Einsatz für ein nachhaltiges Bildungssystem der Zukunft
Das Bildungssystem in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Wie der Bereich Bildung der Robert Bosch Stiftung arbeitet, um Schulen bei ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen und zukunftsfähiges Lernen zu fördern, erklärt Dr. Dagmar Wolf, Leiterin des Bildungsbereichs.
Ein Gespräch mit Dr. Dagmar Wolf
Henry Alt-Haaker: Der Bildungsbereich ist einer der drei Fördergebiete der Stiftung, und in Deutschland mit vielen Projekten sehr sichtbar. Meine erste Frage bezieht sich auf die deutsche Bildungslandschaft. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt und sehr stolz auf das Image als „Land der Dichter und Denker“. Wie schätzt du die Qualität des deutschen Bildungssystems ein und wie würdest du die aktuellen Debatten einordnen?
Dr. Dagmar Wolf: Das deutsche Bildungssystem befindet sich momentan in einer schwierigen Situation. Es hat im internationalen Vergleich nicht die Leistungsfähigkeit, die wir uns wünschen würden. Gleichzeitig befinden wir uns in einer Stagnation der Entwicklung und haben nicht wirklich eine Idee, wie wir das System zukunftsfähig weiterentwickeln können. Hinzu kommt, wie in vielen anderen Industrienationen auch das Problem, dass der Lehrberuf an Attraktivität verliert. Das führt zu einem großen Fachkräftemangel im Bereich Bildung und Erziehung. Viele Schulen müssen Stunden kürzen. Schon jetzt muss auf Quer- und Seiteneinsteiger zurückgegriffen werden. Das Personalproblem wird sich deutschlandweit noch verstärken, weil in den nächsten Jahren viele Lehrkräfte in den Ruhestand gehen und geburtenstarke Jahrgänge neu in das Schulsystem kommen werden. Trotz der Nachqualifizierung von Quereinsteigern muss es ein Ziel bleiben, genügend grundständige Lehrkräfte auszubilden und ein System aufrechtzuerhalten, das mit Fachkräften operiert. Aus einer Professionstheorie heraus ist es extrem wichtig, dass wir Menschen, die sowohl das fachliche wie auch das didaktische Wissen haben, in den Schulen als Lehrkräfte einsetzen.
Bundesweit fehlen mehr als 12.000 Lehrkräfte, wobei die Situation in den Bundesländern sehr unterschiedlich ist. Wie steht es um die Ungleichheit im deutschen Bildungssystem, sowohl regional als auch was die Herkünfte der Eltern und Kinder angeht? Sind wir da auf einem guten Weg?
Seit der ersten Pisa-Erhebung vor über 20 Jahren, wird uns jedes Mal klar von der OECD bescheinigt, dass wir ein großes Problem in Sachen Bildungsgerechtigkeit in Deutschland haben. Fakt ist, dass Kinder mit einer oder mehreren Risikolagen deutlich schlechtere Bildungschancen haben als Kinder aus bildungsnahen Haushalten. In den Stadtstaaten und auch in Nordrhein-Westfahlen leben deutlich mehr Kinder und Jugendliche von staatlichen Transferleistungen und sind dementsprechend natürlich auch stärker bildungsbenachteiligt. Man muss aber auch sehen, dass sich in vielen Regionen die Zusammensetzung der Kinder und Jugendlichen extrem verändert. Baden-Württemberg hat beispielsweise in den letzten Jahren deutlich mehr Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung aufgenommen als andere Bundesländer und daher in nationalen Bildungsleistungsvergleichen schlechter abgeschnitten. Viele unterschiedliche Startchancen im Schulsystem müssen auch erstmal aufgefangen werden.
Ist das durch die 200.000 ukrainischen Kinder, die in das Schulsystem integriert werden mussten noch verstärkt worden oder gehört diese eher zu einer Gruppe, die relativ leicht integrierbar war?
Wir haben ja nicht nur Kinder aus der Ukraine aufgenommen. Im gleichen Zeitraum sind zusätzlich fast genauso viele Kinder und Jugendliche mit einer anderen Migrationsgeschichte nach Deutschland gekommen. Das heißt, wir haben im deutschen Schul- und Erziehungswesen etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche aufgenommen. Für unser Bildungssystem ist das eine riesige Herausforderung und gleichzeitig eine Riesenleistung. Trotz der Defizite des Systems passiert viel, auch und vor allem durch das persönliche Engagement von Lehrkräften und Personen, die sich im System verantwortlich für die Kinder und Jugendlichen fühlen.
