektrums digitaler Technologien ist, die unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt beeinflussen. Es gibt noch viele andere: Blockchain, das Internet der Dinge (IoT) und Quantencomputing. Da das Quantencomputing immer mehr an Fahrt gewinnt, werden die Auswirkungen der KI auf unsere Demokratie altmodisch erscheinen. Quantencomputing wird die Komplexität der Herausforderungen für unsere geopolitische und demokratische Ordnung noch erhöhen.
Die gemeinsame Grundlage all dieser Technologien sind Daten. Anstatt für jede neu aufkommende Technologie wie KI, Blockchain, Kryptowährung und vermutlich auch Quantencomputing Vorschriften zu erlassen, müssen sich Regulierungsbehörden und Bürger stattdessen auf die Regeln rund um die Daten konzentrieren, die die Grundlage unserer neu entstehenden digitalen Wirtschaft bilden. Dies erfordert eine detailliertere Untersuchung als nur das Recht auf „Privatsphäre“ oder das „Recht auf Vergessenwerden“. Die Spielregeln rund um Eigentum, Monopolmacht und Kontrolle müssen im Kontext allgemein vereinbarter sozialer Normen verhandelt werden. Zwar wird jede Nation eine maßgeschneiderte Antwort auf diese neuen Herausforderungen haben. Die Diskussion muss jedoch mit der Frage beginnen: „Wer soll die Entscheidungen über unser Land treffen?“ Und ich frage weiter: Soll es etwa eine Handvoll Unternehmen im Silicon Valley sein?
Daher sollten wir die KI eher als Beispiel und als Verschärfung von Problemen betrachten, denn als deren Ursache. Wie immer legt die Technologie die menschliche Fehlbarkeit offen. Die Probleme, mit denen wir im Zusammenhang mit der KI in unseren Wahlzyklen konfrontiert sind, sind die logischen Schlussfolgerungen des ursprünglichen DARPA-Projekts. Wir können diese Probleme nicht länger ignorieren und hoffen, dass sie sich von selbst lösen. Wir müssen unsere menschliche Intelligenz einsetzen, um zu einer Lösung zu kommen.
Quarterly Perspectives
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