Vorgestellt: Galip Dalay

Juni 2020

Galip Dalay ist ein Wissenschaftler und Think-Tanker, der sich auf die Politik des Nahen und Mittleren Ostens sowie der Türkei spezialisiert hat. Er war IPC - Mercator Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), non-resident Fellow am Brookings Doha Centre sowie Gastdozent an der Universität Oxford.

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Woran arbeiten Sie als Fellow an der Robert Bosch Academy?

Die meisten Studien, die sich mit dem Nahen Osten und seinen internationalen Beziehungen beschäftigen, schauen von außen auf die Region. Diese Studien betrachten in der Regel, wie internationale Prozesse den Nahen Osten formen. Die Region wird also als Objekt globaler Prozesse und Entwicklungen gesehen. In dieser Wahrnehmung fehlt ihr die politische Handlungsmacht. Ich möchte die umgekehrte Perspektive einnehmen und vom Nahen Osten nach außen blicken: Meine Untersuchung stellt die Frage, wie Entwicklungen, Veränderungen und (Un)Ordnung im Nahen Osten globale Prozesse und die Debatten über die internationale Ordnung beeinflussen. Dabei lege ich einen besonderen Schwerpunkt auf Europa. Aufgrund der geografischen Nähe und der demographischen Verflechtungen werden sich Europa und der Nahe Osten gegenseitig beeinflussen – im Guten und im Schlechten. Es gibt eine enge gegenseitige Abhängigkeit zwischen der regionalen Unordnung im Nahen Osten und der Transformation im europäischen politischen Raum.

Deshalb untersuche ich während meiner Zeit an der Robert Bosch Academy, wie diese Entwicklungen im Nahen Osten den politischen Raum in Europa beeinflussen. Eines der Hauptziele meines Projekts ist es, einen intellektuellen Beitrag zur Debatte über die Entwicklung einer Europäischen Nahostpolitik zu leisten; einer Politik, die nach vorne schaut und nicht nur von Krisen getrieben wird oder lediglich reagiert. Meine Herangehensweise ist von Werten und Prinzipien unterfüttert und somit nicht rein transaktionsorientiert.

Mit welchen Erkenntnissen rechnen Sie während Ihres Fellowships?

Ich werde einen Teil meiner Zeit und meiner Energie in Forschung investieren. Darüber hinaus werde ich mit einer ganzen Reihe von deutschen und europäischen Wissenschaftlern, Entscheidungsträgern und Experten Kontakt aufnehmen, die ihren Fokus auf Europa und den Nahen Osten legen, vor allem aus der Außen- und Sicherheitspolitik. Dafür ist das gute Netzwerk der Academy unter politischen Entscheidungsträgern und in der intellektuellen Community besonders hier in Berlin ein großer Vorteil. Ich möchte nicht nur verstehen, was die europäische Politik gegenüber dem Nahen Osten auf der EU-Ebene und in den Hauptstädten Europas prägt, sondern auch, wie sie begründet wird und wie ihr Framing ist.

Was sind die dringendsten Probleme im Nahen Osten? Und ist die Sichtweise auf diese Frage in Deutschland oder Europa eine andere als in der Region selbst?

In Europa drehen sich die Nahost-Debatten in exzessiver Weise um Fragen wie Flüchtlinge oder Terrorismus, insbesondere wenn es um krisengeplagte Länder wie Syrien, Libyen und Jemen geht. Als Antwort bietet Europa deshalb Maßnahmen zur Eindämmung der Flüchtlingszahlen und zur Terrorismusbekämpfung an. Flüchtlinge und Terrorismus sind jedoch nur die Symptome von tieferliegenden Krankheiten, an denen die Region leidet. Der Nahe Osten erlebt eine Serie von miteinander verketteten Krisen. Diese Krisen betreffen Fragen der Staatsangehörigkeit, der Regierungsführung und der Legitimität. Sie betreffen auch den Zusammenbruch von Staatlichkeit, demographischen Jugendüberschuss, ökonomische Fehlentwicklungen und einen nicht funktionierenden Sozialvertrag zwischen den Staaten und ihren Gesellschaften. Das Ergebnis all dieser Krisen ist der Zusammenbruch staatlicher Autorität, Fragmentierung, eine immer stärker wachsende Zahl von Geflüchteten und die Herausbildung von Milizarmeen und terroristischen Gruppen in der gesamten Region.