Wir sind eigentlich davon ausgegangen, dass die ukrainischen Kinder und Jugendliche auf Grund der Tatsache, dass sie aus einem uns ähnlichen Schulsystem kommen, schnell integrierbar sind. Jetzt stellen wir fest, dass das nur teilweise so ist und diese Kinder und Jugendlichen extrem unter dieser Fluchterfahrung leiden. Hinzu kommt die Unsicherheit, wie ihre Perspektiven in Deutschland sind. Seitens des ukrainischen Bildungsministerium werden gegenüber diesen Kindern klare Erwartungen formuliert, indem ihnen immer wieder gesagt wird, dass man erwartet, dass sie nach Kriegsende zurückkommen und beim Wiederaufbau mithelfen.
Die Schulen stellen vermehrt fest, dass diese Schüler:innen ein extremes Motivationsproblem haben. Macht es Sinn Deutsch zu lernen? Wie lange brauche ich das, wie lange bin ich überhaupt hier? Damit haben wir alle nicht gerechnet und das bringt das System an den Rand und hat sehr viele verschiedene Auswirkungen auf das Verhalten der Schüler:innen, die die Schule in irgendeiner Weise auffangen muss.
Das zeichnet ein dunkles Bild ab. Kommen wir jetzt zu euren Ansätzen, die Situation zu verbessern. Was ist die Strategie des Bildungsbereichs? Welches Verständnis habt ihr von Bildung und welche Altersgruppen erreich ihr? Wo setzt ihr an und was sind eure Schwerpunkte?
Der Bildungsbereich ist der Bereich in der Stiftung, der mit seinen Programmen nur national arbeitet. Unsere Zielgruppen sind vor allem die Kita, die Grundschule und die Sekundarstufe. Unser Ziel ist es, mit unseren Angeboten das Bildungssystem zu unterstützen, besser zu werden und das Thema Chancengerechtigkeit tatsächlich auch verfolgen zu können. Dazu nutzen wir verschiedene Ansätze.
Mit dem Deutschen Schulpreis wollen wir gute Schulpraxis sichtbar und erfahrbar machen, um so anderen die Möglichkeit zu geben, sich an dieser guten Praxis zu orientieren und für sich selbst Ideen ableiten zu können. Dazu suchen wir kriteriengeleitet gute Schulen, die wir in einem mehrstufigen Jury-Verfahren auswählen, prämieren und nachher mit den Konzepten dieser Schulen diese gute Praxis sichtbar machen. In der Bildungslandschaft ist inzwischen bekannt, dass man in den Schulpreisschulen hospitieren kann und so erlebt, was gute Schule ausmacht. Durch die Hospitationen ermöglichen wir auch einen Austausch zwischen den Bundesländern, weil Lehrkräfte dann auch die Möglichkeit haben, sich eine Schule in einem anderen Bundesland anzuschauen.
In einem weiteren Schritt arbeiten wir mit Wissenschaftler:innen, erfahrenen Schulpraktikern und überzeugenden Konzepten aus Preisträgerschulen oder dem Ausland ko-konstruktiv mit Bundesländern an passgenauen Angeboten zur Schul-, Unterrichts- und Führungskräfteentwicklung. Diese pilotieren und evaluieren wir dann mit unseren eigenen Trainer:innen mit dem Ziel, sie anschließend in den jeweiligen Ländern ins System zu skalieren.
Ein konkretes Beispiel ist ein Programm zur Sicherung der Basiskompetenzen in der Grundschule. Lesen, Schreiben und Rechnen bildet die Grundlage für alles weitere schulische Lernen, aber aktuell hat nur ein Fünftel der Grundschüler diese Kompetenz am Ende der Grundschule nach vier Jahren erreicht. Wir haben hierfür mit Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein ein Programm entwickelt, das Grundschulen zusammenbringt. Vier bis fünf Grundschulen bewerben sich mit ihrer Schulaufsicht und arbeiten dann gemeinsam an Konzepten zur Sicherung der Basiskompetenzen an ihren Grundschulen. Wir unterstützen sie dabei mit inhaltlichen Angeboten und Vernetzungstreffen. Diese vier bis fünf Grundschulen bilden eine Schulfamilie, in der sie bestenfalls permanent weiter zusammenarbeiten. Und jetzt kommt das Internationale ins Spiel: Das Modell der Schulfamilien ist ein internationales Modell, das vor allem in Kanada, Neuseeland und Australien umgesetzt wird und das wir adaptiert haben.
