Die israelisch-palästinensischen Konfliktlinien sind komplexer als man denkt
Der 7. Oktober 2023 hat auch die MENA-Region erschüttert. Der Konflikt ist mehr als nur eine Kluft zwischen dem Westen und dem Rest der Welt.
Von Aboubakr Jamaï
Die Anschläge vom 7. Oktober 2023 in Israel und ihre Folgen haben tiefe Gräben aufgerissen. Einer davon ist die vermeintliche Kluft zwischen dem Westen und dem Rest der Welt. Die Logik, die hinter dieser Behauptung steht, zeugt jedoch von intellektueller Faulheit und ist sachlich falsch und politisch gefährlich.
Sie ist intellektuell faul, weil sie das widerlegte Argumentationsmuster des „Kampfes der Kulturen“ widerspiegelt. Hier geht es nicht um den Westen gegen den Rest der Welt, und schon gar nicht um Juden und Jüdinnen gegen Muslim:innen. Im Gegensatz zu dieser Theorie sind menschliche Gesellschaften heterogen und entwickeln sich weiter. Die durch den israelisch-palästinensischen Konflikt entstandenen Bruchlinien ziehen sich zunehmend quer durch die meisten Länder und Regionen der Welt.
Tiefe Gräben in den westlichen Gesellschaften
Diese Argumentation ist falsch, weil innerhalb der westlichen Öffentlichkeit tiefe Gräben entstanden sind. Ein Beispiel ist die starke Wählerschaft junger und gebildeter US-Amerikaner:innen, die die bedingungslose Unterstützung Israels durch den Großteil der US-amerikanischen politischen Elite ablehnen. Einige Gruppen von Studierenden sind sogar verboten worden. Und es blieb nicht bei den Studierenden: Direkt oder indirekt führte der Streit zur Absetzung der Präsidenten der Harvard University und der University of Pennsylvania.
Tatsächlich ziehen sich diese Gräben durch die ideologischen und politischen Lager. Die Demokratische Partei in den USA und die Labour-Partei im Vereinigten Königreich sind in hitzige interne Debatten verwickelt, mit potenziell verhängnisvollen Auswirkungen auf die Wahlen. Die gleichen Brüche gibt es auch in den politischen Lagern in Europa. Der Blankoscheck, den unter anderem die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der britische Premierminister Rishi Sunak der israelischen Regierung ausstellten, wurde von den politischen Führungen Spaniens, Belgiens, Norwegens und Irlands entwertet.
Die Auswirkungen auf die Medien sind nicht weniger polarisierend. Journalist:innen haben einzeln und kollektiv kritisiert, was sie als Voreingenommenheit ihrer Redaktionsleitungen empfanden. Der Bericht der New York Times über die Vergewaltigungen durch militante Hamas-Kämpfer am 7. Oktober ist wahrscheinlich das extremste Beispiel für diese aufgeheizten Meinungsverschiedenheiten.
Das Online-Nachrichtenmagazin The Intercept veröffentlichte einen scharfen Artikel, in dem die Vergewaltigungsgeschichte der Times durchlöchert wurde. Die NewsGuild of New York, die Gewerkschaft der New Yorker Nachrichtenjournalist:innen und Hauptgewerkschaft der New York Times, behauptete, die Redaktionsleitung der Zeitung habe eine Untersuchung eingeleitet, um die internen Quellen des Intercept-Artikels zu ermitteln, und dabei einen Journalisten mit nahöstlichen Wurzeln herausgegriffen. Die Gewerkschaft beschuldigte die Führung der Zeitung des rassistischen Profiling. Die Führung der Times wies die Vorwürfe einer Missachtung journalistischer Standards und der Erstellung von ethnischen Profilen unter den eigenen Journalist:innen zurück. Wahrscheinlich wird sich dies zukünftig negativ auf die gesunden und notwendigen Debatten auswirken, die Medienredaktionen beleben.
Auch die MENA-Region ist gespalten
Die Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und den Regierungen in den wichtigsten Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas (MENA) wurde bisher relativ wenig beachtet. Die Politik der Regierungen im Nahen Osten spiegelt nicht immer die öffentliche Meinung wider. In einigen Ländern ist die Kluft zwischen der Regierung und ihrer Wählerschaft gewaltig, vor allem, wenn es um die Palästina-Frage geht.
