Auffällige Abwesenheit: Warum Israels arabische Bürger:innen die Proteste meiden

Juni 2023

Damit sich die arabische Öffentlichkeit in Israel an der Protestbewegung gegen die Regierung Netanjahu beteiligt, muss sie eine echte Partnerschaft mit der jüdisch-liberalen Opposition spüren.

Von Mohammad Darawshe

Mohammad Darawshe_Israel Arabs Protest
IMAGO / ZUMA Wire

Die israelische Gesellschaft befindet sich in einer ernsthaften Debatte über ihr eigenes Wesen. Justizminister Jariv Levin, der von Premierminister Benjamin Netanjahu und seiner rechtsextremen Regierung unterstützt wird, versucht, umstrittene Justizreformen zu erzwingen, die seine Kontrolle über die Ernennung von Richter:innen am Obersten Gerichtshof und die Entscheidungen dieser höchsten Rechtsinstanz des Landes radikal ausweiten würden, wodurch das Gericht mehr Exekutivgewalt über das Parlament erlangen würde.

Netanjahu kehrte im November 2022 an die Macht zurück und steht an der Spitze der am weitesten rechts stehenden Regierung in der Geschichte Israels. Er hat eine Koalition aus ultranationalistischen und ultrareligiösen Parteien gebildet, was die Palästinenser:innen in Israel und den besetzten Gebieten verständlicherweise ängstigt. Zwei der prominentesten Minister der Koalition, Finanzminister Bezalel Smotrich und der Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, sind selbst Siedler aus dem Westjordanland (die Besiedlung dort ist nach internationalem Recht illegal), und beide sind wegen Angriffen auf Palästinenser:innen vorbestraft. Kürzlich sagte Smotrich, dass es „so etwas“ wie ein palästinensisches Volk nicht gebe. Dies veranlasst viele zu der Vermutung, dass die Koalition rechtliche Beschränkungen beseitigen will, um das Westjordanland ganz oder teilweise zu annektieren. Sollte dies geschehen, würde dies wahrscheinlich eine Massenvertreibung von Palästinenser:innen bedeuten.

Die Opposition in Israel, die von einem großen Teil der Öffentlichkeit unterstützt wird, lehnt diese Reformen ab und bezeichnet sie als einen juristischen Staatsstreich. Nichts Geringeres als die Demokratie Israels stehe auf dem Spiel, heißt es. Jeden Samstag gehen Hunderttausende von Israelis auf die Straße, um ihren Widerstand zu bekunden. Dies veranlasste den israelischen Präsidenten Itzchak Herzogzu einem Vermittlungsversuch, um die Schärfe der Reformen abzumildern. Dieser Prozess hat jedoch zu keinen eindeutigen Ergebnissen geführt.

Nach fünf Monaten des öffentlichen Protests fällt die Abwesenheit der arabischen Bürger:innen Israels bei den Demonstrationen auf. Einige von ihnen freuen sich über die Verschärfung der Justizkrise oder halten sie für eine logische Folge eines Systems, das ihre Gemeinschaft nicht als vollwertige Bürger:innen ansieht. Sie verweisen auf die Kontroverse um die palästinensische Flagge bei den Demonstrationen und die Art und Weise, wie die Proteste die Besatzung übersehen.

Die arabischen Bürger:innen Israels

Die arabischen Bürger:innen Israels machen mit rund zwei Millionen Menschen etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. Obwohl sie offiziell israelische Staatsbürger:innen sind, bezeichnen sich viele von ihnen als Palästinenser:innen. Viele argumentieren, dass sich der Oberste Gerichtshof ihnen gegenüber nicht fair verhalten habe: Seine Entscheidungen haben Palästinenser:innen diskriminiert, sowohl innerhalb Israels als auch in den besetzten Gebieten.

Das vom israelischen Parlament, der Knesset, verabschiedete Nationalstaatsgesetz von 2018 besagt beispielsweise, dass in Israel nur das jüdische Volk das Recht auf Selbstbestimmung hat; damit wird die arabische Sprache vom bisherigen Status der offiziellen Staatssprache herabgestuft, und die Regierung kann in Siedlungs- und Wohnungsfragen eine diskriminierende Politik zugunsten jüdischer Bürger:innen betreiben. Dieses Gesetz ist eines von vielen diskriminierenden Gesetzen in Israel, die vom Gericht gebilligt wurden, und es steht sinnbildlich für das „alte Israel“, das die Liberalen immer noch schützen wollen.

Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof im Laufe der Jahre harte Urteile wie die Zwangsräumung von palästinensischen Häusern und Wohnungen im besetzten Westjordanland gebilligt und häufig die Siedlungsaktivitäten jüdischer Israelis in den besetzten Gebieten schöngeredet, die nach internationalem Recht als illegal gelten. Er legitimierte auch die schleichende Annexion palästinensischer Gebiete, darunter Ost-Jerusalem und die syrischen Golanhöhen.

Damit sich die arabische Öffentlichkeit den Massenprotesten anschließt, muss sie eine wahre Partnerschaft spüren. Es muss eine echte Einladung an die arabische Öffentlichkeit geben und ihre Symbole, ihre Slogans und ihr Protest müssen Raum bekommen. Nur sehr wenige arabische Bürger:innen nehmen an diesen Demonstrationen teil oder ergreifen das Wort – weil sie das Gefühl haben, dass ihre Stimmen ohnehin nicht gehört werden. Gleichzeitig haben sie viel zu verlieren, wenn Israel der Demokratie beraubt wird.

Liberal-jüdische Bürger:innen bleiben auf Distanz

Das jüdisch-liberale Lager, das die Kampagne gegen die Regierung anführt, hat sich von den wenigen arabischen Teilnehmenden distanziert, die sich engagieren. Sie wollen den jüdischen Charakter der Demonstrationen und sogar die patriotischen Fahnen beibehalten. Die Anwesenheit arabischer Bürger:innen dient diesen Interessen nicht. Die Liberalen in Israel wollen die gemäßigte jüdische Rechte ansprechen, die früher den Likkud, die Partei des Premierministers, gewählt hat. Das sind Wähler:innen, die nicht auf derselben Seite wie die arabischen Bürger:innen stehen wollen. Innerhalb der Protestbewegung gibt es einen heftigen Streit darüber, ob die Forderung nach Rechten für die Palästinenser:innen aufgenommen werden soll. Ein großer Teil der jüdisch-liberalen Öffentlichkeit will die Themen Besatzung oder soziale Gerechtigkeit nicht in die Proteste einbringen. Der Mainstream der Demonstrierenden reagiert auf Forderungen nach Rechten für Palästinenser:innen mit Gleichgültigkeit oder dem Argument, dass man sich auf seine eigenen Probleme konzentrieren müsse, um erfolgreich zu sein. Dennoch drängen einige israelische Araber:innen auf ein stärkeres Engagement bei den Protesten.

Einige arabische Bürger:innen nehmen trotzdem an den Demonstrationen teil, und zwar als Teil eines Anti-Besatzungs-Blocks, der seine Präsenz bei den größeren Demonstrationen in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa jetzt verstärkt. Diese Protestierenden schwenken palästinensische Flaggen und singen Slogans auf Hebräisch und Arabisch, in denen sie die Besatzung anprangern. Einige israelische Araber:innen sehen die Proteste als Gelegenheit, ihre Forderungen nach Gleichberechtigung voranzutreiben. Sie meinen, dass es keine echte Demokratie geben kann, wenn die Besatzung des palästinensischen Volkes aufrechterhalten wird – und dass echte Demokratie die palästinensischen Bürger:innen Israels nicht diskriminieren darf. Die arabischen Israelis sind sich darüber im Klaren, dass sie Partnerschaften mit israelischen Liberalen eingehen müssen, um ihre Rolle als israelische Bürger:innen zu legitimieren, und dass sie in Fragen der Bürgerrechte und der Gleichberechtigung einen gemeinsamen Nenner mit ihnen finden müssen.

Der arabische Teil der israelischen Gesellschaft hat im Laufe der Jahre immer wieder auf der Straße protestiert, aber diese Bewegung hat keine nennenswerte jüdische Präsenz mit sich gebracht, auch nicht bei Themen wie dem Kampf gegen Gewalt und organisierte Kriminalität infolge von Nachlässigkeit der Polizei. Nur sehr wenige israelische Jüdinnen und Juden demonstrierten gegen das Nationalstaatsgesetz. Die meisten zogen es vor, es zu ignorieren und sich auf die Förderung der individuellen Menschenrechte zu konzentrieren, während sie die kollektiven Rechte der arabischen Minderheit im Staat opferten. Die arabische Gesellschaft in Israel wurde zu oft vom Staat enttäuscht und ist daher gleichgültig geworden. Die Vernachlässigung hat zu einem Mangel an Vertrauen geführt, dass sich etwas zu ihren Gunsten ändern könnte. Die Folgen sind eben Verzweiflung und Gleichgültigkeit. Gleichzeitig wird der Extremismus in der jüdischen Gemeinschaft immer schärfer.