Wie wichtig der Schulpreis ist, zeigt ja auch, dass unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihn dieses Jahr übergibt.
In den letzten Jahren haben Bundespräsident oder die Kanzlerin im Wechsel den Preis übergeben. Für die Schulen ist das eine unglaubliche Wertschätzung. Aber auch für Politiker:innen sind das schöne Termine, weil sie öffentlich zeigen, dass gute Schule gelingen kann. Wir nutzen die politische Prominenz, um politische Botschaften zu platzieren
Du hast erläutert, warum ihr euch auf das deutsche Bildungssystem fokussiert, aber gleichzeitig natürlich international schaut, wo wir von anderen Ländern lernen können und wo wir schauen: was ist wie übertragbar und wo vergleichen wir Äpfel mit Birnen? Vor einer Weile habt ihr eine Lernreise in die USA gemacht, wo euch auch unser Fellow Dennis Shirley begleitet und unterstützt hat. Wir kennen die USA als großer Vorreiter und Land mit den besten Universitäten der Welt aber leider weniger als Vorreiterin in der schulischen Bildung. Was habt ihr gelernt und mitgenommen?
Auf der USA-Reise haben wir uns vor allem mit dem Thema digitale und KI-gestützte Bildung beschäftigt. Wir kamen gerade zu der Zeit, als Chat GPT in der breiten Öffentlichkeit richtig wahrgenommen wurde, und es war spannend, in Stanford zu sehen, wie chancenorientiert dieses Thema dort gesehen wird. Es ist utopisch zu denken, dass Schülerinnen und Schüler dieses Instrument nicht nutzen. Deshalb müssen wir ihnen die Kompetenzen vermitteln, um einschätzen zu können: Ist das, was uns Chat GPT liefert, tatsächlich richtig und wie muss ich es einordnen? In den USA wird es sehr viel kreativer und ein Stück weit sorgloser eingesetzt als in Deutschland. Die Diskussion war auch schon einen Schritt weiter, wenn es um Leistungsmessung und -bewertung im universitären und schulischen Bereich geht, und was das für die Anforderungen, die wir an Lernende stellen müssen, heißt. Natürlich gibt es aber auch Risiken, die wir sehen und diskutieren müssen.
Wenn du über Technologie in der Schule sprichst, frage ich mich, ob wir im deutschen Bildungssystem überhaupt so weit sind, diese wichtige Zukunftsfrage zu stellen. Wenn ich über unsere Schulen lese, dann lese ich eher über ganz banale bauliche Probleme bis hin zur Tatsache, dass Schüler:innen sich ekeln, auf die Toilette zu gehen und darunter auch gesundheitlich leiden. Machen wir da den zweiten Schritt vor dem ersten?
Ich glaube, dass wir die Frage so nicht stellen dürfen. Das deutsche Bildungssystem muss sich gleichermaßen mit allen Herausforderungen befassen. Dazu gehört eine lernförderliche Architektur, aber auch Fragen wie: Was brauchen Kinder und Jugendliche, um gut Lernen zu können? Was kann ich als Lehrkraft leisten und wo brauche ich Unterstützung?
Da müssen wir als Schulen besser werden. Daran schließt sich auch als Thema an, wie zukünftiges Lernen aussieht und was unsere Kinder brauchen, um in zwanzig Jahren in einer Welt, von der wir nicht wissen, wie sie aussieht, zu bestehen. Und wir müssen ein Schulsystem weiterentwickeln, das in der Lage ist, Kinder aufzunehmen, weil wir weiterhin mit Zuwanderung konfrontiert sind und Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Leistungs- und Wissensständen haben werden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Henry Alt-Haaker leitet den Bereich Strategische Partnerschaften und Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung.
Dr. Dagmar Wolf ist Bereichsleiterin Bildung der Robert Bosch Stiftung. Ihr Bereich ist unterteilt in die Themen „Lernen des Individuums“ und „Lernen der Organisation“.
Wie die Robert Bosch Stiftung im Bereich Bildung arbeitet
Das Deutsche Schulbarometer
Quarterly Perspectives
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