Von der Kolonialisierung Afrikas zu Richard von Weizsäcker
Deutschland hat sich mit seiner kolonialen Vergangenheit nicht im selben Maße auseinandergesetzt wie mit den Verbrechen der Nazizeit. Eine Spurensuche durch Berlin.
Von Pierre Hazan
„Du wirst für genau 60 Minuten in einem Raum eingeschlossen. Das Zimmer hat mehrere Türen, Schlösser und andere Gerätschaften. Du musst eine Reihe von Aufgaben lösen, um aus dem Raum zu entkommen. Überall im Zimmer findest du versteckte Hinweise und Aufgaben. Diese Hinweise sollen dir helfen, Fragen zu beantworten und schließlich aus dem Raum zu fliehen.“
Mit dieser Werbung lockt das Unternehmen Exitroom potenzielle Kund:innen, seinen Escape Room zu betreten. Daneben befindet sich das Exitroom-Café, in dem Burger, Kaffee und Waffeln verkauft werden. Das beobachte ich, als ich vor der Wilhelmstraße 92 in Berlin stehe. Hier war einst die Wilhelmstraße 77, im späten 19. Jahrhundert der Wohnsitz von Reichskanzler Otto von Bismarck. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Escape Room im ersten Stock eines reizlosenachtstöckigen Gebäudes eine Residenz ersetzt hat, in der die Geschichte eines Kontinents, ja sogar der Welt, verändert wurde. An diesem Ort wurde zwischen dem 15. November 1884 und dem 26. Februar 1885 das Schicksal Afrikas für viele Jahrzehnte bestimmt. Während dieser 101 Tage lud Bismarck Vertreter aus zehn europäischen Königreichen, der Republik Frankreich, dem Osmanischen Reich und den Vereinigten Staaten von Amerika ein. Die große Mehrheit der anwesenden weißen Männer hatte noch nie einen Fuß auf afrikanische Erde gesetzt. Dennoch trafen sie Entscheidungen, die den Kurs des Kontinents veränderten.
Vertreter:innen Afrikas wurden auf dieser Konferenz nicht gehört, ja nicht einmal darüber informiert, dass sie stattfand. Warum hätte das auch der Fall sein sollen? Diese europäischen Diplomaten waren fest davon überzeugt, dass sie die Zivilisation selbst verkörperten. Sie würden, so sagten sie, „diesen Schwarzen“ (im Original: these negroes) den Fortschritt bringen. Dieser Fortschritt wurde durch drei Schlagwörter symbolisiert, die der schottische Entdecker David Livingstone geprägt hatte: Kolonisierung, Christentum und Handel.
Mit einer riesigen Karte von Afrika vor sich legten diese Männer die Regeln für die Kolonialisierung in geschliffenem Französisch fest. Damit lösten sie einen wilden Wettlauf um das afrikanische Binnenland aus, der nicht zuletzt durch die Erfindung des Maschinengewehrs und des Dampfschiffs ermöglicht wurde. Vor dem Hintergrund der Rivalität zwischen der britischen Krone und Frankreich sowie Belgien, Deutschland, Portugal und Italien kam es zu einer rücksichtslosen Kolonialisierung, die zu einer systematischen Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen führte – und zu institutionalisiertem Rassismus.
Von Otto von Bismarcks Kanzleramt ist heute keine physische Spur mehr vorhanden. Es wurde im Zweiten Weltkrieg von englischen und amerikanischen Bombenangriffen zerstört. In der Folgezeit baute die DDR auf dem Gelände Wohnungen für die kommunistische Nomenklatura, bevor schließlich im Herzen des wiedervereinigten Deutschlands der eingangs erwähnte Escape Room errichtet wurde.
Wie kann sich Europa den Verbrechen seiner kolonialen Vergangenheit stellen?
