Der Klimawandel ist kein Problem, sondern ein Symptom
Internationalen Abkommen zum Umweltschutz zeigen nicht die erforderliche Wirkung. Dabei mangelt es nicht an Rechtsinstrumenten, das Problem eher liegt in der Umsetzung. Die Zivilgesellschaft kann dazu beitragen, dies zu ändern. Ein Interview mit María Fernanda Espinosa.
Frau Espinosa, vor fast 30 Jahren fand der „Earth Summit“ in Rio de Janeiro statt, bei dem sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung austauschten. Er gilt als Startpunkt für die globale Klima- und Umweltpolitik...
María Espinosa: Der Nachhaltigkeitsgedanke, wie wir ihn heute kennen, ist sogar noch älter. Anfang Juni dieses Jahres findet in Schweden das „Stockholm+50“-Treffen statt, mit dem an die erste UN-Umweltkonferenz erinnert wird: Im Jahr 1972 diskutierten Vertreter:innen von 130 Staaten und der Zivilgesellschaft über den Schaden, den wir Menschen mit unserem Leben und Wirtschaften an der Umwelt verursachen. Und sie diskutierten, dass auf globaler Ebene etwas dagegen getan werden muss. Die damals verabschiedete Erklärung war der erste Appell an die Menschheit, ein Entwicklungsmodell anzustreben, das die Ökosysteme und damit unsere Lebensgrundlage bewahrt. Es war gewissermaßen der Gründungsmoment der internationalen Umweltpolitik.
Durch die Konferenz in Rio 1992 kamen einige zentrale Umweltabkommen zustande: die Erklärung zu Umwelt und Entwicklung, die Klimarahmenkonvention, die Biodiversitätskonvention und das Übereinkommen zur Bekämpfung der Wüstenbildung. Nur auf ein verbindliches Abkommen zum Thema Wald hat man sich bis heute nicht einigen können. Es gibt inzwischen mehr als 250 multilaterale Abkommen zum Umweltschutz. An Rechtsinstrumenten mangelt es nicht. In einigen Berichten wird sogar von mehr als 2.000 regionalen und subregionalen Instrumenten gesprochen. Das Problem eher liegt in der Umsetzung.
Als Außenministerin Ecuadors haben Sie viele internationale Klimagipfel erlebt. Wie kann es gelingen, deren Abkommen besser umzusetzen?
Was wir jetzt brauchen, sind vor allem Kooperation und klare gemeinsame Ziele. Und eine bessere Kommunikation zwischen den Entscheidungsträger:innen in Politik und Wirtschaft, der wissenschaftlichen Gemeinschaft und den Menschen, die an der Basis arbeiten. Die Stimmen der Menschen, die vor Ort leben, die Bewahrer, müssen lauter werden – und die anderen Gruppen müssen sie auch hören wollen. Wir haben einen gemeinsamen Fahrplan, Ziele für nachhaltige Entwicklung und buchstäblich Hunderte von Umweltvereinbarungen. Wir sollten jetzt handeln und den normativen Rahmen mit dem politischen Willen verbinden.
Wie könnte eine so tiefgreifende Kooperation der verschiedenen „Communitys“ erreicht werden?
Zentral sind auch hier Übernahme von Verantwortung und Mechanismen zur Einhaltung der Vorschriften. Wir brauchen einen globalen Pakt zugunsten der Natur mit klaren Vorgaben, wer was machen muss. Es geht nicht nur um Regierungen. Auch die Gesellschaft, auch Unternehmer:innen, Wissenschaftler:innen, Lokalpolitiker:innen und Aktivist:innen, alle müssen ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Das Zweite sind Haftungsmechanismen, wie beispielsweise Klimaklagen, die vor den Verwaltungs- und Verfassungsgerichten verhandelt werden müssen. Leider ist das vielleicht der stärkste Abschreckungsfaktor für Maßnahmen, die sich nicht gegen unsere eigene Existenz richten.
Drittens brauchen wir einen ganzheitlichen Blick auf die Umweltkrise: Aktuell betrachten wir die Ökosysteme der Meere getrennt von den Wäldern, die Ausbreitung der Wüsten getrennt von einer Strategie gegen den Wassermangel, Biodiversitätspolitik getrennt von den Bemühungen zur Anpassung an den Klimawandel – das ist eine sehr westliche Herangehensweise. Die Natur kennt solche Grenzen nicht. Ökosysteme sind miteinander verbunden. Wir brauchen einen übergreifenden internationalen Rahmen. Einen globalen Pakt für die Umwelt.
Ich sage immer, der Klimawandel ist kein Problem, er ist ein Symptom. Wie ein Fieber. Wenn Sie Fieber haben, stimmt etwas mit Ihrem Körper nicht. Und die Erde ist unser Körper. Was wirklich nicht funktioniert, ist unser so verbrauchsintensives wie ungleiches Entwicklungs- und Wirtschaftsmodell.
Wie können wir die Erde heilen, wenn der politische Wille fehlt?
