Die Zahl innerstaatlicher Konflikte nimmt weltweit zu, mit Folgen für regionale Strukturen ebenso wie für die globalen Machtverhältnisse. Das gilt insbesondere für die Beziehungen zwischen unterschiedlichen ethnischen oder religiösen Gruppen. Ein Beispiel dafür ist Israel, wo das friedliche Zusammenleben der jüdischen Mehrheit und der arabischen Minderheit eine Herausforderung darstellt. Mohammed Darawshe und seine Organisation Givat Haviva wollen die Situation verbessern, indem sie eine inklusive, sozial kohäsive Gesellschaft in dem Land anstreben. Als aktueller Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy hielt Darawshe einen Workshop in der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung ab. Der Experte für jüdisch-arabische Beziehungen befasst sich während seines Fellowships mit unterschiedlichen Ansätzen des Zusammenlebens von Mehrheiten und Minderheiten in Europa. Ziel ist es, sie auf ihre Tauglichkeit für Israel zu untersuchen. Das Ergebnis seines Fellowships war der Workshop mit dem Titel „Shared Societies – Approaches to Minority Related Issues in Europe and Israel“, der 50 europäische und israelische Experten zusammenbrachte. Die Erkenntnisse werden in eine Roadmap zur sogenannten „shared society“ (Gesellschaft des Miteinanders) in Israel einfließen.

Chancen und Herausforderungen erstarkter Minderheiten

Die Diskussionen der europäischen Experten offenbarten unterschiedliche Standards des nationalen und internationalen Rechts sowie der in Verfassungen verbrieften Rechte in Europa. Diese Tatsache erhellte, wieso der Anspruch von Minderheiten, ihre ethnische und kulturelle Identität, ihre Sprache und Traditionen zu erhalten, die Mehrheit provozieren kann: Er löst Ängste und Widerstand aus. „Das ist wie in Israel mit seiner arabischen Minderheit von 20 Prozent, die gleichberechtigten Zugang zu Arbeitsmarkt, Infrastruktur und Wirtschaft fordert“, merkte ein israelischer Experte an.

Abstrakte staatliche Interessen versus individuelle Erfahrungen

„Genau so argumentieren Politiker, wenn sie sich in der Defensive befinden“, sagte Boriss Cilevičs, Mitglied des lettischen Nationalparlaments und ehemaliger Vorsitzender des Unterausschusses für nationale Minderheiten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Er bezog sich damit auf die „Wenns“ und „Abers“, die die Stärkung von Minderheiten vor allem in konservativen Gesellschaften auslöse.

Juli Tamir, ehemalige israelische Bildungsministerin und Mitgründerin der israelischen Friedensbewegung, widersprach dieser Argumentation. Aus der Perspektive des Individuums nutze der Prozess allen. Die Stärkung der Benachteiligten bedeute für die Mehrheit keinen Verlust an Macht, sondern einen Gewinn an neuen Perspektiven. Dies schaffe eine andere gesellschaftliche Realität, pflichtete Francesco Palermo bei, Professor für Vergleichendes Verfassungsrecht an der School of Law der Universität Verona und Mitglied des Beratenden Ausschusses des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten beim Europarat: „Je mehr eine Gesellschaft ihre Vielfalt anerkennt, desto mehr werden Minderheiten zu einer Bereicherung statt zu einer Bedrohung.“

Same same, but different

Verfassungsrechtliche und ethnische Diskurse wurden von den Experten auf dem Podium sowie von Teilnehmern aus Wissenschaft, Politik und Konfliktmanagement geführt. Es wurden unter anderem Modelle aus der Schweiz, aus Lettland und vom Balkan präsentiert, um die jeweiligen Spezifika zu identifizieren. Aber auch nach Übereinstimmungen wurde gesucht, die in „shared societies“ als gemeinsamer Nenner dienen können. Ein Teilnehmer stellte fest: „Überraschenderweise gibt es déjà-vue-Momente, egal ob wir auf Südafrika, das Kosovo oder Israel blicken.“

Roadmap zu einer „Shared Society“

War der erste Tag geprägt von Vergleichen europäischer Erfahrungen und Modelle, standen am zweiten Tag Vorträge arabischer und jüdischer Teilnehmer aus Israel im Mittelpunkt. Darawshe forderte die europäischen Experten auf, Feedback auf die Situationsschilderungen zu geben. Zahlreiche Fragen ergaben sich aus den Diskussionsbeiträgen: Sind Fragen zu Menschrechten Teil der israelischen Debatte um Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit? Lässt sich der israelisch-palästinensische Konflikt ausblenden, wenn man sich in Israel der Sache der arabischen Minderheiten annimmt? Und wie soll man mit widersprüchlichen Narrativen umgehen?

Die Gruppe aus Israel verließ Berlin mit der Erkenntnis, dass der Konflikt in ihrem Land nicht so einzigartig ist wie angenommen. Die Teilnehmer kehrten mit einer Fülle an Vorschlägen zurück, wie sich ihre Ideen auf die politische Agenda Israels setzen lassen. „Seien Sie nicht zu optimistisch“, warnten allerdings die europäischen Kollegen mit Blick auf die weltweite Zunahme innerstaatlicher Konflikte, worauf Darawshe einen einnehmenden Optimismus offenbarte: „Nur lebendige Fische schwimmen gegen den Strom.“

Statements der Teilnehmer

Mohammad Darawshe über nationale Minderheiten:


Mohammad Darawshe über den Workshop:


Ulrich Weinbrenner, Leiter des Stabes Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Integration im Bundesinnenministerium, über den Austausch mit den Teilnehmern:


Ulrich Weinbrenner über die Arbeit des Bundesministerium des Innern:

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