Eine neue Führungsrolle für die USA in turbulenten Zeiten

Juni 2023

Die USA müssen verstehen, dass ihre eigenen Interessen sich mit denen der restlichen Welt decken, argumentiert Stephen Heintz. Was gut für die Welt ist, ist auch gut für die USA.

Von Stephen Heintz

Heintz_US Leadership Turbulence
IMAGO / Panthermedia

Wenn wir in die Zukunft dieses Jahrhunderts blicken, wird überdeutlich, dass die Menschheit vor vielfältigen, komplexen Herausforderungen steht. Dazu gehören der sich verschärfende Großmacht-Wettbewerb mit China, die militärische Konfrontation mit Russland, eine sich beschleunigende Klimakrise, Massenmigration von Menschen, die vor Gewalt oder Klimakatastrophen fliehen, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, wachsende wirtschaftliche Ungleichheit, Bedrohungen für die Demokratie und das Aufkommen von neuen Tools der Künstlichen Intelligenz wie zum Beispiel generativen Chatbots1. Wir leben in einer Zeit fundamentaler globaler Turbulenzen, die innovative Formen einer breit angelegten und tiefgreifenden weltweiten Kooperation und grundlegende Veränderungen sowohl im Stil als auch in der Substanz der globalen Führungsrolle der USA erfordert.

Diese Herausforderungen unterstreichen die grundlegende Realität unserer Zeit: die globale Interdependenz. Fast acht Milliarden Menschen und etwa 8,7 Millionen andere Spezies teilen sich das Ökosystem des Planeten Erde, ein Klima und eine stark vernetzte Weltwirtschaft. Die Realität der globalen Interdependenz besteht darin, dass Krisen in einem Teil der Welt die Bedingungen in anderen Teilen der Welt beeinflussen. Die USA müssen angesichts ihres enormen Reichtums, ihrer harten und weichen Machtressourcen, ihrer Anmaßung einer moralischen Führungsrolle und ihres unverhältnismäßigen Verbrauchs von endlichen weltweiten Ressourcen eine führende Rolle bei der Formulierung einer globalen Antwort auf die diversen Probleme spielen. Doch die Menschheit braucht eine mutige und grundlegend andere Vision von Amerikas Rolle in der interdependenten Welt des 21. Jahrhunderts.

Kernprinzipien einer neuen US-Weltpolitik

Eine neue Vision von Amerikas globaler Rolle muss auf einer Reihe von Grundprinzipien für eine konstruktive, kooperative, ergebnisorientierte und ethische Führungsrolle der USA beruhen:

Erstens müssen wir erkennen, dass Bemühungen, die globale Vormachtstellung der USA aufrechtzuerhalten, weder möglich noch im eigenen nationalen Interesse sind. Wenn es am Ende des Kalten Krieges einen „unipolaren Moment“ gab, so war er flüchtig und trügerisch. In Anbetracht der sich rasch weiterentwickelnden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtverteilung, die bereits im Gange war, als sich die Sowjetunion 1991 auflöste, hätten wir den schönen Schein des Triumphs durchschauen und uns mit einer nüchternen Sichtweise auf eine Welt mit mehreren Machtzentren und unterschiedlichen Formen der Macht arrangieren müssen. Angesichts der vorübergehenden Stärkung der Position der USA zu dieser Zeit hätten wir eine Vision der kooperativen globalen Führung verfolgen sollen, in der die USA eine wesentliche, aber nicht dominierende Führungsrolle spielen. Es ist zwingend erforderlich, dass wir dies jetzt angehen.

Relativ gesehen schrumpft die militärische und wirtschaftliche Macht der USA, obwohl sie immer noch groß ist. Vielleicht noch wichtiger ist, dass unsere Soft Power – die Kraft unserer Werte, unserer kulturellen Vitalität, unserer Fähigkeit zu wissenschaftlicher und technologischer Innovation und unserer Vorbildfunktion – abgenommen hat. Selbst unsere Freunde sehen die USA oft als arrogant, gierig, zu schnell mit militärischer Gewalt agierend und heuchlerisch. Es wird angenommen, dass wir die „regelbasierte, liberale internationale Ordnung“ nur so lange unterstützen, wie wir die Regeln machen und die Ordnung durchsetzen.

