Europa spielt das Faschismus-Spiel

Juli 2024

Das Wahlergebnis der Europawahl lässt sich nicht schönreden
von Ece Temelkuran

Europa spielt das Faschismus-Spiel - Meloni und von der Leyen

Die Europawahl ist vorbei. Wie ich von befreundeten Journalisten in Brüssel höre, herrscht in EU-Kreisen ein merkwürdiges Hochgefühl. Diese Freude beruht auf der Tatsache, dass die Rechtsextremen nicht vollständig an die Macht gekommen sind. Als ob Demokratie ein Spiel wäre, bei dem es um alles oder nichts geht.

Ich mag keine Gesellschaftsspiele. Vor allem Brettspiele meide ich um jeden Preis. Neulich jedoch, bei einem Treffen im Haus eines neuen Freundes, wurde ein Brettspiel mit einem solchen Tamtam auf den Tisch gebracht, dass es mir dann doch unpassend erschien, nicht mitzumachen. Das Spiel hieß Secret Hitler. Es ist ein Gesellschaftsspiel über den Faschismus, an dem meine Freundinnen und Freunde in der westlichen Welt – Deutsche, Franzosen, Amerikaner – seit einem Jahr ihre Freude haben. Als sie mir als Neuling die Regeln erklärten, waren sie zu schnell und nicht detailliert genug. Offenbar vertrauten sie voll und ganz auf mein Wissen über den Faschismus, wahrscheinlich weil ich ein Buch darüber geschrieben hatte. Es schien sie nicht zu stören, dass ich dieses Spiel bereits in der Türkei verloren hatte, und zwar auf spektakuläre Weise und bei hohem Einsatz, der zudem sehr real war.

Eine kurze Einführung für diejenigen, die sich für das Faschismus-Spiel interessieren: Es beginnt damit, dass die Mitspieler:innen aus verschlossenen Umschlägen ihre Parteikarten ziehen. Sie sind entweder ein Liberaler oder ein Faschist und niemand darf die politische Identität der anderen Spieler kennen. Ein Mitspieler erhält die Hitler-Karte und hält das geheim. Bevor das Spiel beginnt, schließen alle ihre Augen, und nur die Faschisten öffnen sie, um sich gegenseitig zu sehen. Anschließend gibt es eine weitere Runde mit geschlossenen Augen: Die Faschisten geben ein Handzeichen, damit Hitler weiß, wer in seinem Team ist. Danach ist es ein Spiel des Ratens und der Manipulation, um liberale oder faschistische Gesetze zu verabschieden und das Land zu regieren. Wenn ein Team genug Gesetze der eigenen politischen Richtung verabschiedet, hat es das andere Team besiegt. Anders als im wirklichen Leben halten sich die Faschisten an die Regeln, und sowohl Sieg als auch Niederlage sind eindeutig.

Wenn man so schlecht im Spielen ist wie ich, muss man wissen, wann und wie man den Tisch verlässt, um nicht als Spielverderber abgestempelt zu werden. Also zwang ich mich zu einer Runde, aber dann, vor der zweiten Runde, legte ich mein Parteibuch offen auf den Tisch und ruinierte das Spiel für alle. „Dieses Spiel ist unsinnig“, sagte ich, „und ich spiele nicht mit“. Meine faschistischen Kollegen seufzten in gespielter Verzweiflung, die Liberalen sagten „Ach, komm schon“. Doch ich musste offen sagen: „Es tut mir leid, aber das Spiel beruht auf einem historischen Fehler – als gäbe es nur Liberale, und der Faschismus kommt, wenn alle die Augen offen haben.“ Ein Freund stellte das Offensichtliche fest: „Meine Liebe, du nimmst das Spiel zu ernst.“ Nun, das tue ich. Denn wenn einige Erwachsene aus unserem Leben ein Spiel machen, endet alles in völliger Dunkelheit. Und gerade tut Europa so, als ob es sich an diese Tatsache nicht erinnern könnte, oder Europa spielt das Faschismus-Spiel mit, um nicht der Spielverderber zu sein. 

Kein Widerstand gegen Rechts
Die Rechtsextremen haben im Europäischen Parlament eine herausragende Stellung erlangt, vielleicht sogar als Königsmacher. 
Schon vorab haben paneuropäische Rechtsextremisten-Gipfel versprochen, dass sie als eine einheitliche Front in der politischen Institution agieren könnten, die mitbestimmt, wie sich Europa im kommenden Jahrzehnt entwickeln wird. Wie bei dem Spiel Secret Hitler nennen sie sich selbst nicht Faschisten, aber für Erwachsene mit offenen Augen sind einige solche Merkmale durchaus erkennbar. 

Damit meine ich nicht den Mussolini-Gruß der italienischen Ministerpräsidentin und Parteivorsitzenden der Fratelli d’Italia, Giorgia Meloni, oder ihr, wie sie selbst sagt, „ungetrübtes Verhältnis zum Faschismus“. Die entscheidenden Schritte, wenn es darum geht, das europäische Schiff in Richtung Autoritarismus zu steuern, sind weniger spektakulär. Doch für diejenigen, die Militärstiefel sehen müssen, um einen Faschisten zu erkennen, will ich eines klarstellen: Der Faschismus muss nur dann brutale Gewalt anwenden, wenn es einen organisierten, robusten Widerstand gegen ihn gibt, und den haben wir heute nicht. 

