Die Welt wird ein anderes Amerika sehen
Der Stil und die politischen Themen der Regierung unter Joe Biden werden vollkommen anders aussehen als in den vergangenen vier Jahren. Aber die neue Administration steht vor schwierigen Fragen: NATO, China, Russland, Abzug der Truppen aus Deutschland und das aufgekündigte Nuklearabkommen mit dem Iran.
Interview mit Steven Pifer
Henry Alt-Haaker: Lieber Steven, wir freuen uns schon darauf, dich in den ersten wichtigen Monaten des neuen US-Präsidenten bei uns in der Robert Bosch Academy begrüßen zu dürfen. Und danke, dass wir vorab dieses Gespräch zu den anstehenden Herausforderungen für die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik führen können.
Joe Biden steht großen innenpolitischen Aufgaben gegenüber. Wie viel Aufmerksamkeit wird er der Außenpolitik überhaupt widmen können?
Steven Pifer: Joe Biden wird sich zunächst auf die Innenpolitik konzentrieren. Hier gilt es die Pandemie zu bekämpfen und anschließend die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Außerdem steht er vor einer weiteren großen Herausforderung: Kann er die wachsende gesellschaftliche und politische Kluft überbrücken, die sich in den vergangenen vier Jahre gebildet hat. Biden gehört der alten Garde des Senats an und hat Erfahrung darin, parteiübergreifend zu arbeiten. Er wird versuchen, Republikaner zu finden, mit denen er Gesetze verabschieden und die Kluft zwischen den Lagern verkleinern kann.
Aber Joe Biden weiß natürlich auch, dass die Welt sich weiterdreht, während wir zuhause aufräumen. Und er ist bereit, anzupacken. Das lässt sich auch an der geplanten Zusammensetzung seines Kabinetts ablesen. Sein Kandidat für den Posten des Außenministers, Tony Blinken, arbeitet beispielsweise bereits seit 20 Jahren für den gewählten Präsidenten. Wer Blinken später als Außenminister sprechen hört, wird in seinen Worten den Präsidenten erkennen. Joe Biden hat seinen Stab mit großem Fachwissen und viel Erfahrung zusammengestellt. Dadurch kann er, wenn er sich um innenpolitische Themen kümmert, eine außenpolitische Richtung vorgeben und auch darauf vertrauen, dass seine Vorgaben umgesetzt werden.
Ich denke, die Welt wird einen klaren Unterschied erkennen zwischen der Präsidentschaft Bidens und den vier Jahren davor. Präsident Donald Trump sah sein unberechenbares Verhalten als Vorteil an. Das sehe ich anders. In meinen Augen ist es gerade wichtig, dass ein amerikanischer Präsident berechenbar ist. Ich möchte, dass unsere Verbündeten – aber auch unsere potenziellen Gegner – genau wissen, welche Reaktionen von der amerikanischen Regierung auf bestimmte Handlungen zu erwarten sind. Trumps Aussagen (und Tweets) wichen oft von der tatsächlichen US-Politik ab. Die Worte von Joe Biden hingegen werden im Einklang mit der US-Politik stehen.
Alt-Haaker: Einige Beobachter sagen, dass der Trumpismus Präsident Trump überleben wird. Wie wird er sich auf die Demokratische Partei auswirken? Wird er die Partei weiter polarisieren und ihre Ränder stärken?
Pifer: Falls sich in der Demokratischen Partei eine stärkere Polarisierung abzeichnet und sich die Demokraten gleichsam zu Republikanern des linken Flügels entwickeln, dann würden sie vor allem eine politische Chance verpassen. Denn die Wahlen in Amerika werden traditionell in der Mitte gewonnen. Eine solche Entwicklung wäre auch für ganz Amerika destruktiv, da sie sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik erschweren würde. Deshalb hoffe ich sehr, dass uns das erspart bleibt.
Ich erwarte, dass Donald Trump auch noch über den 20. Januar 2021 hinaus ein Player in der US-Politik bleiben wird. Man darf allerdings gespannt sein, ob er weiterhin dieselbe Unterstützung bekommt. Es gibt einige republikanische Senatoren wie Marco Rubio, Tom Cotton und Vizepräsident Mike Pence, die sich sehr stark an Trump orientiert haben, weil sie auf seinen Segen für eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2024 hofften. Wenn Trump nun beschließt, selbst wieder anzutreten – was bedeutet das für die Republikaner? Ich finde, dass die amerikanische Politik eine starke Republikanische Partei braucht. Aber sie muss auf Prinzipien beruhen und nicht auf einer Person.