Als arabische Bürger:innen gegen das Nationalstaatsgesetz demonstrierten, behaupteten sie, dieses Gesetz sei nur der erste Schlag gegen die Demokratie. Aber das hat das jüdische liberale Lager nicht wirklich bewegt, weil es diesen Schlag nicht als gegen die Demokratie gerichtet ansah – schließlich profitierte die jüdische Bevölkerung von dem Gesetz. Der nicht-arabische Teil der Gesellschaft in Israel hat die arabische Teilgesellschaft nach und nach zurückgedrängt, jedes Mal auf eine andere Art und Weise. Und jetzt erwartet die liberal-jüdische Protestbewegung, dass die arabische Gesellschaft bei einer Demonstration an ihrer Seite steht: vielleicht um die Zahl der Demonstranten zu erhöhen und vielleicht auch, weil einige der Protestierenden verstanden haben, dass sie die strategische Allianz mit den arabischen Bürger:innen brauchen.

Die Organisator:innen der Demonstrationen lehnen das Engagement der führenden Vertreter:innen der arabischen Gesellschaft ab und distanzieren sich von deren politischen Kampf. Sie zensieren Reden auf den Demonstrationen und veröffentlichen Erklärungen, die die Interessen der arabischen Gemeinschaft vernachlässigen. Sie sind auf der Suche nach „maßgeschneiderten“ Araber:innen, die es vermeiden, zusätzliche Themen wie Besatzung, Diskriminierung und Rassismus auf den Tisch der Demonstrationen zu bringen.

Warum der Oberste Gerichtshof eine wichtige Rolle hat

Sowohl die arabischen Bürger:innen als auch die jüdischen Liberalen wissen, dass diese Regierung gestürzt werden muss. Die Bedeutung des Obersten Gerichtshofs liegt in seinem Schutz der Minderheiten, und die arabische Minderheit hat Angst, dass dieser Schutz sein endgültiges Ende findet. Man darf aber auch nicht vergessen, dass die arabische Community mit anderen schwerwiegenden Problemen zu kämpfen hat: Gewalt, Kriminalität und Chaos als Folge staatlicher Maßnahmen. Wenn sich keine der Mitte-Links-Parteien mit ihnen zusammentut und eine echte Partnerschaft entsteht, wird sich die Situation nicht verbessern. Das liberale Lager in Israel muss begreifen, dass die Opposition ohne politische Partner keine Regierung bilden kann. Sie hat keine Macht ohne die arabischen Bürger:innen, die 17 Prozent der Wählenden ausmachen und das Blatt wenden können.

In der arabischen Gesellschaft mangelt es aufgrund jahrelanger Entscheidungen, die ihr geschadet haben, an Hoffnung und Vertrauen in die staatlichen Institutionen. Das heißt aber nicht, dass wir als Araber:innen in Israel aufhören können, uns zu engagieren. Wir müssen mit dem arbeiten, was uns zur Verfügung steht, und nicht nur zuschauen. Wir müssen eine aktive Position als Minderheit in Israel einnehmen.

Mohammad Darawshe grau rund


Mohammad Darawshe gilt als führender politischer Analyst und Experte für die jüdisch-arabischen Beziehungen in Israel. Seit 2014 ist er Direktor für Strategie am Givat Haviva Center for Shared Society (sowie zwischen 2000 und 2005) und war Mitglied des Drei-Sektoren-Rundtisches im Büro des Premierministers und der Behörde für das strategische Planungsteam für die wirtschaftliche Entwicklung des arabischen Sektors im Büro des Premierministers.

Das könnte Sie auch interessieren

The Iran Question, Again

Galip Dalay is research director at Al Sharq Forum, visiting scholar at the University of Oxford, and non-resident fellow at Brookings Institution, Doha Centre. He is a future Richard von Weizsäcker Fellow of the Robert Bosch Academy.  

Weiterlesen

Vorgestellt: Ertharin Cousin

Ertharin Cousin ist Distinguished Fellow am Chicago Council on Global Affairs und Gastdozentin am Freeman Spogli Institute for International Studies der Stanford University. Von 2012 bis 2017 war sie Executive Director des Welternährungsprogramms der...

Weiterlesen

"Russland ist Teil der europäischen Kultur."

"In der Kunst, Musik und Literatur genauso wie im Sport gibt es eigentlich keinen Unterschied" —  Interview mit Maxim Trudolyubov

Weiterlesen