Was wir haben, sind die herzlichen Umarmungen von Ursula von der Leyen mit Meloni, die den Einsatz erhöht und sich an die Spitze des rechtsextremen Europas setzt, und eine schwache Mitte, die sich nicht mehr an das Prinzip hält, nicht mit der extremen Rechten zu kooperieren. Aber warum sollte man sich nicht umarmen, wenn die Entmenschlichung von Ausländer:innen durch die Rechtsextremen bereits von Brüssel und London geteilt wird? 

Warum nicht zusammenarbeiten, wenn die Missachtung der Menschenrechte durch die Rechtsextremen und ihr Hass auf die Linken die politische Mitte nicht beunruhigen? Gibt es denn noch eine Demokratie, die vor den Rechtsextremen geschützt werden muss, wenn doch alle Meinungsumfragen zeigen, dass das Vertrauen in die Demokratie am Boden liegt? Und wen interessiert das eigentlich wirklich? 
Spätestens seit der letzten Münchner Sicherheitskonferenz wissen wir, dass das Versprechen, gegen Putin vereint zu sein, der politischen Führungsriege einen Freifahrtschein für die Gefährdung der Demokratie in ihren Ländern gibt. 

Bei der Rettung Europas geht es jetzt nicht mehr um die Stärkung der Demokratien oder die Unantastbarkeit der Menschenrechte, sondern um den Schutz der physischen Grenzen. Es wird ein Gesellschaftsspiel gespielt, bei dem alle Mitspielenden glauben sollen, dass Liberale, die neoliberale Politik machen, Wohlstand bringen können. Wenn seit 2008 überhaupt noch jemand daran glaubt.

Europa war einst in der Lage, trotz all seiner Sünden jenseits seiner Grenzen, als Inspiration für die Progressiven in der Welt zu dienen. Eine Geschichte ist ziemlich aufschlussreich, wenn es darum geht, wie tief diese Inspiration geht. Im Jahr 1939, als der Krieg Europa zu verschlingen drohte, komponierte Joaquín Rodrigo sein berühmtes Gitarrenkonzert „Concierto de Aranjuez“. Als sein Werk zum ersten Mal aufgeführt wurde, war der Zweite Weltkrieg in vollem Gange. Viele hörten den zweiten, traurigen Teil des Konzerts als eine Elegie auf Guernica. Jahre später, als Europa gerade dabei war, sich von Grund auf neu aufzubauen, wurde 1947 in Ankara, der Hauptstadt der Türkischen Republik, ein Junge geboren. Er sollte zur beliebtesten revolutionären Figur seines Landes heranwachsen und seinen Namen in die weltweite linke Bewegung der 60er Jahre einbringen. 

Deniz Gezmiş, ein großer, gutaussehender junger Mann, war erst 25 Jahre alt, als er 1972 vom Militärregime gehängt wurde. Bevor er zum Galgen ging, wollte er ein letztes Mal das Konzert von Rodrigo hören. Doch während er seine letzte Zigarette rauchte und Musik hörte, bereitete sich Europa darauf vor, seine eigenen Bestandteile zu amputieren. Bestandteile, die es einzigartig machten und viele Revolutionäre auf der ganzen Welt inspirierten, wie Deniz Gezmiş. 

Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch diejenigen, die vor dem Krieg in vorderster Linie gegen den Faschismus gekämpft hatten, Kommunisten und Sozialisten, in jedem europäischen Land bereits aus der Geschichte herausgeschrieben – wie wir im Spiel Secret Hitler gesehen haben. Die neue neoliberale Ordnung sollte den allmählichen Verfall von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit mit sich bringen, was schließlich zur Entstehung mehrerer Guernicas beitrug. Diese Guernicas bekamen kein Konzert als Elegie, denn sie befanden sich außerhalb der Grenzen Europas, und ihre Namen waren Bagdad, Kabul, Damaskus und Gaza.

Europa, von Aristoteles bis Rosa Luxemburg oder von Voltaire bis Karl Marx, hat den Menschen in Asien und Afrika politische und kulturelle Orientierung gegeben. Die frühen säkularen und fortschrittlichen Bewegungen im größten Teil der Welt ließen sich von der Aufklärung verzaubern und kritisierten Europa aus einer antikolonialen Perspektive. Generationen wuchsen mit der Lektüre von Montaigne auf, genossen Mozart und lasen die Abschriften der Ersten Internationale, während sie gleichzeitig einen robusten Widerstand gegen den Imperialismus aufbauten. 

Jahrzehntelang fanden sie in den europäischen Städten Zuflucht, wenn sie von den unterdrückerischen Regimen in ihren Ländern inhaftiert oder gefoltert zu werden drohten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts füllten ihre Enkelinnen und Enkel die Plätze auf dem Tahrir, in der Kasbah in Tunis oder im Gezi-Park in Istanbul und riefen den autoritären Regimen die zentralen Begriffe der Französischen Revolution entgegen, die einst den moralischen und politischen Kompass Europas bilden sollten: Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde.

Doch nun beobachten diese Menschen den Zerfall des europäischen Kontinents mit gemischten Gefühlen – einerseits mit ein bisschen Schadenfreude und andererseits mit echter Traurigkeit. Was sie am meisten überrascht, ist, dass mit Europa das geschieht, was ihnen selbst geschehen ist. Es ist wie in einem Spiel, bei dem die Spieler die Augen schließen, um so zu tun, als wüssten nicht, was passiert. 

Weil Europa sein Image als Zufluchtsort für die Progressiven der Welt hinter sich lässt, sieht die künftige Geschichte düster aus – so düster, wie wenn man die falsche Person umarmt und niedergestochen wird, nur weil man geglaubt hat, dass dies ein gemeinsames Spiel ist, das man mit geschlossenen Augen spielt.

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