Das Bestreben, eine globale Vormachtstellung zu erlangen, sorgt für besonderen Unmut in den sehr unterschiedlichen Ländern, in denen fast 80 Prozent der Weltbevölkerung leben. Diese Länder werden oft als „globaler Süden“ bezeichnet, aber das greift zu kurz und ist irreführend. Wenn wir die Bewohner dieser Länder gemeinsam als „globale Mehrheit“ bezeichnen, kommen wir der Realität dieses Jahrhunderts näher. (Tatsächlich leben fast 90 Prozent der Weltbevölkerung in der nördlichen Hemisphäre2 und eben nicht in der südlichen.)

Auch wenn Sicherheit und Wohlstand der USA stets die Priorität der Amerikaner sein werden, müssen wir unsere nationalen Interessen in dem Bewusstsein verfolgen, dass unser Wohlergehen in einer interdependenten Welt grundsätzlich direkt mit Frieden und Wohlstand in anderen Regionen und dem Schicksal des Planeten als Ganzem verbunden ist. Um unsere nationalen Ziele zu erreichen, müssen die USA mit anderen zusammenarbeiten und eine gemeinsame Basis schaffen, um kollektive Vorteile zu erzielen. Bescheidenheit und Ehrlichkeit sind dabei unerlässlich: Wir müssen uns mit „strategischer Empathie“3 engagieren. Ich unterschätze nicht, wie schwierig dies angesichts der tiefen Gräben in der US-Innenpolitik und des Einflusses auf unsere Außenpolitik sein wird.

Ein unverzichtbarer Partner im Team mit anderen

Zweitens müssen die USA Stärke durch Teamarbeit aufbauen. Die freiere und schnellere globale Bewegung von Menschen, Informationen, Waren, Geld, Krankheiten, Umweltverschmutzung und Konflikten bringt eine Vielzahl von Herausforderungen mit sich, die kein einzelnes Land, nicht einmal eine Supermacht, bewältigen kann. Nur durch beharrliche Teamarbeit kann die Agenda der drängenden globalen Probleme wirksam bewältigt werden.

Multilaterale Institutionen wie die Vereinten Nationen, die ein wichtiges Forum für internationale Zusammenarbeit sind, müssen reformiert und gestärkt, nicht umgangen werden. Es ist höchste Zeit, dass diese Institutionen die Realitäten des 21. Jahrhunderts widerspiegeln, einschließlich der sich entwickelnden Machtverteilung. Darüber hinaus müssen neue Institutionen, Rahmen oder Netzwerke geschaffen werden, um regionale Probleme oder neue Bedrohungen für den Frieden, die Stabilität oder den Fortschritt der Menschheit anzugehen. Polylaterale Mechanismen wie das Pariser Klimaabkommen, die die Ressourcen und Kapazitäten von Regierungen, Unternehmen und der Zivilgesellschaft gemeinsam mobilisieren, werden unbedingt notwendig sein. Und wir müssen das internationale System mit mehr demokratischen Praktiken in Bezug auf Einbeziehung, Transparenz und Rechenschaftspflicht gestalten.

Die globale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg ist überholt: Es muss eine neue Ordnung gefunden werden und die USA müssen beim Aufbau des internationalen Systems der Zukunft eine führende Rolle übernehmen. Die USA müssen zum unverzichtbaren Partner in globalen Angelegenheiten werden.