Alt-Haaker: Die Diskussionen über strategische Souveränität haben in Europa in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen. Wie viel Geduld und Unterstützung für den Aufbau europäischer Verteidigungsfähigkeiten darf man von den USA unter Präsident Biden erwarten? Wie wird er zu PESCO und einer besser koordinierten europäischen Militärbeschaffung stehen?
Pifer: Die Amerikaner haben traditionell eine zweigeteilte Sicht auf Europa. Auf der einen Seite wünschen sie sich ein starkes, vereintes Europa, das ein internationaler Akteur und ein Partner der USA sein kann. Auf der anderen Seite aber möchte man doch lieber bilateral mit einzelnen europäischen Ländern arbeiten, weil man besorgt ist, dass ein starkes, vereintes Europa mit uns nicht in allen Punkten auf einer Linie liegen könnte. Grundsätzlich wäre ein Europa, das vereint auftritt und sein diplomatisches und politisches Gewicht international in die Waagschale legen kann, auf alle Fälle gut für die USA.
Was die Verteidigungsfähigkeiten anbelangt, wird man in Washington auch nach dem 20. Januar 2021 erwarten, dass Europa seine Militärausgaben erhöht und das NATO-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukt erfüllt. Und was die Beschaffung anbelangt: Auch wenn die USA ihr F-35 Tarnkappen-Flugzeug am liebsten jedem ihrer Verbündeten verkaufen würden, ist es doch von Vorteil, dass Europa seine eigene militärischen Produktion hat. Konkurrenz hält die Preise in Schach und fördert Innovationen.
Alt-Haaker: Aber viele in Deutschland würden die Diskussion statt der zwei Prozent lieber über drei oder vier Prozent führen und hier die Ausgaben für Entwicklungshilfe sowie Extremismusbekämpfung im Inneren einbeziehen. Schließlich tragen diese Ausgaben ja auch zu Frieden und Stabilität weltweit bei.
Pifer: Mit diesem Argument habe ich so meine Probleme. Bei Amerikanern entsteht dabei immer der Eindruck, dass einige europäische Länder es sich mit Entwicklungshilfe einfach machen wollen. Aber wenn es ans Eingemachte geht, also an Militäreinsätze, dann sollen die Amerikaner die Last schultern. Ich bin mir auch nicht sicher, ob diese Strategie die beste für Europa selbst ist. Bei der letzten Debatte der Präsidentschaftskandidaten nannte Joe Biden mit Recht Russland als aktuell größte Bedrohung der USA. Dieser Ansicht bin ich auch, denn Russland ist das einzige Land, das die USA physisch zerstören kann.
Biden sagte aber auch, dass China die langfristigere Herausforderung sein wird. Eine weitere Verschiebung diplomatischer und militärischer Bemühungen in Richtung Asien steht bevor, während wir unser Verhältnis zu einem aufstrebenden China definieren. Der Druck auf Europa, alles Notwendige für seine Verteidigungsfähigkeiten zu unternehmen, um es mit einem Nachbarn wie Russland aufnehmen zu können, und das Zwei-Prozent-Ziel werden bleiben. Dennoch bin ich mir sicher, dass der Präsident den Druck wesentlich diplomatischer aufbauen wird, wenn er dieses Thema anspricht.
Alt-Haaker: Unter Präsident Trump fühlte Europa sich oft dazu gedrängt, im Wettstreit zwischen den USA und China Partei ergreifen zu müssen und hat sich vehement gewehrt. Wird dieser Druck fortgesetzt, nur einfach in einem höflicheren Ton? Würde die neue Regierung die Entscheidung der Europäer z.B. zur 5G-Infrastruktur in jedem Falle akzeptieren?
