Vorgestellt: Karolina Wigura

März 2022

Karolina Wigura ist Historikerin, Soziologin und politische Redakteurin von Kultura Liberalna, Polens führender politischer und kultureller Online-Wochenzeitung.

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Woran arbeiten Sie als Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy?

Ich begann mein Fellowship mit einem Projekt über post-pandemische Emotionen aus einer globalen Perspektive gesehen. Ich bezeichne diese kollektiven Gefühle nicht etwa als „post-pandemisch“, weil das Coronavirus Vergangenheit ist. Vielmehr will ich damit betonen, dass die Präsenz von Covid-19 bereits eine grundlegende Veränderung in unserem kollektiven Zusammenleben bewirkt hat. Die Emotionen, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind und die sich verstärkt haben, werden uns noch lange begleiten.

Die Emotionen nach der Pandemie sind nach wie vor ein wichtiger Teil meines Interesses während meiner Zeit in Berlin, doch mit der sich verändernden politischen Situation kam ein weiterer Interessenbereich in meiner Forschung hinzu: nämlich die kollektiven Emotionen der Region Mittel- und Osteuropa mit ihrer komplizierten und oft traumatischen Vergangenheit. Vor allem der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat von Warschau bis Riga und von Tallin bis Vilnius ein starkes Gefühl der Beunruhigung ausgelöst.

Ich versuche, die stärksten kollektiven Emotionen, die unsere soziale und politische Realität prägen, zu erfassen und zu beschreiben und einen Blick auf die möglichen Zukunftsszenarien zu werfen.
 

Welches sind die wichtigsten Themen in Ihrem Bereich?

In seinem bahnbrechenden Buch „The Passions and the Interests“ (deutscher Titel: „Leidenschaften und Interessen“) behauptete Alfred Hirschman, dass sich die menschliche Geschichte wie ein Pendel bewegt, von rational zu leidenschaftlich – und zurück. Die Trends in der Weltpolitik lassen den Schluss zu, dass wir uns derzeit in der zweiten dieser beiden Phasen befinden. Die ernsten Herausforderungen und dramatischen Umstände, die in den letzten Monaten und Jahren zu unserem Alltag gehörten – die Covid-19-Pandemie, der Einmarsch der Russen in der Ukraine – machen kollektive Emotionen zu einem noch wichtigeren Aspekt als zuvor.
 

Wie wird der russische Einmarsch in die Ukraine die Rolle von Emotionen in der Politik verändern?

Der russische Einmarsch in die Ukraine wird diese Emotionen aus mehreren Gründen tiefgreifend beeinflussen: In Mittel- und Osteuropa, hier liegt der Fokus meines Interesses, hat die russische Invasion kollektive, in der Geschichte verwurzelte Ängste verstärkt.

Jedoch wird selten erwähnt, dass die Ost- und Mitteleuropäer ein besonderes ängstliches Selbstverständnis haben. In den Arbeiten, die ich gemeinsam mit Jaroslaw Kuisz verfasst habe, nannten wir dies „nervöse Souveränität“. Für die mittel- und osteuropäischen Nationen ist nationale Souveränität im Gegensatz zum Westen keine Quelle der Stabilität, sondern mit einem kollektiven Trauma verbunden. Diese Nationen, die in ihrer Geschichte mit der Erosion ihrer Staatlichkeit, der Aufteilung ihrer Territorien und den hegemonialen Bestrebungen externer Mächte zu kämpfen hatten, interpretieren den Krieg in der Ukraine oft anders. Während der Westen ihn als ein dramatisches Ereignis betrachtet, sehen die mittel- und osteuropäischen Staaten ihn als eine weitere Etappe einer längeren russischen Strategie der Teilung und der gewaltsamen Einflussnahme, die letztendlich für die gesamte Region gefährlich sein kann.

Diese unterschiedlichen Interpretationen können eine tiefgreifende Bedeutung für die Zukunft der Beziehungen zwischen den Gegnern von Wladimir Putin haben, zum Beispiel innerhalb der NATO.
 

Welche Erkenntnisse für Ihre Arbeit erhoffen Sie sich von Ihrem Fellowship?

Ich werde mich während des Fellowships folgenden Fragen widmen: Was sind die wichtigsten kollektiven Emotionen der heutigen Weltpolitik? Wie kann man sie verstehen und mit ihnen arbeiten? Wie können wir auf kollektive Emotionen auf eine Weise reagieren, die im Kontext der heutigen Technologien relevant ist? Wie kann man am besten mit den Bürgern kommunizieren? Wie kann man verhindern, dass die Populisten auf den negativen Emotionen der Krise aufbauen? Wie können wir die Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien verhindern? Und nicht zuletzt: Wie können liberale Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine robuste Zivilgesellschaft gestärkt werden?
 

Was macht Berlin und Deutschland so wichtig für Ihre Arbeit?

Berlin ist ein außergewöhnliches Umfeld, in dem ich nicht nur von Menschen und Institutionen lernen kann, die mir bereits bekannt sind, wie dem European Council of Foreign Relations (ECFR), dem Wissenschaftskolleg und dem Zentrum Liberale Moderne, sondern auch von solchen, mit denen ich bisher noch keinen Kontakt hatte. Einige der neuen Initiativen und Institutionen, mit denen ich bereits nach meiner Ankunft in Berlin als Fellow der Robert Bosch Academy zusammengearbeitet habe, sind das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), der Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ an der Freien Universität Berlin (FU) oder der Exzellenzcluster „Contestation of the Liberal Script“ (SCRIPTS) an der FU.

Ein wesentlicher Teil dieses außergewöhnlichen Umfelds sind die Academy und Berlin selbst. Hier habe ich die Möglichkeit zum aktiven Austausch mit den anderen Fellows sowie der großen Community der Alumni. Dadurch kann ich nicht nur meine Forschung und deren Ergebnisse bereichern, sondern auch Wissen über kollektive Emotionen in der Politik weitergeben.

Nicht zuletzt ist es für mich von großer Bedeutung, die deutsche Politik in diesen Monaten zu beobachten. Die neue Regierung und ein wichtiger Wechsel im Stil der Kanzlerschaft, die Reaktion Deutschlands auf den Einmarsch Russlands in der Ukraine – all das sind Beispiele für Geschichte, die sich vor unseren Augen abspielt. Ich fühle mich sehr privilegiert, dass ich die Möglichkeit habe, diese Entwicklungen aus der Nähe zu beobachten.

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