Vorgestellt: Senem Aydın-Düzgit
Senem Aydın-Düzgit ist leitende Wissenschaftlerin und Koordinatorin für Forschung und akademische Angelegenheiten am Istanbul Policy Center sowie Professorin für Internationale Beziehungen an der Sabancı-Universität. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die europäische und türkische Außenpolitik.
Woran arbeiten Sie als Fellow der Robert Bosch Academy?
Ich arbeite an zwei neuen Forschungsprojekten, die parallel laufen. Das eine befasst sich mit dem Ausmaß, dem Wandel und den Folgen der deutschen Demokratieförderung in der Türkei. Seit der Gründung der Bundesrepublik haben die verschiedenen deutschen Regierungen die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Grundprinzipien der deutschen Außenpolitik bezeichnet. Trotz des tief verwurzelten Engagements Deutschlands für die Demokratieförderung als außenpolitisches Ziel, sowohl als Einzelstaat als auch als EU-Mitgliedstaat, ist seine Unterstützung für die Demokratie in Drittstaaten nach wie vor nicht ausreichend untersucht und erforscht. Die Türkei ist ein wichtiger Fall: Denn sie ist einerseits ein EU-Kandidat, der erhebliche demokratische Rückschritte zu verzeichnen hat, und andererseits ein strategischer Partner für Deutschland und die EU. Unter diesem Blickwinkel möchte ich die deutsche Praxis der Demokratieförderung in einem Mehrebenen-Kontext unter die Lupe nehmen.
Ein zweites, größeres Projekt betrifft die Quellen anti-westlicher Einstellungen im Globalen Süden. Es erfordert eine Untersuchung der zeitgenössischen Quellen von Ressentiments gegenüber der Idee des „Westens“ und der sogenannten „liberalen internationalen Ordnung“, einschließlich historischer Darstellungen, Wahrnehmungen und Diskurse. Zwar hat die Politik eine Zunahme des Antiwestlichen auf globaler Ebene festgestellt, doch wird dieses Thema nicht von ausreichender akademischer oder politikrelevanter Arbeit begleitet, die verstehen und erklären kann, wie antiwestliche Ansichten in individuellen und kollektiven Überzeugungen in verschiedenen Ländern begründet sind, die in der Regel nicht als Teil des Westens angesehen werden. Diese Akteure verfügen jedoch über einen immer größeren Einfluss auf die globale Ordnung.
Was sind die wichtigen Themen in Ihrem Arbeitsfeld?
Russlands Einmarsch in der Ukraine, die Zukunft der liberalen internationalen Ordnung, der Aufstieg des populistischen Autoritarismus und die Widerstandsfähigkeit von autoritären Regimen. All diese Themen sind auf verschiedene Weise miteinander verbunden. So hat beispielsweise der Aufstieg von politischen Akteuren in Europa und anderswo, die sich gegen die freiheitliche Demokratie richten, unmittelbare Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die globale Ordnung unter Druck gesetzt wird. Die Resilienz autoritärer Regime in vielen Staaten lässt sich nicht ohne Rückgriff auf die Verschiebungen in der internationalen Ordnung erklären. Und die russische Invasion in der Ukraine hat weiterhin große Auswirkungen auf die europäische und globale Sicherheitsordnung.
Wie sehen Sie die derzeitigen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei und was sind die wichtigsten Herausforderungen?