Neue Instrumente für komplexe Herausforderungen

Drittens müssen wir eine ganze Palette von Instrumenten entwickeln und einsetzen. Angesichts der enormen Vielfalt und Komplexität der Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, müssen wir ein breites Spektrum an robusten politischen Instrumenten entwickeln, pflegen und einsetzen. Wenn wir uns zu sehr auf ein einziges Instrument verlassen, können wir die Aufgaben nicht bewältigen und riskieren unbeabsichtigte Folgen.

Die USA müssen bereit sein, militärische Gewalt einzusetzen, wenn es absolut notwendig ist, um unser Heimatland zu schützen, um anderen dringenden Bedrohungen für Frieden und Sicherheit zu begegnen oder um Genozide oder andere massive Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Wir müssen jedoch anderen Instrumenten Vorrang einräumen, die dazu beitragen können, dass militärische Maßnahmen nicht erforderlich werden, vor allem der Diplomatie. Wir müssen in einen diplomatischen Aufschwung investieren und Amerikas beste und klügste Köpfe rekrutieren, ausbilden und einsetzen, um sowohl unseren vitalen nationalen Interessen als auch der kooperativen Lösung globaler Probleme zu dienen. Größere Investitionen in die Entwicklungszusammenarbeit, die vorausschauend und in Partnerschaft mit einer glaubwürdigen lokalen Führung konzipiert werden, sind ebenfalls unerlässlich, sowohl für den Wiederaufbau nach Konflikten als auch zur Linderung negativer Umstände, die Konflikte überhaupt erst entstehen lassen.

Militärisches Eingreifen nur, wenn es zu positiven Ergebnissen beiträgt

Viertens müssen die USA, wenn die Umstände ein militärisches Eingreifen rechtfertigen, ihren Verpflichtungen aus der UN-Charta nachkommen. Wir müssen sicher sein, dass wir keinen Schaden anrichten und im Gegenteil in der Lage sind, zu positiven Ergebnissen beizutragen. Wir US-Amerikaner:innen müssen endlich die Lehren aus Vietnam, dem Balkan, Irak und Afghanistan ziehen: Der Einsatz militärischer Gewalt ohne ein tiefes Verständnis des spezifischen politischen, kulturellen, regionalen und geostrategischen Kontexts und ohne einen Plan zur Schaffung der Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden führt zu Fehleinschätzungen, langwierigen Einsätzen, übermäßigen Kosten in Form von Menschenleben und Ressourcen und, letztlich, zum Verfehlen der Ziele.

Der Zivilgesellschaft und insbesondere Frauenorganisationen kommt bei der Konfliktverhütung und -lösung eine entscheidende Rolle zu. Nation Building muss von den Bürgern der betreffenden Länder selbst vorangetrieben werden, mit einer legitimen staatlichen Führung, der Eindämmung der Korruption und mithilfe der grundlegenden Elemente der Rechtsstaatlichkeit. Externe Akteure, einschließlich der USA, können diese einheimischen Bemühungen technisch und finanziell unterstützen, sie aber nicht anführen.

Fairplay fördern und sich selbst an die Regeln halten

Fünftens: Wir sollten Fairness fördern. Wenn Amerika sein Handeln auf seine Grundwerte stützt, erwirbt es sich Glaubwürdigkeit und Respekt. Die Kombination aus Wertschätzung und greifbarer Unterstützung ist unerlässlich, um alte Freunde zu halten, neue zu gewinnen, effektive Koalitionen zu bilden und Ressentiments und Missverständnisse zu vermeiden. Um gemeinsame Normen, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit als Grundlage für globale Stabilität und Fortschritt voranzutreiben, muss sich Amerika selbst an die Regeln halten – ob es nun um die Gestaltung der Handelspolitik, den Einsatz unseres Militärs, die Inhaftierung und Befragung von Kriegsgefangenen oder die Nutzung globaler Umweltressourcen geht.

