Multilaterale Systeme müssen inklusiver werden
Die multilateralen Systeme brauchen eine Reform, um ihre Legitimität, Rechenschaftspflicht und Funktionalität in Zukunft zu gewährleisten. Hierbei sollten die Stimmen der Zivilgesellschaft, der lokalen Regierungen und des Privatsektors gestärkt werden. In diesem Prozess könnte Deutschland eine stärkere Führungsrolle übernehmen.
Interview mit María Fernanda Espinosa
Henry Alt-Haaker: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns über den Wandel der internationalen Ordnung und die notwendigen Reformen des Multilateralismus zu sprechen. Dieses Thema ist für die Robert Bosch Stiftung von größter Bedeutung, denn es ist "das Meer, in dem wir mit unserer internationalen Arbeit schwimmen", wie man im Englischen sagt. Lassen Sie uns also mit der Vogelperspektive beginnen: Was sind Ihrer Meinung nach die drei wichtigsten Veränderungen, die notwendig sind, um internationale Organisationen zu legitimieren und das Vertrauen in sie wiederherzustellen?
María Fernanda Espinosa: Ich sehe drei große Herausforderungen für die Fähigkeit internationaler Organisationen, auf die Bedürfnisse unserer Zeit zu reagieren. Erstens geht es um die Legitimität von Entscheidungen, die auf globaler Ebene getroffen werden: Wer trifft die Entscheidungen und wie groß ist die soziale Verantwortung der Entscheider? Welche Kontrollmechanismen und Rechenschaftspflichten gibt es und wie spüren die Gesellschaften die Auswirkungen einer Entscheidung, die auf globaler Ebene getroffen wird, in ihrem alltäglichen Leben?
Zweitens ist da die Frage der fehlenden Umsetzung. Wir haben eine sehr ausgeklügelte, komplexe Architektur für die internationale und multilaterale Entscheidungsfindung. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen dieser politischen Ebene und der tatsächlichen Umsetzung vor Ort. Wenn man die Menschen fragt, sind sich alle einig, dass die Vereinten Nationen die Welt verbessert haben. Wir haben einen dritten Weltkrieg verhindert, die globale Gesundheit und die Menschenrechte verbessert und Konventionen zu kritischen Themen formuliert, vom Klimawandel bis zur biologischen Vielfalt usw. Die UN hat die Welt zu einem besseren Ort gemacht. Doch auf der anderen Seite sagen die Menschen auch, dass wir Taten und nicht Worte brauchen.
Die dritte Herausforderung ist das Defizit bei der Inklusion. Wir wissen, dass es im multilateralen System um zwischenstaatliche Verhandlungen, Vereinbarungen und Verpflichtungen geht. Wir sind uns aber auch darüber im Klaren, dass Gesellschaften und Bürger bei Entscheidungen, die für ihre Zukunft und ihr Wohlergehen von enormer Bedeutung sind, angehört werden und ein Mitspracherecht haben sollten. Und um die Legitimität und Effektivität internationaler Institutionen zu stärken, muss man sicherstellen, dass die diversen Stimmen und Akteure in einer Gesellschaft in Entscheidungsprozess eingebunden werden. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Überwindung aller drei Defizite. Mitverantwortung und Social Ownership sind hier die Schlüsselwörter.
Wo sehen Sie die dringendsten Herausforderungen für einen inklusiven Multilateralismus?
Als die Vereinten Nationen und die meisten multilateralen Institutionen gegründet wurden, hatten wir eine ganz andere geopolitische Weltkarte als heute. Wir müssen also unsere Institutionen an die veränderte Situation anpassen und die Realität neu lesen. Globalisierung, die Revolution in der Kommunikation und größere Interdependenzen haben dazu geführt, dass der öffentliche Raum und die Staatsbürgerschaft neu definiert werden und eine Vielzahl von relevanten Akteuren in der Gesellschaft entsteht. Und wenn man Entscheidungen auf globaler Ebene treffen will, Entscheidungen, die verschiedene Bereiche des Lebens in der Gesellschaft berühren und beeinflussen, müssen die Stimmen der Betroffenen gehört werden und in den Gesprächen Platz haben. Die Zivilgesellschaft und ihr aktives Engagement in der Öffentlichkeit stärken die Demokratie und tragen dazu bei, dass multilaterale Entscheidungen in die Tat umgesetzt werden.
Manchmal können die Stimmen der Zivilgesellschaft kritisch sein. Ich denke jedoch, dass diese Stimmen eben Mitverantwortung, Legitimität und die Möglichkeit einer konstruktiven Kontrollfunktion mit sich bringen. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass die "Zivilgesellschaft" nicht monolithisch und homogen ist, sondern vielmehr eine Vielfalt von Ansichten, Zielen und Perspektiven darstellt.