Meiner Meinung nach ist das derzeitige Verhältnis zwischen der EU und der Türkei ein rein transaktionales. Es fehlt an Normen und Werten, die die EU lange Zeit als eines der bestimmenden Merkmale ihrer Außenpolitik hervorgehoben hatte. Meines Erachtens ist eines der deutlichsten Beispiele für die Verlagerung der EU-Außenpolitik von einer relativ starken normativen Grundlage hin zur Realpolitik in den aktuellen Beziehungen zur Türkei zu finden. Der Beitrittsprozess der Türkei ist nun auf unbestimmte Zeit eingefroren und wird stattdessen durch eine sehr fragile Partnerschaft ersetzt, die hauptsächlich aus einer Zusammenarbeit im Bereich Migration und der wirtschaftlichen Beziehungen besteht. Hinzu kommen kontroverse Fragen wie der Streit um den Verlauf der Seegrenzen im östlichen Mittelmeer. Der EU mangelt es an einer gemeinsamen, kohärenten und langfristigen Vision, wohin sich ihre Beziehungen zur Türkei entwickeln sollen. Stattdessen verfolgt die EU einen kurzfristigen, pragmatischen und politikspezifischen Ansatz, der größeren Fragen ausweicht, wie zum Beispiel den potenziellen langfristigen Auswirkungen des aufkommenden Autoritarismus in der Türkei auf die EU selbst.
Welche Erkenntnisse für Ihre Arbeit erhoffen Sie sich von Ihrem Stipendium?
Ich möchte herausfinden, welche Rolle Deutschland bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei spielt, insbesondere aus der Perspektive von Demokratie und Menschenrechten. Mich interessiert es besonders herauszufinden, wie wichtige Entwicklungen wie die Migrationskrise und die russische Invasion in der Ukraine die politischen Entscheidungen deutscher Entscheidungsträger:innen in Bezug auf die Türkei beeinflusst haben und wie sie diese politischen Präferenzen wiederum auf die EU-Ebene übertragen haben. Was mein größeres Projekt zu den kleinteiligen Ursprüngen antiwestlicher Einstellungen im Globalen Süden betrifft, so möchte ich einen tieferen Einblick in die Art und Weise gewinnen, wie Bürger:innen und Gesellschaften jenseits des „Westens“ den Begriff des „Westens“ wahrnehmen und auf welcher Argumentationsbasis sie ihre Ressentiments artikulieren. Einige der Schlüsselfragen lauten, ob das Antiwestliche eine Reaktion auf die Legitimationskrise der bestehenden Weltordnung ist, wie es für Asien in der lange bestehenden globalen Ordnung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Fall war. Damals waren antiwestliche Haltungen eine Reaktion auf Daseinsängste, ein kulturelles Ressentiment, ein Ausdruck von Antiamerikanismus, ein Produkt historischer Hinterlassenschaften oder eine komplexe Kombination dieser und anderer möglicher Faktoren. Eine solche Untersuchung ist nicht nur aus akademischer Sicht von Bedeutung, sondern auch aus politischer Sicht von großer Relevanz, da sie in engem Zusammenhang mit den Debatten über die Krise der internationalen Ordnung steht.
Was macht Berlin und Deutschland für Ihre Arbeit relevant?
Nach dem Brexit gehört das Vereinigte Königreich nicht mehr zu den wichtigsten Akteuren bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei; dadurch ist Deutschland der Hauptakteur. Der Aufenthalt an der Robert Bosch Academy in Berlin bietet eine hervorragende Gelegenheit, mit verschiedenen Akteuren über die Entwicklung des Dreiecks EU-Türkei-Deutschland zu diskutieren. Außerdem besteht in Berlin und in Deutschland insgesamt ein großes Interesse an der Zukunft der liberalen Ordnung und dem Platz Europas in dieser Ordnung, insbesondere nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Diese Entwicklungen bringen oft eine wachsende Besorgnis über den Niedergang des „Westens“ und die Ambivalenz, wenn nicht gar Feindseligkeit, verschiedener aufstrebender Akteure gegenüber den Schlüsselpositionen von EU und NATO mit sich. Darüber hinaus sind Berlin und die Academy kosmopolitische Zentren, in denen ein reicher intellektueller Austausch zu diesen und anderen verwandten Themen auf höchstem Niveau stattfindet, was ich an diesem Fellowship am meisten schätze.
Quarterly Perspectives
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