Nehmen Sie mein Herkunftsland Marokko. Im Dezember 2020 schloss sich Marokko dem Abraham-Abkommen an, mit dem offizielle Beziehungen zu Israel aufgenommen wurden. Westliche Verbündete und Mainstream-Medien feierten die Normalisierung der Beziehungen, nachdem sie eine ähnliche Normalisierung zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und dem Sudan begrüßt hatten. Wenig Beachtung fanden die aufeinanderfolgenden Umfragen, die zeigen, dass die marokkanische Öffentlichkeit die Normalisierung der Beziehungen zu Israel massiv ablehnt. Im Oktober 2020 ergab eine Umfrage, dass 88 Prozent der Marokkaner:innen gegen eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel sind.
Die Art des „Deals“, der die marokkanischen Behörden dazu brachte, die Normalisierung der Beziehungen zu Israel zu akzeptieren, macht die Ablehnung der öffentlichen Meinung noch bezeichnender. Da das marokkanische Regime die starken Gefühle der Marokkaner:innen für die palästinensische Sache kannte, musste es die Normalisierung der Beziehungen zu Israel mit einer außergewöhnlichen Gegenleistung rechtfertigen. Dabei handelte es sich um die israelische Anerkennung der marokkanischen Souveränität über die Westsahara, ein Gebiet, das von Marokko und einer separatistischen Sahraoui-Gruppe namens Frente Polisario beansprucht wird. Nach internationalem Recht handelt es sich um ein umstrittenes Territorium. Die Westsahara-Frage oder die Frage der Südprovinzen, wie Marokko diese Gebiete nennt, ist für Marokko ein wichtiges nationales Anliegen.
Doch trotz der Anerkennung der Souveränität Marokkos über die Westsahara auch durch die USA und trotz der verbesserten militärischen Zusammenarbeit mit Israel lehnen immer noch 31 Prozent der Marokkaner:innen die Normalisierung der Beziehungen ihres Landes zu Israel ab.
Marokkos westliche Verbündete lassen jedoch kaum eine Gelegenheit aus, um die Teilnahme an den Abraham-Abkommen zu loben. Die Tatsache, dass die große Mehrheit der marokkanischen Bevölkerung gegen diese Abkommen war, wird von ihnen kaum zur Kenntnis genommen. Und es kommt noch schlimmer.
Die marokkanische Regierung wurde von Menschenrechtsorganisationen beschuldigt, die israelische Spionagesoftware Pegasus einzusetzen, um gegen Menschenrechtsaktivist:innen und Journalist:innen vorzugehen. Pegasus ist eine als Cyberwaffe einsetzbare Spionagesoftware, deren Verkauf von der israelischen Regierung genehmigt werden muss. Mit anderen Worten, nicht nur wurde die Normalisierung der Beziehungen zu Israel von der großen Mehrheit der Marokkaner:innen entschieden abgelehnt, die repressiven Methoden des marokkanischen Regimes wurden auch noch von Israel unterstützt und gefördert.
In Israel herrscht keine Einmütigkeit
Darüberhinaus waren die größten Demonstrationen, beispielsweise wieder in Falle Marokkos, zur Unterstützung der palästinensischen Sache friedlich. Es gab keine antisemitischen Parolen oder Aufrufe zur Zerstörung Israels. Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützt.
Auch in Israel ist die öffentliche Meinung trotz des Rally-Effekts in einem entscheidenden Aspekt des Konflikts gegen die Regierung: Die Schaffung eines palästinensischen Staates. Während die israelische Regierung die Gründung eines solchen Staates ablehnt, befürwortet eine Mehrheit der Israelis dies, wie eine aktuelle Umfrage zeigt.
Dies gibt zugleich eine wichtige Lektion und eine ernste Mahnung. Die wichtige Lektion ist die intensive Debatte über den Krieg zwischen Israel und der Hamas, wie sie in den meisten Regionen und Nationen, insbesondere im Westen, geführt wird. Die ernste Mahnung liegt in dem besorgniserregenden Trend zur Einschränkung der Grundfreiheiten: In einigen westlichen Ländern, insbesondere in den USA, hat der Konflikt dazu geführt, dass Debatten an Orten, an denen Meinungsfreiheit an erster Stelle stand, unterdrückt werden. Um zu verhindern, dass diese Debatten in eine unüberbrückbare Polarisierung, und letztlich in Gewalt, abdriften, sollten die Grundfreiheiten, die die Grundpfeiler der Demokratie bilden, bewahrt werden.
Aboubakr Jamaï ist Journalist und Professor am American College of the Mediterranean. Er ist Experte für Medien und Politik mit Schwerpunkt auf dem Nahen Osten und Nordafrika. Er ist außerdem Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy.
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