Und schließlich müssen wir unsere Stärke für wichtige Zwecke einsetzen. Amerika hat immense Möglichkeiten, um Leid zu lindern, Chancen zu erweitern und zum Aufbau einer wohlhabenderen und gerechteren Weltgemeinschaft und eines nachhaltigen Planeten beizutragen. Unsere Fähigkeit, Gutes zu tun, ist unvergleichbar. In Zusammenarbeit mit anderen können wir Millionen von Menschenleben retten, die heute Infektionskrankheiten zum Opfer fallen; wir können Millionen von Analphabet:innen unterrichten; Millionen junger Mädchen und Frauen Hoffnung und Gesundheit bringen und das unersetzliche Ökosystem unseres Planeten vor irreversiblen Schäden bewahren.

Schlussfolgerungen

Wie alle Supermächte in der Geschichte sehen sich die USA heute von anderen Weltmächten herausgefordert. In der Tat ist es unwahrscheinlich, dass wir in den kommenden Jahrzehnten die dominierende Macht bleiben. Außerdem können die globalen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, nicht von einer einzigen Nation bewältigt werden, egal wie stark, reich oder großzügig sie ist. Anstatt danach zu streben, unseren Status als einzige Supermacht der Welt zu bewahren, sollten die USA ihren Status als Großmacht nutzen, um die Gemeinschaft der Nationen in einem dringend notwendigen Prozess der Entwicklung eines neuen globalen Systems anzuführen. Eines globalen Systems, das auf der Koordination und Zusammenarbeit mehrerer Machtzentren und politischer Instanzen und Institutionen beruht.

Die USA müssen die wichtigsten Regionalmächte in bilaterale und gemeinsame Anstrengungen einbinden, um ein globales System zu entwickeln, das den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen kann. Dies ist eine enorm komplexe Aufgabe, und wir können sie nicht allein bewältigen. Aber ohne die Führungsrolle der USA wird es nicht gehen. Und wenn wir unsere Kraft nicht für dieses große Ziel einsetzen, wird unsere eigene Stärke weiter nachlassen.

Wir leben in einer komplexen und gefährlichen Welt. Der neue Test für eine Supermacht ist, wie gut sie sich um die globalen Interessen kümmert. Es ist Zeit für eine neue Vision von der Rolle der USA in der Welt, die auf der Einsicht beruht, dass das, was gut für die Welt ist, auch gut für uns ist.

 

1 Dabei geht es um Bedenken im Zusammenhang mit generativer Künstlicher Intelligenz, die nicht nur selbstlernend ist, sondern auch neues Wissen generieren kann, um einen Großteil der Tätigkeiten zu reproduzieren, die heute von Menschen erledigt werden.
2 World Population Yearbook 2019.
3 H.R. McMaster, Battlegrounds, 2018.

Stephen Heintz rund grau

 

Stephen Heintz ist seit 2001 Präsident und CEO des Rockefeller Brothers Fund (RBF). Die 1940 gegründete private Stiftung setzt sich für den Aufbau einer gerechteren, nachhaltigeren und friedlicheren Welt ein. Sie fördert Projekte und andere Aktivitäten in den USA und weltweit.

Das könnte Sie auch interessieren

Vorgestellt: Galip Dalay

Galip Dalay ist ein Wissenschaftler und Think-Tanker, der sich auf die Politik des Nahen und Mittleren Ostens sowie der Türkei spezialisiert hat. Er war IPC - Mercator Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), non-resident Fellow am...

Weiterlesen

Academy on Tour: Ein Blick auf das Rheinland und seine Metropolen

Die Vielfalt der Bundesrepublik kennenlernen und regionale Besonderheiten entdecken: Diese Zielsetzung führte sechs aktuelle Richard von Weizsäcker Fellows vom 21. – 23. Januar auf eine Academy on Tour durch das Rheinland. In Gesprächen mit Vertretern...

Weiterlesen

Forschung und Wirklichkeit im 21. Jahrhundert: „Die Zeit für eine neue Wissenschaft ist jetzt.“

Wie können Forschung und digitale Technologien der Welt bei der Lösung ihrer schwierigsten Probleme helfen?

Weiterlesen