Pifer: Ich denke, der Druck, sich auf eine Seite schlagen zu müssen, wird nicht mehr so hoch sein, aber ein paar Sorgen bleiben doch dieselben. So gibt es Bedenken – und zwar durchaus nicht nur auf Seiten einer republikanischen Regierung –, dass ein Land beim Aufbau seines 5G-Netzes durch Huawei ein ernstzunehmendes Sicherheitsrisiko eingeht. Das würde die digitale und kritische Infrastruktur anfällig für gewisse Gefahren machen. Ich könnte mir deshalb vorstellen, dass sich Amerikaner und Europäer bei einigen Punkten im Zusammenhang mit China enger abstimmen.
Sich komplett von China zu lösen, ist nicht sinnvoll. Die Amerikaner werden sicher weiterhin viele günstige Produkte von den Chinesen kaufen. Aber möchten wir zum Beispiel bei einigen unserer pharmazeutischen Produkte so stark von China abhängig sein? Wenn wir eines aus der Corona-Krise gelernt haben, dann doch das: Bei bestimmten Schlüsselindustrien sollten die USA ebenso wie Europa auf eigene Produktionsstätten setzen, auch wenn es dann teurer wird.
Alt-Haaker: Wir haben über Russland gesprochen und dabei haben Sie auch Bidens Position zur Rolle Chinas für die amerikanische Sicherheit erwähnt. Glauben Sie, dass China für die NATO z.B. im Rahmen von Bedrohungsanalysen und strategischer Planung eine größere Rolle spielen wird?
Pifer: Ich denke, die NATO sollte und wird sich weiterhin auf die transatlantische Sicherheit konzentrieren. Dennoch wird man größere Aufmerksamkeit auf die Handlungen Chinas legen müssen, da sie unsere Fähigkeit beeinflussen, die Sicherheit zwischen Nordamerika und Europa aufrechtzuerhalten. Das ist ein vollkommen legitimes und wichtiges Thema für die NATO. Aber eine ständige NATO-Marineeinheit im Südchinesischen Meer sehe ich nicht.
Alt-Haaker: Innerhalb Europas wird Deutschland immer wieder kritisiert, Russland gegenüber zu verständnisvoll zu sein und eine kritische Distanz vermissen zu lassen, etwa wenn es um die North Stream 2-Pipeline in der Ostsee geht. Gleichzeitig ist Deutschland (gemeinsam mit Frankreich) eines der wenigen Länder, die sich noch immer im Ukraine-Konflikt engagieren. Was erwarten Sie von den amerikanisch-russischen Beziehungen in Bezug auf die Ostsee und die Ukraine?
Pifer: Unter Joe Biden wird es keine Widersprüche geben zwischen der Politik und den Äußerungen des Präsidenten. Und ein verlässlicher amerikanischer Partner ist für Moskau wichtig, selbst wenn man nicht alles an der Politik der USA gut finden wird. Zweitens findet Biden Leitplanken für die Beziehung mit Russland sinnvoll. Deshalb wird er den New-START-Vertrag zur Reduzierung offensiver strategischer Nuklearwaffen erweitern. Er wird sich aber wohl auch nach anderen Möglichkeiten zur Rüstungskontrolle umsehen, weil das Verhältnis zwischen den USA und Russland bedauerlicherweise in diesem Bereich von einer gewissen Feindseligkeit geprägt ist, die man in den Griff bekommen muss.
Ich glaube auch, dass es unter Biden möglich sein wird, den Dialog mit Moskau auf höchster Ebene professionell zu führen. In den letzten vier Jahren fanden die Gespräche zwischen Washington und Moskau bei einigen wenigen Gelegenheiten zwischen Trump und Putin statt. Nach meiner jahrelangen Beobachtung brauchen die Beziehungen zwischen Washington und Moskau aber Top-Down-Vorgaben. Und ich würde auch eine Wiederherstellung einiger nützlicher Kontakte zwischen der NATO und Russland auf militärischer Ebene begrüßen, denn keine der beiden Seiten kann ein Interesse an einem Konflikt haben, der aus Versehen oder aufgrund von Fehleinschätzungen ausbricht.