Wie schaut es mit der Kehrseite der Medaille aus? Glauben Sie, dass NGOs, Dachverbände, Think Tanks, Experten und Unternehmen wirklich in der Lage sind, diese Verantwortung zur aktiven Mitgestaltung des Multilateralismus und der regelbasierten internationalen Ordnung zu übernehmen?
Es ist ein gegenseitiger Lernprozess: Es geht darum, die Last und die Verantwortung zu teilen. Und auf der praktischen Ebene ist es das, was ich das Problem unterschiedlicher Zeithorizonte nenne: Politische Zyklen sind kürzer als institutionelle Zyklen. Und manchmal ist der zivilgesellschaftliche Raum berechenbarer und nachhaltiger. Es ist jedoch klar, dass die UN im Wesentlichen ein zwischenstaatlicher Raum ist, der durch die Festlegung klarer und vorhersehbarer Regeln für die Beteiligung der Zivilgesellschaft bereichert und verbessert werden kann.
Es ist ein schrittweiser Prozess des Lernens, wie man zusammenarbeiten kann. Aber ich denke, es ist absolut entscheidend, dass die Spielregeln klar sind. Denn wenn man eine Resolution entwirft oder ein Gipfeltreffen vorbereitet, werden die verschiedenen Interessengruppen, darunter die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft und der Privatsektor, immer erst am Ende einbezogen. Und die Bedingungen für die Teilnahme müssen jedes Mal neu diskutiert und ausgehandelt werden. Wir verwenden fertige Phrasen über Inklusion und Partizipation. Strukturell gibt es jedoch keine verlässlichen Mechanismen, die sich mit der Frage der Beteiligung und Einbeziehung von gesellschaftlichen Akteuren befassen – mit Ausnahme des UN-NGO-Komitees und einer Liste der NGO, die Beobachterstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der UN (ECOSOC) haben.
Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel nennen: der Ausstieg aus der Kohle zum Schutz des Klimas. 80 Prozent der Kohleprojekte werden durch private Investitionen finanziert. Entweder man hat die Privatwirtschaft mit im Boot oder man kommt nicht weiter. Das ist die Realität. Wenn Sie von nachhaltiger Infrastruktur sprechen, von kohlenstoffarmer Infrastruktur, woher kommt dann das Geld für die Investitionen? Aus dem privaten Sektor. Wir brauchen also klare Spielregeln.
Wenn es um die Neugestaltung des Multilateralismus und der UN geht, kommt immer wieder die Reform des Sicherheitsrates zur Sprache. Einige Experten sagen, das sei eine Illusion und "warum reden wir immer noch darüber, wohl wissend, dass es sowieso nicht passieren wird?" Was ist Ihre Meinung hierzu? Ist es ein politisches Manöver, das Thema immer wieder anzusprechen, wohl wissend, dass es das "am schwersten zu bohrende Brett" ist, um Weber zu zitieren? Oder ist es tatsächlich im Bereich des Möglichen, etwas zu ändern?
Es liegt auf der Hand, dass die Machtverhältnisse im Sicherheitsrat überdacht und neu strukturiert werden müssen. Wenn man von einer Reform des Sicherheitsrats spricht, denkt jeder sofort an die Mitgliederzusammensetzung, also die ständigen Mitglieder, die nichtständigen Mitglieder und das Vetorecht. Aber manchmal vergessen wir andere Aspekte, die vielleicht nicht so sexy oder so umstritten, aber trotzdem sehr wichtig sind. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeitsmethoden und -abläufe des Sicherheitsrates, die Frage der Transparenz, die Frage der Rechenschaftspflicht und die Frage der Umsetzung und der Kontrolle der Entscheidungen des Sicherheitsrats. Darüber hinaus ist da noch die Beziehung des Sicherheitsrats zu seinen Nachbarorganen: Wie können die Tagesordnungen der Generalversammlung, des Sicherheitsrats und des ECOSOC, der drei Hauptorgane der UN, miteinander verbunden werden?
Es geht um Fragen der Arbeitsmethoden und -abläufe, der Koordinierung und der größeren Transparenz. Dies sind also wichtige Teile des Reformprozesses, die völlig außer Acht gelassen werden. Ich denke, dass wir alle diese Aspekte zusammen betrachten müssen. Aber natürlich gibt es eine anhaltende Diskussion über die Erweiterung der Zahl der ständigen Mitglieder, die nach wie vor umstritten und ungelöst ist.
Sprechen wir nun über Europa und Deutschland. Die Europäische Union gefällt sich oft in der Rolle des "ehrlichen Maklers" und Moderators auf multilateralem Parkett. Reicht diese Vermittlerrolle aus, um in Zeiten globaler Machtrivalitäten eine Führungsrolle zu übernehmen, oder sollte ein Akteur wie die EU nicht auch eigene strategische Interessen verfolgen, die über die Rolle eines neutralen Moderators zwischen globalen Mächten hinausgehen? Was sollte die EU Ihrer Meinung nach in diese multilateralen Verhandlungen einbringen?
