Die schwerwiegenden Konsequenzen „pragmatischer“ Energieinteressen
Der Westen hat lange Zeit die Mitverantwortung für die Konsequenzen seiner interessengeleiteten und „pragmatischer“ Politik ignoriert. Die heutige dringende Notwendigkeit, sich mit drastischen Mitteln der Hard-Power-Politik von Autokraten entgegenzusetzen, ist die Quittung für diese Ignoranz.
Von Leila Alieva
Die Kunst kann ein erster Spiegel für globale Trends sein. Ein kürzlich in Berlin aufgeführtes Theaterstück von Karen Power können wir als metaphorische Illustration der Herausforderungen und Möglichkeiten der aktuellen Phase des Weltgeschehens lesen.
Die Musik wurde von einer Band, die sich auf verschiedene Räume verteilte, trotzdem gemeinsam gespielt. Die Musiker des Ensembles befanden sich nicht am selben Ort, sondern bewegten sich von einem Raum zum anderen. Auch das Publikum konnte sich frei von einem Saal zum anderen bewegen, um den Musikern zuzuhören und zuzusehen.
Diese Musik wurde also räumlich voneinander getrennt gespielt, ein Verweis auf einen altbekannten Fehler der Politik, der überall auf der Welt gemacht wird; einer Politik, die sich nur auf sich selbst konzentriert, ohne an die grenzüberschreitenden Folgen nationaler oder lokaler Entscheidungen zu denken. Diese nicht bedachten Folgen können dann wie ein Bumerang an den Ort der politischen Entscheidungen zurückschnellen.
Das außenpolitische Dilemma jenseits des Entweder-oder
Die aktuelle Krise in der Ukraine – mit dem Beschuss und der Bombardierung ukrainischer Städte durch die russische Armee, begleitet von zivilen Opfern und Zerstörungen – ist ein Beispiel für Fehleinschätzungen der potenziellen Sicherheitsrisiken und für Probleme in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland. Die internationalen Beziehungen sind heute durch eine intensive Debatte zwischen „wertebasierter“ und „interessenbasierter“ Außenpolitik des Westens gegenüber dem Rest der Welt gekennzeichnet. Obwohl der öffentliche Druck in Richtung einer wertebasierten Politik zunimmt, ist das Dilemma in der Praxis nicht zu lösen.
Experten sind der Ansicht, dass einige Auswirkungen der EU-Wirtschafts- und Handelspolitik die Fähigkeit der Organisation behindern, die von der EU vertretenen Werte zu verteidigen. Ein Beispiel dafür sind die (Handels-)Beziehungen zu Diktatoren ölreicher Staaten, ungeachtet des nichtdemokratischen Charakters ihrer Regime. Anscheinend verursachen interessenbasierte oder geopolitische Entscheidungen höhere Kosten als die, die auf Werten beruhen. Diese Art der Interessenpolitik schafft es sogar, die Substanz und Widerstandsfähigkeit der demokratischen Staaten zu untergraben.
Demokratische Länder müssen jetzt der harten Machtpolitik der Autokraten etwas entgegensetzen. Das ist auch das Resultat der langfristigen Unfähigkeit des Westens, seine Mitverantwortung für die negativen Folgen der rein auf Interessen basierenden Beziehungen anzuerkennen. Wie demokratische Staaten ihre Beziehungen zu Autokratien gestalten, hat auch Einfluss auf die Innenpolitik und die gesellschaftlichen Verhältnisse in diesen Staaten. Die Interessenpolitik des Westens trägt zu deren Volkswirtschaft bei und verschafft den Autokraten so zusätzliche Ressourcen für die Monopolisierung der Macht und repressive Maßnahmen. Bisher wurden und werden keine politischen Maßnahmen ergriffen, um diese Schäden zu verringern. Darüber hinaus interpretieren Diktatoren und Autokraten diesen Pragmatismus als Schwäche des Westens und versuchen häufig, ihn für Manipulationen zu nutzen – unter anderem, um die gemeinsamen außenpolitischen Entscheidungen der EU oder der euro-atlantischen Verbündeten zu untergraben.
Der Westen spürt jetzt die negativen Folgen seiner Entscheidungen
Die westlichen Staaten bekommen die Folgen, die ihre außenpolitischen Entscheidungen in anderen Regionen der Welt haben, zunehmend selbst zu spüren, zum Beispiel etwa durch einen Zustrom von Flüchtlingen und Migranten. Die Menschen fliehen nicht nur vor Konflikten und wirtschaftlicher Not, sondern auch vor den durch internationalen Handel gestärkten Diktatoren. Dieses Dilemma ließe sich lösen, indem die vermeintlich unvereinbar gegenüberstehenden Konzepte von Werten und Interessen (wirtschaftlich, geopolitisch usw.) auf eine andere Ebene gehoben werden, die dieses Entweder-oder auflöst. Auf diese Weise könnten die Konzepte in einen neuen Kontext gestellt werden – einen Kontext, in dem miteinander verbundene und voneinander abhängige politische Realitäten und die Verantwortung für die politischen Entscheidungen und ihre Folgen anerkannt werden; das gilt auch für die nicht immer unbedenklichen politischen Folgen wirtschaftlicher Beziehungen. Wenn dies geschähe, wäre das auch ein erster Schritt zur Verminderung eben dieser negativen Konsequenzen.