Zum Thema Ukraine: Biden kennt das Land sehr gut und weiß, dass dieser Konflikt das größte Hindernis für eine positive Entwicklung im Verhältnis zwischen Russland und den USA oder dem Westen darstellt. Die Deutschen ebenso wie die Franzosen haben sich um eine Vermittlung bemüht. Kanzlerin Angela Merkel verdient große Anerkennung dafür, dass sie zum einen den Prozess am Laufen hält und zum anderen die Einheit der EU bewahrt. Ich frage mich: Sind die USA an einer stärkeren Rolle in diesem Prozess interessiert? Nicht, um Deutschland und Frankreich zu verdrängen, sondern um mit ihnen gemeinsam einen Weg zu finden, um auf dem Minsker Abkommen von 2015 aufzubauen. Ich vermute, dass die Biden-Regierung dafür offen wäre, eine aktivere Rolle zu übernehmen, falls dies eine Lösung für den Konflikt in der Ukraine beschleunigen würde.
Alt-Haaker: Sie haben den New-START-Vertrag mit Russland angesprochen und ob eine Verlängerung, Neuverhandlung oder etwa eine Aufnahme Chinas der richtige Ansatz wäre. China hat die dritte Option ja bereits freundlich abgelehnt. Wie könnte hier die Kursrichtung in den nächsten Monaten aussehen?
Pifer: Die Laufzeit des New-START-Vertrags endet etwa 15 Tage nach der Vereidigung Bidens. Ich bin sicher, dass die Biden-Regierung ihn sofort verlängern wird, und zwar am besten für die vollen fünf Jahre, weil das die strategischen Streitkräfte Russlands bis 2026 limitieren würde. Außerdem würden Informationsfluss, Datenaustausch, Benachrichtigungen und Vor-Ort-Inspektionen weiterhin stattfinden, und wir Amerikaner hätten immer aktuelle Informationen über die russischen Streitkräfte. Das wäre gut in puncto Vorhersehbarkeit und Stabilität.
Dann wird die Biden-Regierung wohl über ihre nächsten Schritte entscheiden müssen. Im Wesentlichen gibt es zwei Optionen. Erstens: Über eine Nachfolgeversion des New-START-Vertrags verhandeln, die sich weiterhin auf strategische Waffen konzentriert. Man könnte ein paar neue strategische Systeme aufnehmen, aber eine solche Verhandlung wäre vertrautes Terrain für beide Seiten und könnte zu einer kleineren Reduzierung der Waffenzahl führen. Die zweite Option – und ich hoffe, die Biden-Regierung wird diesen Weg einschlagen – ist deutlich ambitionierter. Eine Verhandlung, die alle amerikanischen und russischen Nuklearwaffen einschließt: strategische, nicht strategische, stationierte, nicht stationierte – alle eingeschränkt durch ein Gesamtlimit und ein zusätzliches Sublimit auf die Sprengköpfe auf Interkontinentalraketen und von U-Booten abgeschossene ballistische Flugkörper, das sie die am leichtesten einsetzbaren Nuklearwaffen sind. Das wäre eine wirklich harte Verhandlung, die sich über mehrere Jahre hinziehen würde. Neue Möglichkeiten für die Überprüfung der Einhaltung müssten gefunden werden und ein Weg, wie Waffen inspiziert werden können, die nicht auf einer Rakete sitzen, sondern in Lagern aufbewahrt werden. Ich könnte mir vorstellen, dass die Russen bereit wären, über nicht-strategische Nuklearwaffen zu sprechen, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Eine davon wird sein, dass die USA offen für Gespräche über Raketenabwehrsysteme sind. Und das ist eine schwierige Frage für die Biden-Regierung. Ich plädiere dafür, dass wir uns damit befassen und genau abwägen sollten. Wahrscheinlich liegen ein solcher Kompromiss und gewisse Beschränkungen der Raketenabwehr im amerikanischen Interesse, wenn Russland im Gegenzug einem Limit zustimmt, das alle Atomwaffen umfasst.
