Eine weitere Eskalation im Krieg zwischen Israel und der Hamas verhindern
Je länger der Krieg andauert, desto komplizierter wird es, einen langfristigen Frieden zu erreichen.
Von Julien Barnes-Dacey und Hugh Lovatt
Zwei Monate nach den schrecklichen Angriffen der Hamas, bei denen mehr als 1.200 Israelis getötet wurden, hat Israels verheerender Krieg gegen den Gazastreifen mindestens 15.000 Palästinenser:innen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, getötet, eine immense humanitäre Krise ausgelöst und große Teile von Gaza völlig verwüstet. Israels gezielte Angriffe auf die Hamas haben die Gruppe zwar operativ geschwächt, sie aber bei weitem nicht vernichtet. Währenddessen gibt es einen bestenfalls unausgegorenen Plan für die Zukunft, und die Aussicht auf neue politische Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern scheint weiter entfernt denn je.
Tritt man einen Schritt zurück, droht der Konflikt sich noch zu verschärfen und auszuweiten. Die Gewalt hat nicht nur im Westjordanland zugenommen und droht, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu vertiefen, sondern auch an der Nordgrenze Israels zum Libanon, wo die Hisbollah, die ebenso wie die Hamas vom Iran unterstützt wird, ihre Angriffe auf Israel verstärkt hat, um das Land zur Beendigung seiner Offensive im Gazastreifen zu zwingen. Seit dem 7. Oktober liefern sich die beiden Seiten die heftigsten militärischen Auseinandersetzungen seit dem Libanonkrieg 2006. Parallel dazu kam es zu verstärkten Zusammenstößen zwischen vom Iran unterstützten Milizen und US-Streitkräften im Irak und in Syrien sowie zu versuchten Raketenangriffen der jemenitischen Huthi-Miliz auf Israel. Das Eingreifen der Huthi, begleitet von deren Entführung eines Handelsschiffs unweit der saudischen Küste, verdeutlicht die Komplexität eines sich zuspitzenden regionalen Krieges.
Ohne ein nachhaltiges Ende des Konflikts besteht nun die reale Gefahr, dass Israel – und seine westlichen Unterstützer, insbesondere die USA – in einen tieferen Konflikt mit Irans Netzwerk von regionalen Verbündeten hineingezogen werden. Die Vereinigten Staaten haben bereits zwei Flugzeugträger zur Unterstützung Israels entsandt und dem Iran und der Hisbollah signalisiert, dass sie militärisch einschreiten werden, sollte sich der Konflikt ausweiten.
Benachbarte Staaten und ihre Interessen
Im Moment scheinen die regionalen Akteure einen ausgeweiteten Konflikt mit offenem Ausgang vermeiden zu wollen und haben ihre Angriffe sorgfältig kalibriert, um die Überschreitung wichtiger roter Linien zu vermeiden. Während die Hisbollah ihre Unterstützung für die Hamas demonstrieren und israelische Militärressourcen binden will, möchte sie zugleich eine Wiederholung der Zerstörung verhindern, die Israel im Libanonkrieg 2006 angerichtet hat. Ein neuer Konflikt würde eine noch verheerendere militärische Reaktion Israels gegenüber dem Libanon nach sich ziehen, die von den USA militärisch unterstützt würde. Dies würde die Hisbollah stark unter Druck setzen – zu einem Zeitpunkt, an dem sie angesichts der desolaten wirtschaftlichen und politischen Lage im eigenen Land bereits mit erheblichen internen Problemen zu kämpfen hat.
Der Iran seinerseits möchte nicht in einen weiter gefassten Konflikt hineingezogen werden, der zu einer dramatischen Schwächung wichtiger regionaler Partner wie der Hisbollah führen würde, die er als entscheidende Elemente seiner umfassenden Abschreckungsstrategie betrachtet. Außerdem möchte der Iran einen völligen Abbruch der Beziehungen zu den USA verhindern, weil er weiterhin eine gewisse Lockerung der US-Sanktionen anstrebt, um die wirtschaftlichen Herausforderungen im eigenen Land bewältigen zu können.
Auch Israel würde unter den Folgen eines sich ausweitenden Konflikts leiden. Nicht nur, dass dadurch Ressourcen aus dem Gazastreifen abgezogen würden, die Hisbollah ist inzwischen auch in der Lage, ein Arsenal von rund 150.000 Raketen einzusetzen. Selbst mit modernen israelischen Raketenabwehrsystemen könnte dies für den Norden Israels katastrophale Folgen haben.
Die Risiken eines solchen regionalen Krieges werden jedoch zunehmen, wenn Israel tiefer in den Gazastreifen vordringt und die Zahl der palästinensischen Todesopfer weiter ansteigt. Und selbst wenn alle Parteien versuchen, eine absichtliche Eskalation zu vermeiden, könnte eine einzige verirrte Rakete die beiden Seiten ungewollt in eine weitere Eskalation hineintreiben.