Der negative Einfluss, den die Erdölinteressen der EU auf die Entwicklung der Demokratie in Aserbaidschan haben, ist gut erforscht. Dem hat die EU aber nie Rechnung getragen. Tatsächlich haben die EU-Beamten unter dem Einfluss der Energieagenda ihre Demokratiestandards heruntergeschraubt. Die steigende Zahl von Asylbewerbern aus Aserbaidschan in Europa ist eine Folge davon. Weitere Negativbeispiele sind die Korruptionsskandale rund um westliche Politiker, wie sie in den Panama Papers, den White Papers und den Pandora Papers aufgedeckt wurden. Sie belegen den schädlichen Einfluss der Autokraten auf die westlichen Demokratien.
Überwindung des eurozentrischen Begriffs der demokratischen Werte
Unter den gegenwärtigen Bedingungen eines äußerst aktiven Russlands und Chinas bei der Förderung und Unterstützung von Sharp Power (Chris Walker: Der Einsatz von Zensur und Manipulation, um die Integrität unabhängiger Institutionen zu untergraben) und der sich entfaltenden Dynamik des internationalen Wettbewerbs um Soft Power sollten die Demokratien handeln: um die Widerstandsfähigkeit der Institutionen im eigenen Land zu bewahren und um auch im Ausland Soft Power zu unterstützen. Manchmal nennt man das auch „europäische Werte über die Grenzen hinweg projizieren“.
Der Ausdruck „europäische Werte“ wird zwar schon seit einiger Zeit verwendet, untergräbt aber die Universalität demokratischer Werte und bietet eine Entschuldigung für „pragmatische“ Handelsbeziehungen. Im Kontext der gemeinsamen Verantwortung für die Folgen zwischenstaatlicher Beziehungen und politischer Entscheidungen bestünde ein nicht-eurozentrisches Ziel darin, die Beziehungen so zu gestalten, dass sie die Verwirklichung des Reformpotenzials der Gesellschaften in den Partnerstaaten fördern. Es liegt auf der Hand, dass im Falle öl- und gasreicher Staaten wie Russland oder Aserbaidschan der Pragmatismus die westlichen Staaten nicht dazu motiviert, die politischen Folgen ihrer Energieinteressen zu antizipieren und konsequent zu berücksichtigen.
Indem sie die Folgen ihrer Politik ignorieren, spielen die europäischen Staaten den autoritären Regimen in die Hände, die ihre Sharp Power ausbauen. Gleichzeitig machen sie sich selbst anfälliger für deren schädlichen Einfluss. Der pragmatische Handel mit öl- und gasreichen autokratischen Regimen findet seine Rechtfertigung oft in „kulturrelativistischen“ Ansätzen, die suggerieren, dass der politische Status quo eher durch die Unterschiede in der politischen und gesellschaftlichen Kultur als durch wirtschaftliche Beziehungen gestützt wird. Während in Deutschland Experten darauf drängen, dass die Bundesregierung mehr Verantwortung in der militärischen Sicherheitspolitik übernimmt, ist das Hauptproblem in der östlichen Nachbarschaft und den dortigen Konflikten die fehlende Präsenz des Westens als normative, Werte vermittelnde Kraft.
Bislang ist es Deutschland gelungen, die Widerstandsfähigkeit der liberalen Institutionen im Inland mit einer „interessengeleiteten“ Politik im Ausland zu verbinden. Ein bedeutender Teil der deutschen Führung beruht auf dieser Fähigkeit, die Widerstandsfähigkeit und die Macht liberaler Institutionen zu erhalten. Um eine Rolle zu festigen, die es erlauben würde, Sicherheitsbedrohungen früh genug präventiv anzugehen und nicht erst im gefährlichen Stadium einer militärischen Katastrophe wie in der Ukraine zu mobilisieren, ist ein weiterer Schritt erforderlich: der Aufbau von Beziehungen zu den anderen Akteuren in den internationalen Beziehungen, die nicht nur materiellen Nutzen bringen, sondern auch der Verwirklichung des besten Reform- und Kreativitätspotenzials in deren Gesellschaften förderlich sind. Die jüngste Entscheidung der neuen Regierungskoalition in Berlin, die mit der langjährigen sicherheitspolitischen Tradition der deutschen Politik gebrochen hat, könnte ein Zeichen für ein wachsendes Bewusstsein dafür sein, dass die Zukunft – sei sie nun rosig oder düster – näher liegt als erwartet.
Leila Alieva ist Affiliate der Russian and East European Studies an der School of Global and Area Studies der University of Oxford und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Quarterly Perspectives
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