Was ich mir jedoch nicht vorstellen kann, ist eine trilaterale Verhandlung zwischen Amerikanern, Russen und Chinesen. Die USA und Russland haben beide mehr als zehnmal so viele Atomwaffen wie China. Weder Washington noch Moskau wird bereit sein, seine Waffen auf das Level Chinas zu reduzieren. Sie werden aber auch keinen Vertrag unterzeichnen, der es China gestattet, bis zu ihrem Level aufzurüsten, und die Chinesen werden ohnehin keine ungleichen Obergrenzen akzeptieren. Wenn aber die USA und Russland über ihr gesamtes Atomwaffenarsenal verhandeln und es verringern würden, könnten sie China womöglich vorschlagen, eine unilaterale politische Verpflichtung einzugehen: nämlich nicht aufzurüsten und zugleich grundlegende Transparenz zu gewähren. Das könnte ein Einstiegsszenario für die Aufnahme von Drittländern sein, ohne dass diese ungleichen Begrenzungen innerhalb eines Vertrags akzeptieren müssten.
Alt-Haaker: Kommen wir zu einer weiteren schwierigen Vertragsverhandlung: dem Vertrag über den Offenen Himmel. Wäre es gut für die USA, diesem Vertrag erneut beizutreten, obwohl Russland dagegen verstoßen hat?
Pifer: Meiner Ansicht nach war es ein Fehler, dass die USA aus dem Vertrag ausgetreten sind. Zwar hat Russland gegen Open Skies verstoßen, aber diese Verstöße waren marginal. Sie haben den Hauptzweck des Vertrags nicht unterminiert. Und tatsächlich haben die USA ja ebenfalls einige Jahre lang gegen den Vertrag verstoßen. So wurden beispielsweise die russischen Überflugsrechte über Hawaii stärker beschränkt als vertraglich vorgesehen. Die USA sollten dem Vertrag wieder beitreten. Das ebnet den Weg zur Vertrauensbildung, denn es ermöglicht das wechselseitige Sammeln von Daten und Fotos durch Verbündete, die nicht über so fortschrittliche Satelliten verfügen, wie die USA sie beitreiben. Und selbst diese Satelliten unterliegen bestimmten technischen Einschränkungen. Flugzeuge hingegen müssen sich nicht an vorgegebene Umlaufbahnen halten und können unterhalb der Wolkendecke fliegen. Darüber hinaus kann der Vertrag über den Offenen Himmel auch politisch genutzt werden. Wenn Sie sich einmal einige der amerikanischen Flüge im Rahmen des OH-Vertrags in den letzten sechs Jahren ansehen, fällt auf, dass sie sich auf die Ostukraine und den Teil von Russland konzentriert haben, der an das Donezbecken grenzt. Die Flüge waren also eindeutig dazu gedacht, ein politisches Signal an Russland zu senden.
Die richtige Vorgehensweise für das Biden-Team zum Wiederbeitritt wäre es, den Vertrag erneut zu unterzeichnen und ihn dann einem Ratifizierungsprozess zu unterwerfen. Dafür wären insgesamt 67 Senatoren nötig. Das wird aber vermutlich scheitern, weil zu wenige republikanische Senatoren einen Vertrag ratifizieren werden, aus dem eine republikanische Regierung gerade erst ausgetreten ist. Die Frage ist also: Gibt es flexiblere Wege, die den USA den Wiedereintritt ermöglichen? Vielleicht auf der Basis eines Ausführungsabkommens, bei dem die USA zwar alle Rechte und Pflichten übernehmen würde, das aber keine Vertragsform hätte und damit auch keine Ratifizierung erforderte. Manche Experten argumentieren auch, dass der Ausstieg Trumps von vorneherein einen Verstoß gegen amerikanisches Recht bedeutete. Eine Bestimmung im National Defense Authorization Act (NDAA; deutsch „Genehmigungsgesetz zur nationalen Verteidigung“) besagt, dass sich die Trump-Regierung vor Verlassen des OH-Vertrags mindestens vier Monate im Voraus mit dem Kongress hätte beraten müssen. Diese Beratung fand jedoch nicht statt. Eine mögliche Strategie der Biden-Regierung könnte also sein zu behaupten, dass die USA den Vertrag im Grunde nie verlassen haben, da der Kongress nicht befragt wurde. Das könnte zu einem interessanten Rechtsstreit führen.
Alt-Haaker: Das könnte in der Tat ein interessanter Rechtsstreit werden, der wahrscheinlich vor dem Supreme Court landen wird. Und der besteht derzeit aus einer konservativen Mehrheit, bei der drei von neun Richtern von Präsident Trump ernannt wurden.