Die Lage bleibt fragil
Inmitten dieser besorgniserregenden Dynamik bot die Freilassung einiger israelischer Geiseln Ende November im Austausch für eine vorübergehende Waffenruhe im Gazastreifen eine kleine Möglichkeit für einen alternativen Handlungspfad, während derer die regionalen Zusammenstöße ebenfalls an Intensität verloren. Doch dieser Pfad ist sehr schmal. Es ist dagegen sehr wahrscheinlich, dass Israel seine Militäraktion gegen den Gazastreifen fortsetzt und den Kampf in den Süden von Gaza verlagert, wo mehr als 1,5 Millionen Menschen aus dem gesamten Gazastreifen unter entsetzlichen Bedingungen Zuflucht suchen. Es ist zu erwarten, dass dies zu erneuten Zusammenstößen in der Region führen wird.
Deutschland und seine europäischen Partner hat der Konflikt zu harten Abwägungen gezwungen, da die anhaltende entschiedene Unterstützung für Israels Recht auf Selbstverteidigung zunehmend mit dessen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht kollidiert. Dies geht einher mit der zunehmenden Erkenntnis, dass Israel über keinen tragfähigen Plan für die Zeit nach dem Konflikt verfügt. Aus diesen Gründen und um größere regionale Verwerfungen zu verhindern, müssen die europäischen Länder jetzt unbedingt auf einen längeren Waffenstillstand drängen, der sich sofort auf die Freilassung aller israelischen Geiseln, die Beendigung des Leids der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und die Verhinderung eines regionalen Krieges konzentriert.
Obwohl Israel bei der Ausweitung seiner Bodenoffensive im Gazastreifen einige militärische Erfolge verbuchen konnte, ist es unwahrscheinlich, dass es die Hamas vollständig beseitigen kann – eine Tatsache, die auch das europäische Denken bestimmen sollte. Was auch immer geschieht, die islamistische Bewegung wird überleben. Abgesehen von ihren umfangreichen militärischen Ressourcen sind ihre sozialen, religiösen und ideologischen Wurzeln tief in der Gesellschaft des Gazastreifens verankert. Die Hamas ist zudem nicht nur auf den Gazastreifen beschränkt. Viele ihrer führenden Köpfe leben im Ausland, unter anderem in Katar und im Libanon.
Warum die Hamas von Israels Militärangriffen profitiert
Ebenso wichtig ist, dass die Hamas in der palästinensischen Öffentlichkeit im Westjordanland großen Rückhalt genießt, wo sie die äußerst unpopuläre Palästinensische Autonomiebehörde (PA) von Präsident Mahmoud Abbas herausfordert. Die israelischen Maßnahmen verschärfen diese Dynamik in einer Weise, die das angestrebte Ziel, die Hamas zu vertreiben, noch schwieriger machen wird. Israels nächtliche Militäraktionen im Westjordanland bis tief in palästinensische Städte hinein schüren die Wut der Bevölkerung und stärken die Unterstützung der Palästinenser:innen für den bewaffneten Kampf. Diese Spirale der Gewalt wird durch die zunehmenden Angriffe israelischer Siedler verschärft, die den Krieg in Gaza nutzen, um palästinensische Communities in Jerusalem und im sogenannten C-Gebiet des Westjordanlandes zu bedrohen.
Angesichts der Zunahme dieser konkurrierenden Dynamiken und regionalen Risiken müssen die Europäer ihre Anstrengungen auf politische Initiativen konzentrieren. Das ist letztlich der einzig machbare Weg, um die Hamas aus ihrer Position zu verdrängen – das sollte das angestrebte Ziel bleiben – und einen regionalen Konflikt zu verhindern. Nachdem der Hamas als Reaktion auf ihre Angriffe ein militärischer Schlag versetzt wurde, sind politische Bemühungen nun der notwendige Weg, um die Sicherheit Israels und die Rechte der Palästinenser zu gewährleisten – beide Gesichtspunkte sind für einen dauerhaften Frieden notwendig.
Dies bedeutet, auf einen verlängerten Waffenstillstand zu drängen und diesen zu nutzen, um Raum für umfassendere diplomatische Bemühungen zu schaffen. Dabei muss der Schwerpunkt auf der Reform und der Erneuerung der Legitimität der Palästinensischen Autonomiebehörde als lebensfähige Alternative zur Hamas liegen, und Israel muss dazu gedrängt werden, harte Entscheidungen zu treffen, um die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung zu wahren. Europa hat sich seit sehr langer Zeit an keiner dieser beiden Fronten ernsthaft engagiert. Doch so schwer es auch ist, sich ein solches politische Ergebnis vorzustellen, so ist es doch die einzige Möglichkeit, eine weitere Eskalation im Gazastreifen, im Westjordanland und in Israel sowie in der gesamten Region zu verhindern, die sich als noch verheerender erweisen würde als die bisher erlebte Gewalt. Diese politische Alternative erfordert eine verstärkte europäische Unterstützung.
Julien Barnes-Dacey ist Direktor des Programms für den Nahen Osten und Nordafrika beim European Council on Foreign Relations. Er befasst sich mit der europäischen Politik gegenüber der Region, mit besonderem Schwerpunkt auf Syrien und der regionalen Geopolitik.
Hugh Lovatt ist Senior Policy Fellow des Programms für den Nahen Osten und Nordafrika des European Council on Foreign Relations. Lovatt hat sich eingehend mit der regionalen Geopolitik befasst und europäische Entscheidungsträger zu den Konflikten in Israel-Palästina und der Westsahara beraten.
Quarterly Perspectives
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