Wie könnte sich Europa aus den Fesseln dieser Vergangenheit aus dem 19. Jahrhundert befreien, von der nichts außer einer metaphorischen Spur, eben dem Escape Room, übriggeblieben ist? Ein weitaus ehrgeizigerer Ausweg könnte Europa helfen, sich seiner Verantwortung für eines der größten Verbrechen aller Zeiten zu stellen, das mit der beispiellosen Ausplünderung eines ganzen Kontinents verbunden ist
Von der Robert Bosch Stiftung in der Französischen Straße 32 bin ich zur Wilhelmstraße 92 gegangen, in der Hoffnung, vielleicht noch Reste dieser Vergangenheit des 19. Jahrhunderts zu finden. Doch ich stieß nur auf Narben des 20. Jahrhunderts. In einer Entfernung von 220 Metern (GoogleMap-Genauigkeit), also zwei Minuten Fußweg, befand sich einst der Bunker von Adolf Hitler. Er ist heute zugemauert und unzugänglich, damit Nostalgiker:innen ihn nicht zu einem Wallfahrtsort machen. In der Gertrud-Kolmar-Straße weist ein bescheidenes Schild auf einem von Unkraut bewachsenen Parkplatz auf den ehemaligen Bunker hin, in der angrenzenden Straße lassen Reisebusse ihre Passagier:innen am Denkmal für die ermordeten Jüd:innen Europas aussteigen. Auf der anderen Seite des Mahnmals liegt der weitläufige Tiergarten mit einer kleinen Videokunst-Installation, in der regelmäßig ein Film läuft. Er zeigt schwule und lesbische Paare, die sich leidenschaftlich küssen und ist eine Art Riposte auf die nationalsozialistische Verfolgung von Homosexuellen. Weiter im Tiergarten befindet sich ein Denkmal für die im Dritten Reich ermordeten Rom:nja und Sinti:zze sowie ein imposantes Denkmal für die sowjetischen Befreier, das nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 errichtet und bereits im November 1945 eingeweiht wurde. Wenn man die Wilhelmstraße weitergeht, kommt man zur berühmten Allee Unter den Linden, nur einen Steinwurf vom Brandenburger Tor entfernt, das während des Kalten Krieges die Teilung der Stadt zwischen Ost und West markierte. Trotz der vielen Denkmäler erinnert hier keines an die „Berliner Konferenz von 1884–1885“.
In meiner Suchmaschine gebe ich „Wilhelmstraße“ ein. Ein neuer Eintrag taucht auf: Als „Wilhelmstraßen-Prozess“ ist der elfte Nürnberger Prozess gegen NS-Amtsträger bekannt, weil sich die Ministerien des Dritten Reichs in dieser Straße befanden. Ich lese, dass dieser Prozess offiziell „The United States vs. Ernst von Weizsäcker, et al.“ heißt.
Spurensuche eines Richard von Weizsäcker Fellows
Als Richard von Weizsäcker Fellow weckt das naturgemäß meine Neugierde. Aus was für einer Welt kommt Richard eigentlich? Wie positioniert er sich zu seinem Vater, einem Kriegsverbrecher, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und schließlich nach achtzehn Monaten amnestiert wurde? Wie ist Richard zu einem der großen Gewissen des demokratischen Deutschlands geworden? Meine Neugierde führt mich weg von meinen Forschungen über das europäische Kolonialunternehmen des 19. Jahrhunderts und hin zu Richard von Weizsäcker. Ich fühle mich an die Worte eines mystischen Rabbiners aus dem späten 18. Jahrhundert, Nachman von Breslau, erinnert: „Frage nie jemanden, der den Weg kennt. Du könntest versäumen, verloren zu gehen.“
Ich erfahre, dass Richard zwei ältere Brüder hatte. Am zweiten Tag des Krieges starb Heinrich durch einen Schuss in den Hals. Richard hielt in dieser Nacht Wache bei seiner Leiche. Richard selbst wurde dreimal verwundet und stieg am Ende des Krieges zum Hauptmann der Reserve auf. Sein anderer älterer Bruder Claus Friedrich war sowohl Philosoph als auch ein herausragender Physiker. Sein Lehrer war Niels Bohr, einer der Begründer der Quantenmechanik und Träger des Nobelpreises für Physik 1922. Am 13. September 1939 nahm Claus Friedrich von Weizsäcker an der Sitzung teil, auf der das Kernwaffenprogramm ins Leben gerufen wurde. Er wurde Assistent von Werner Heisenberg, dem Leiter des Atombombenprojekts des Dritten Reichs. Seltsamer Zufall: Ich habe den Film „Oppenheimer“ gesehen, benannt nach dem US-amerikanischen Physiker, der das Manhattan-Projekt leitete, über das US-amerikanische Programm zur Entwicklung einer Atombombe, die ursprünglich auf Deutschland hätte abgeworfen werden sollen, die aber schließlich gegen Japan eingesetzt wurde.