Europa scheint seine politischen Prioritäten auf die letzten beiden Themenfelder zu legen. Das ist bis zu einem gewissen Ausmaß verständlich, weil diese Themen den größten unmittelbaren Einfluss auf die europäische Politik, die Gesellschaften in Europa und die europäische Sicherheit haben. Dennoch lassen sich die Probleme Flucht und Vertreibung und das Problem Terrorismus nicht lösen, indem man sich ausschließlich auf sie fokussiert und über sie redet. Europa muss in der Region einige grundlegende politische Entscheidungen treffen und nicht bloß zwischen verschiedenen Einzelpolitiken wählen.

Wie wird sich die Corona-Pandemie höchstwahrscheinlich auf die (Un)Ordnung und die Dynamik der Konflikte im Nahen Osten auswirken?

Für die Konfliktzonen im Nahen Osten wie Syrien, Jemen oder Libyen hätte die Coronavirus-Pandemie nicht zu einem schlimmeren Zeitpunkt kommen können. Obwohl der UN-Generalsekretär im März zu einem universellen Waffenstillstand aufgerufen hat, gehen diese Konflikte weiter und ein Ende ist nicht in Sicht. In einer Zeit, in der gemeinsames Handeln nötig ist, um die Pandemie auszumerzen, setzen die Kriegsparteien in den Hot Spots der Region immer noch auf eine militärische Lösung ihrer Konflikte.

Jahrelange Kriege und Verwüstung haben in diesen Konfliktzonen zu einer Fragmentierung von Souveränität geführt, die staatliche Handlungsfähigkeit eingeschränkt und die Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen zerstört. Weil sie nicht über die notwendigen Mittel für eine gesundheitliche Grundversorgung und Test-Kits verfügen, sind die übriggebliebenen Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen in keiner Weise dafür ausgestattet, eine Gesundheitskrise von diesem Ausmaß zu bewältigen. Viele Wissenschaftler sind auch der Ansicht, dass die Spaltung der Staaten in der Region die Auswirkungen der Pandemie verschlimmert und ihre Bekämpfung erschwert – insbesondere in den Konfliktstaaten. Gleichermaßen hat die Reaktion der verschiedenen Gruppen und Konfliktparteien auf COVID-19 die Spaltung noch vertieft.

Trotz der schädlichen Auswirkungen der Pandemie ist es unwahrscheinlich, dass COVID-19 ein wichtiger Einflussfaktor für die Konfliktdynamiken in der Region wird. Stattdessen wird die Pandemie die ohnehin bereits verheerenden Folgen der Kriege noch verschlimmern und die Mittel und Handlungsmöglichkeiten der Staaten weiter beschränken, ihre Souveränität weiter aushöhlen und die gewaltsamen Auseinandersetzungen um Ressourcen weiter anfachen. Und weil staatliche und sub-staatliche Gruppen über keinerlei wirtschaftliche und finanzielle Rücklagen verfügen, um sich mit den negativen Auswirkungen von COVID-19 zu befassen, wird sich dieser Kampf um Ressourcen nur noch verschärfen.

Sprechen wir abschließend über Berlin. Was gefällt Ihnen an der Stadt und was ist Ihr Lieblingsort?

Eines der Dinge, die mir an Berlin am meisten gefallen, ist seine lebendige Verbindung mit der Geschichte. In Berlin ist die Geschichte keine Sache der Vergangenheit. Sie gehört zur Gegenwart und Zukunft. Sie ist ein lebendiges Wesen, das sich sichtbar in der Architektur widerspiegelt. Sie bestimmt auch aktuelle Diskussionen mit. Es gibt wenige Städte auf der Welt, in denen Geschichte, Gegenwart und Zukunft so sichtbar und eng miteinander verwoben sind. Ich habe großes intellektuelles Interesse an Geschichte und wie sie die Gegenwart und den Diskurs über die Zukunft formt. In dieser Hinsicht ist Berlin die ideale Stadt.

Es gibt jedoch einen Ort in Berlin, der sicherlich nicht für viele Menschen ein Highlight ist – aber für mich ist er etwas ganz Besonderes: Das ist ein kleiner Park nah am Schloss Charlottenburg. Es ist der Park meines Herzens. Denn dort habe ich meine jetzige Frau Zehra Senem Dalay gefragt, ob sie mich heiraten will, und ihr wunderbares „Ja“ als Antwort gehört. Der Park ist unser ganz spezieller Ort und er wird es immer bleiben.

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