Eines der heißesten Eisen im Bereich der internationalen Sicherheit ist der Iran. Denken Sie, Präsident Biden wird der Vereinbarung über das iranische Nuklearprogramm (JCPOA) von 2015 wieder beitreten und da weitermachen, wo die USA aufgehört haben? Oder wird er Teile davon neu verhandeln?
Pifer: In Joe Bidens Team herrscht die Meinung vor, dass es ein Fehler war, die Nuklearvereinbarung zu verlassen. Wir haben uns damit am Ende selbst isoliert und es dem Iran ermöglicht, die Grenzen der JCPOA zu überschreiten. Die Schritte, die der Iran ergriffen hat, sind jedoch reversibel. Die Biden-Regierung möchte sich in der Vereinbarung wieder neu engagieren. Ich bin aber nicht sicher, ob sie einfach wieder eintreten und da weitermachen, wo sie aufgehört hatten. Sie werden unter einem gewissen Druck stehen, über Verbesserungen der JCPOA zu verhandeln. Wir sprechen hier lediglich von ein paar marginalen Anpassungen, um gewisse Bedenken von Leuten in den USA auszuräumen, die meinen, man hätte hier einen schlechten Deal gemacht. Im Allgemeinen wird man aber eine positive Herangehensweise wählen auf der Suche nach einem Weg zurück in den Vertrag. Eine Eingrenzung der atomaren Kapazitäten des Iran ist auf jeden Fall sinnvoll.
Alt-Haaker: Da die Robert Bosch Academy ihren Sitz in Berlin hat, muss meine letzte Frage natürlich den amerikanischen Truppen in Deutschland gelten. Präsident Trump hat einen umfassenden Abzug angekündigt, der erst Anfang Dezember durch eine Entscheidung im Kongress vorerst gestoppt wurde. Können die Deutschen aufatmen und davon ausgehen, dass die amerikanischen Soldaten weiterhin in Deutschland stationiert bleiben?
Pifer: Ich denke, die Entscheidung von Präsident Trump, die Truppen abzuziehen, war nicht von strategischen Überlegungen motiviert. Der Verteidigungsminister hat versucht, eine rationale Begründung dafür zu liefern, aber seine Argumente ergaben keinen Sinn. Er meinte zum Beispiel, der Abzug wäre gut für Militärfamilien. Tatsächlich ist es aber besser für Familien, die Truppen permanent in Deutschland stationiert zu lassen, weil die Soldaten dann am Abend heim zu ihren Familien gehen können. Bei anderen Einsätzen sind die Truppen neun Monate lang im Ausland stationiert, und die Familien können sie nicht begleiten. Ich glaube nicht, dass das Pentagon diese Idee wirklich unterstützt hat.
Die Einrichtungen in Deutschland sind nicht nur für US-Einsätze in Europa, sondern auch in Afghanistan und dem Nahen Osten von großer Bedeutung. Die medizinischen Einrichtungen zum Beispiel: Hierhin werden verwundete US-Soldaten als Erstes gebracht und erstklassig medizinisch versorgt, bevor sie zurück in die USA gebracht werden. Das rettet Leben. Ich denke, es gibt eine Menge strategischer Gründe, die Truppen und Einrichtungen in Deutschland zu belassen. Und falls Anpassungen stattfinden sollten, hoffe ich, dass sie auf strategischen Überlegungen beruhen und nicht nur darauf, dass sich der Präsident geärgert hat, weil Kanzlerin Merkel nicht zu einem G7-Gipfel in Camp David kommen wollte.
Alt-Haaker: Vielen Dank, Steven, für diese faszinierende Tour de Force durch die Herausforderungen der US-Außen- und Sicherheitspolitik, die Joe Biden im Jahr 2021 erwarten. Wir freuen uns darauf, diese Diskussion mit Ihnen und weiteren Experten und politischen Entscheidungsträgern während Ihres Aufenthalts in Berlin fortzusetzen.
Steven Pifer ist William J. Perry Research Fellow am Center for International Security and Cooperation an der Stanford University, Non-resident Senior Fellow bei der Brookings Institution sowie Brookings-Robert Bosch Foundation Transatlantic Initiative Fellow der Robert Bosch Academy.
Henry Alt-Haaker leitet den Bereich Strategische Partnerschaften und die Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung.
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