Es gibt Zeiten, in denen eine starke Führungsrolle, eine stärkere Positionierung notwendig ist, ganz sicher. Aber es geht nicht um ein Entweder-oder. Nehmen wir die Beispiele Covid-19 oder den Klimawandel. Es ist wichtig, dass Europa den Green Deal umsetzt und zeigt, dass dies möglich ist, und ihre Verpflichtungen zur Klimafinanzierung einhält. Und nicht nur das, sondern auch die Solidarität mit den bedürftigen Ländern und den am meisten gefährdeten Ländern. Wir brauchen auch ein Europa, das sich für ein stärkeres und moderneres multilaterales System einsetzt.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen. Die Verabschiedung des UN Migrationspakts war ein sehr umstrittener Prozess. Ich war direkt dafür verantwortlich, und ich wusste, dass es innerhalb der EU keine Übereinstimmung gab. Aber wir hatten sehr starke Unterstützung für eine globale Einigung darüber, wie das komplexe Thema der Migration angegangen werden soll. Migration ist grundsätzlich eine grenzüberschreitende Angelegenheit, die ein globales Verständnis und einige gemeinsame Regeln und Strategien erfordert. Und Deutschlands Unterstützung und Führungsrolle zu diesem Zeitpunkt war entscheidend für die Verabschiedung des Pakts. An einem bestimmten Punkt müssen Länder wie Deutschland einfach in den Vordergrund treten und sagen: "Das ist uns wichtig und wir übernehmen die Führungsrolle hierbei.“
Deutschland hat eine neue Regierung mit einem neuen Bundeskanzler Olaf Scholz. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Hausaufgaben der neuen Regierung, die sie aus den Vorschlägen aus „Our Common Agenda“ oder der breiteren Diskussion über Reformen der internationalen Ordnung übernehmen sollte? Und da wir uns kurz vor Weihnachten befinden: Welche Prioritäten würden Sie sich auf der Agenda der neuen Bundesregierung wünschen?
Ich denke, dass Deutschland ein äußerst wichtiger Verbündeter sein kann, um die Rolle und die Stimme der Zivilgesellschaft im multilateralen Entscheidungsprozess zu stärken. Und das hat eine herausragende Rolle im jüngsten Bericht des UN-Generalsekretärs: "Our Common Agenda". Ich sehe auch eine wichtige Rolle für Deutschland, wenn wir die globale Governance-Architektur im Umweltbereich neu überdenken. Die Frage der ökologischen und globalen Gemeingüter verdient mehr Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass die Grünen mitregieren und es eine grüne Außenministerin gibt, ist eine gute Nachricht. Ich denke, dass der globale Umweltpakt und die Stockholm+50 Feier im nächsten Jahr eine sehr starke Führung sowie Stimmen erfordern, um den grassierenden Raubbau an unseren ökologischen Gemeingütern ernst zu nehmen.
Es ist auch sehr ermutigend zu sehen, dass Deutschland eine feministische Außenpolitik betreiben wird, wie es im Koalitionsvertrag steht. Es gibt nur wenige Länder auf der Welt, die dies tun. Schweden war einer der Vorreiter, aber auch in meiner Region gibt es Länder mit einer feministischen Außenpolitik, zum Beispiel Mexiko. Es ist wichtig, dass wir den Worten auch Taten folgen lassen. Ein guter Weg hierfür, ist die Umsetzung der Verpflichtungen des Generation Equality Forum und des Peking+25-Prozesses. Das Forum war eine weltweite Bewegung von Regierungen und Organisationen, die in Mexiko und Paris zusammenkamen, um die Agenda für die Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte der Frauen neu zu gestalten und zu stärken. Vor uns liegen eine Menge Hausaufgaben. UN Women hat eine neue Exekutivdirektorin. Mehrere Regierungen und die Zivilgesellschaft haben sich stark engagiert. Die Voraussetzungen sind also gegeben.
Ich habe mich auch gefreut, die Allianz für Multilateralismus in der Koalitionsvereinbarung (wieder) zu sehen. Das ist ein vielversprechendes Zeichen für die Priorität, die die neue Regierung dem Multilateralismus und der dringend notwendigen Reform der Vereinten Nationen einräumt.
Frau Espinosa, ich danke Ihnen für das erhellende Gespräch.
María Fernanda Espinosa diente als Präsidentin der 73. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (2018/19) sowie als ecuadorianische Außenministerin, Ministerin für das Kultur- und Naturerbe und Verteidigungsministerin. Sie ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Henry Alt-Haaker leitet den Bereich Strategische Partnerschaften und Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung.
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