Der Prozess gegen Ernst von Weizsäcker und die Rolle von Richard
Doch zurück zum Prozess „The United States vs. Ernst von Weizsäcker, et al.“, der am 15. November 1947 begann und der längste der zwölf Nürnberger Prozesse war. Der US-amerikanische Ankläger Telford Taylor beschuldigte Ernst, der zwischen 1938 und 1943 Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten war, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere der Deportation der französischen Jüd:innen. Die von Weizsäcker-Männer stammten aus einer berühmten preußischen Adelsfamilie. Ernst wurde für seine Tapferkeit während des Ersten Weltkriegs mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Er plädierte in allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen auf „nicht schuldig.“ Ich erinnere mich an das Foto von Ernst, das ich in der Villa in Berlin sah, heute eine Gedenk- und Bildungsstätte, wo am 20. Januar 1942 die Wannseekonferenz stattfand. An dieser Konferenz nahm Ernst von Weizsäcker nicht teil. Er schickte stattdessen seinen Untergebenen, den Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes Martin Luther, der zu den 15 Teilnehmerngehörte, die im Rahmen eines 90-minütigen Frühstücks die von ihnen so bezeichnete „Endlösung der Judenfrage“ formulierten.
Ich vertiefte mich in den Prozess gegen Ernst. Sein Sohn Richard, damals Jurastudent an der Universität Göttingen, nahm als Verteidigungsassistenzrat teil. In den amerikanischen Archiven fand ich ein Foto von Ernst und Richard von Weizsäcker. Das Foto wurde während einer Pause in dem zweijährigen Prozess aufgenommen. Ernst, sitzend, lächelt seinen Sohn an, der eine Anwaltsrobe trägt und besorgt aussieht. In Ernsts Augen leuchtet väterliche Liebe. Richard versucht, die Richter davon zu überzeugen, dass sein Vater ein „Widerstandskämpfer von innen“ war, doch die Beweislage spricht nicht dafür.
Staatsanwalt Taylor erinnert sich an die Worte, die Ernsts anderer Sohn, Claus Friedrich, während dieses Prozesses auf folgende Frage antwortete: „Hat Ihr Vater nie in Erwägung gezogen, den Juden durch offenen Widerspruch zu helfen, d. h. durch öffentlichen Protest gegen Hitlers antisemitische Politik?“ – Claus Friedrich von Weizsäckers Antwort:
„Nun, auch darüber haben wir gesprochen, und ich kann Ihnen genau sagen, wie mein Vater dazu stand. Er sagte: ,Wenn man das tut, wird man zwar zum Märtyrer, aber den Juden hilft man damit sicher nicht.‘“ (The Ministries Trial, para. 472)
Das Bild von Ernst, das sich aus der Lektüre des Prozesses ergibt, ist das eines Patrioten, der nie ein Nazi-Fanatiker war. Er trat 1938 in die Partei ein und wurde im selben Jahr in die allgemeine SS aufgenommen und erhielt während des Krieges mehrere SS-Auszeichnungen. Seine beruflichen Fähigkeiten und seine soziale Herkunft brachten ihn an die Spitze des totalitären Apparats. Dieser Lebenslauf erinnert an die Banalität des Bösen, wie sie von Hannah Arendt beschrieben wurde. Ernst ist ein Rädchen in dieser Bürokratie, ein sogenannter Mitläufer in den oberen Rängen. Er versucht zu überleben, während er sich innerlich Sorgen über den näherkommenden Sturz in den Abgrund macht, in den Hitler Deutschland führt, und war wahrscheinlich schockiert über seine verbrecherische Politik
Richard baut sein Leben auf dieser persönlichen und familiären Geschichte auf. Vier Jahrzehnte später, 1985, fand der ehemalige Wehrmachtsoffizier, der seinen Vater bei den Nürnberger Prozessen verteidigt hatte, als Präsident der Bundesrepublik die richtigen Worte, um vor dem Deutschen Bundestag in Bonn über die Verantwortung Deutschlands zu sprechen. Er hielt eine Rede von seltener moralischer Rechtschaffenheit, in der er seine Landsleute, ob jung oder alt, aufforderte, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, da dies der einzige Weg sei, sich mit allen Völkern auszusöhnen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten. Mit zahlreichen weiteren Gesten, vor allem in der Tschechoslowakei, in Polen und in Israel, trug er zur Erinnerungsarbeit und zum Imagewandel Deutschlands bei. Dies brachte ihm im In- und Ausland Respekt ein.
Den Mut Richard von Weizsäckers, sich der deutschen Vergangenheit zu stellen, haben viele Europäer:innen auch 140 Jahre nach Bismarcks Berliner Konferenz noch nicht gefunden. Daran wird auch der Escape Room in der Wilhelmstraße nichts ändern.
Pierre Hazan ist Senior Adviser am Centre for Humanitarian Dialogue in Genf und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Quarterly Perspectives
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