Es stimmt, dass der politische Wille oft fehlt. Aber denken Sie einen Moment lang an ein Land wie meine Heimat Ecuador. Mehr als 40 Prozent der Exporte des Landes entfallen auf die Ölindustrie. Wenn Sie Präsidentin von Ecuador wären und Lehrer:innen und Ärzt:innen bezahlen müssten, mehr in die Infrastruktur investieren müssten, würden Sie den Ölexport angesichts der explodierenden Preise durch den Ukraine-Krieg nicht auch steigern? Ärmere Länder und der Globale Süden müssen sehr schwierige Entscheidungen treffen. Gleichzeitig geben die G20-Länder Billionen US-Dollar gegen die Folgen der Corona-Pandemie aus, und nur sehr wenig davon fließt in die armen Länder des Globalen Südens und den dringend benötigten ökologischen Wandel. Laut der OECD können nur 17 Prozent der Konjunkturprogramme der Industrieländer als „grün“ bezeichnet werden. Ich will damit zwei Dinge sagen: Erstens ist es jetzt an den G20-Ländern, bei sich daheim wie weltweit mehr in Klimaschutz zu investieren – vor allem in den Ländern, die durch den Klimawandel besonders verletzlich sind. Und zweitens ist die Klimakrise auch ein Symptom der globalen, sektorübergreifenden Ungleichheit, die wir aus einer ganzheitlichen, vernetzten Perspektive angehen müssen. Die Klimagerechtigkeit sollte im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen.
Welche Rolle können dabei lokale und indigene Gruppen einnehmen?
Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn hatte ich das Privileg, mit indigenen Völkern im ecuadorianischen Amazonasgebiet zusammenzuleben. Viele Lösungen, zum Beispiel zu nachhaltigem Wassermanagement oder der Bewahrung von Biodiversität, kommen aus diesen lokalen Gemeinschaften. Aber die Möglichkeiten dieser Gemeinschaften, auf nationalen und internationalen Bühnen gehört zu werden, sind sehr begrenzt. Dabei brauchen wir diese Stimmen und diese Erfahrungen sehr dringend, um kluge Entscheidungen auf allen Ebenen treffen zu können. Deshalb müssen wir auf internationaler Ebene Räume für Beteiligung schaffen und dann auch handeln. Worauf warten wir? Fast 170 Länder der Welt sind mittlerweile von Dürre und Trockenheit betroffen. Wir müssen handeln, und zwar schnell.
Wo auf der Welt sieht man das Ausmaß dieser Dürre am deutlichsten?
Ich war kürzlich in der Region des austrocknenden Tschadsees, der sich zwischen Kamerun, Tschad, Nigeria und Niger befindet. Dieser See stirbt als Folge des Klimawandels. Hunderttausende Menschen fliehen vor der Trockenheit, vor allem Frauen. Und mit der Trockenheit kommen Hunger und Konflikte. Hier sieht man die Geschlechterdimension des Klimawandels. In der Regel müssen überall dort, wo Wasserknappheit herrscht, Frauen schwere Wassercontainer kilometerweit schleppen. Es tut weh, das mitanzusehen. Es ist offensichtlich, dass wir nicht genug helfen.
Denken Sie, dass das Ausmaß der Krise der Mehrheit der Menschen bewusst ist?
Glauben Sie mir, die Frauen in Niger oder Burundi oder im Nordosten Brasiliens wissen besser als jede:r Wissenschaftler:in, was mit ihrer Umwelt passiert – und warum sie so weit laufen müssen, um an Wasser zu kommen. Wir alle wissen, was zu tun ist. Es sind unsere mangelnde Entschlossenheit und das Umsetzungstempo, die in Wirklichkeit eine soziale und ökologische Katastrophe anheizen. Neben der Umweltkrise haben wir es mit einer Wertekrise zu tun. Zu häufig werden heute Entscheidungen durch Gier, persönliche Interessen und Egoismus geleitet. Was wir aber brauchen sind Solidarität, Empathie, Großzügigkeit, im Grunde das Konzept radikaler Liebe, wie ich neulich von einer weisen Person gelernt habe.
Wir brauchen dringend eine neue Erzählung, um besser erklären und verstehen zu können, was mit unseren Gesellschaften in diesem vom Menschen geprägten Zeitalter geschieht. Wissen Sie, ich glaube fest an die Macht der Worte. Was uns als Menschen von anderen Arten unterscheidet, ist die Sprache. Unsere Fähigkeit, Gefühle in Sprache zu übersetzen. Auch unsere Wut. Diese Macht müssen wir nutzen, um eine andere Wirklichkeit zu erschaffen. Ich lese immer wieder die Gedichte von Maya Angelou. Einmal sagte sie auf einer Lesung in New York: „Wenn du die Welt verändern willst, dann versuche, niemals normal zu sein.“
Verlieren Sie manchmal die Hoffnung?
Es gibt schon Momente der Enttäuschung, ja. Eine Viertelmilliarde Menschen lebt in extremer Armut. Wenn ich sehe, wie viele Menschen hungern, während gleichzeitig Tonnen von Lebensmitteln verschwendet werden. Die Corona-Impfquote in Afrika liegt noch immer bei sieben bis acht Prozent, während ich bald meine vierte Impfung bekomme. Manchmal denke ich an all die Stunden, die ich gearbeitet habe, und frage mich, ob es das wert war. Die moralischen und ethischen Dimensionen der Ungleichheit machen mir Angst. Wie kann man das Sterben von Menschen in alten und neuen Konflikten, das Sterben an vermeidbaren Krankheiten oder an Hunger rechtfertigen oder erklären? Trotzdem sollten wir nicht zulassen, dass uns Verzweiflung lähmt. Wir alle haben die Verantwortung zu handeln. Wir müssen die Hoffnung und den moralischen Kompass bewahren, um den Weg fortzusetzen.
Und was hilft Ihnen in solchen Momenten?
Die Poesie. Sie ist für mich das wirkungsvollste Schmerzmittel.
Eine längere Version dieses Interviews erschien zunächst auf der Seite der Robert Bosch Stiftung.
María Fernanda Espinosa diente als Präsidentin der 73. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (2018/19) sowie als ecuadorianische Außenministerin, Ministerin für das Kultur- und Naturerbe und Verteidigungsministerin. Sie ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
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