Deutschland kann Krise – aber auch KI?
In der Krise ist Deutschlands Antwort in Europa: digitale Abschottung. Statt Projekten wie Gaia-X sollte Deutschland mehr Cyber Valley wagen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Sonst schießt sich die Exportnation digital ins Abseits.
Von J.P. Singh
In den internationalen Medien drehten sich die Schlagzeilen zur Bundestagswahl am 26. September 2021 bisher vor allem um die Kandidaten, die Parteien, das Hochwasser im Juli, die Afghanistan-Krise und die anhaltende Pandemie. Die offene Frage für Deutschland ist jedoch, ob es in der Lage ist, seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und sein hohes Innovationsniveau aufrechtzuerhalten, um seinen Status als Exportweltmeister und seinen hohen Lebensstandard zu wahren.
Das Fehlen einer digitalen Infrastruktur als Basis für die Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) ist in Deutschland schon lange ein Problem. Die Pandemie war ein weiterer Weckruf, der erneut den historischen Fehler der Deutschen Telekom verdeutlichte, bei Breitbandverbindungen auf veraltete Kupferkabel zu setzen. Weder die Arbeit im Homeoffice noch der Unterricht am Bildschirm zu Hause verliefen reibungslos in dem Land, das bei der Digitalisierung im Mittelfeld rangiert und gleichzeitig der weltweit drittgrößte Exporteur in die USA und nach China ist.
Vom Mittelstand, den so genannten Hidden Champions in Deutschland, die 60 Prozent der Arbeitsplätze stellen, haben nur etwa sechs Prozent KI-Strategien umgesetzt, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Trotz der Tech-Hubs in Berlin, im Cyber Valley in Baden-Württemberg sowie in Hamburg und München bleibt die Zahl der Start-ups, ein wichtiger Indikator für die digitale Wirtschaft, niedrig.
Verschläft Deutschland die Datenwelle?
KI geht über eine digitale Infrastruktur hinaus und hat einzigartige Merkmale. Im Kern geht es bei der KI um Daten und wie Maschinen durch Algorithmen aus Daten lernen. In der Wirtschaft und in Unternehmen beeinflussen Datenfluss und -nutzung alle Transaktionen und damit die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Start-ups bringen Neues hervor: Ihre technischen Fähigkeiten sind der Schlüssel, um alle Potenziale der KI nutzen zu können.
Die deutsche und die EU-Politik sind nicht richtig auf die Speicherung, den Austausch und die Nutzung von Daten abgestimmt – und damit auch nicht auf die Entwicklung von Algorithmen. Sowohl das von der EU vorgeschlagene Gesetz über digitale Märkte als auch der Rechtsakt zur KI zielen darauf ab, große Unternehmen in Europa durch digitale Schutzmaßnahmen und Regulierungen in Schwung zu bringen oder zu fördern. Datenschutzregelungen sind zwar notwendig und wichtig aus Sicht der Bürgerrechte, aber ihre Auswirkungen auf die Innovationstätigkeit der Unternehmen wurde nicht untersucht. So ist beispielsweise der rechtliche Status von Datenströmen, etwa für Simulationen oder maschinelles Lernen, unklar und behindert derzeit noch die Entwicklung von Algorithmen.
Die Verwirrung rund um den Datenschutz hat in Deutschland auch die Einführung von Gesundheits-Apps für die ärztliche Versorgung und für Apotheken vereitelt. Die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) unterzeichnete Initiative zur Entwicklung einer Gaia-X-Plattform für die Speicherung von Daten auf einer europäischen Plattform – und eben nicht in der iCloud oder bei Alibaba – missversteht die Sorgen der deutschen Industrie in Bezug auf Cyberspionage. Bei diesen Bedenken geht es eher um Hacker und Technologien als um digitalen Nationalismus in Form einer eigenen Plattform. Führungskräfte aus der Industrie und Wissenschaftler, die ich interviewt habe, kritisieren Altmaier dafür, dass er mit seiner Politik weder die wahren Probleme noch die Chancen berücksichtigt.
Mehr Cyber Valley wagen
Nichtsdestotrotz sind in der deutschen KI-Landschaft große Veränderungen im Gange, und dazu gehören auch politische Maßnahmen auf der Mikroebene. Diese Veränderungen versprechen einen größeren Schub als die beschriebene Leuchtturm-Politik. Der Charakter der deutschen KI-Landschaft könnte von den historisch wettbewerbsfähigen Industrien geprägt werden und davon, wie sie in der Vergangenheit im Bereich Forschung und Entwicklung und bei Innovation erfolgreich waren. Zu diesen Anstrengungen gehören die schnelle Aufholjagd in der Automobilindustrie bei der Entwicklung von Elektroautos und Apps oder die Entwicklung von KI zur Effizienzsteigerung in den Wertschöpfungsprozessen der Chemie- und Pharmaindustrie.
In Deutschland mangelt es an Wissenschaftlern von Weltrang in den Bereichen Datenwissenschaft und Mathematik. Das gilt aber nicht für die anwendungsorientierten Bereiche. Das Cyber Valley in Baden-Württemberg umfasst zwei Universitäten, ein Max-Planck-Institut, zwei Fraunhofer-Institute und eine Vielzahl von Unternehmen, an denen auch nicht-deutsche Firmen wie Amazon und Google beteiligt sind. Das Cyber Valley verkörpert das deutsche Pendant zum Silicon Valley in Kalifornien, ist aber in seiner Mischung aus öffentlichen und privaten Akteuren und Forschungseinrichtungen einzigartig für Deutschland. Darin kann seine Stärke liegen, um die Innovationen und die sie tragenden Institutionen gleichzeitig weiterzuentwickeln.
Deutschland erlebt etwa alle 20 bis 30 Jahre kollektive wirtschaftliche Angstgefühle, geht aber immer wieder gestärkt aus diesen Krisen hervor. Jedes Mal hat die soziale Marktwirtschaft Schocks abgefedert, Arbeitnehmer haben sich – mehr oder weniger – auf neue Technologien eingelassen und mutige politische Maßnahmen haben die deutschen Exporte gerettet.
Deutsche Lösungen fürs Digitalzeitalter
Die KI-Krise ist anders. Diesmal könnte die Politik mit falschen Anreizen Fehlentwicklungen wie das nur langsame Aufholen des Mittelstands bei der KI und die geringe Zahl an Start-ups sein. Doch das alte Deutschland der verarbeitenden Industrie muss sich in das neue Deutschland der Industrie 4.0 verwandeln. Statt kühner Maßnahmen, die für positive Schlagzeilen in Berlin oder Brüssel sorgen, wäre der Weg nach vorn folgender: klare Datengesetze verabschieden, Technologiecluster fördern und Anreize für große und kleine Unternehmen schaffen, maschinelles Lernen zu implementieren.
Wie zuvor wird der Erfolg Deutschlands darin liegen, deutsche Lösungen zu finden. Die derzeit unübersichtliche digitale Landschaft aus Datenschutz, Abschottungsmaßnahmen und Leuchtturm-Projekten wird den Anforderungen des industriellen Deutschlands im digitalen Zeitalter nicht gerecht. Dankenswerterweise haben die deutsche Gesellschaft und die deutsche Wirtschaft die Zeichen der Zeit erkannt und sind sich bewusst, dass sie Zukunftschancen nicht verpassen dürfen.
Dieser Artikel erschien zuerst in Der Tagesspiegel.
J.P. Singh ist Professor für internationalen Handel und Politik an der Schar School of Policy and Government der George Mason University sowie Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
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