Digitalisierung im Gesundheitswesen: Lehren aus Deutschland und England
Innovation und der Einsatz von Technologien im Gesundheitssystem sind ohne Inklusion nutzlos.
Von Shera Chok
Die vergangenen drei Jahre haben gezeigt, wie Technologie und Daten eine entscheidende Rolle dabei spielen, Ländern auf der ganzen Welt zu helfen, Patienten eine sichere und wirksame Versorgung zu bieten, gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern und begrenzte Ressourcen zweckmäßig einzusetzen. Die Pandemie hat das Tempo des digitalen Fortschritts im Gesundheitswesen beschleunigt, in Bezug auf Behandlungen, Fernkonsultationen und dem Online-Zugang zu Gesundheitsinformationen. Sie hat auch bestehende Ungleichheiten bei der Gesundheitsversorgung aufgezeigt sowie, dass nutzerzentrierte Lösungen erforderlich sind, um den Bedürfnissen aller Gruppen gerecht zu werden.
Obwohl Deutschland über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt verfügt, ist klar, dass es beim Reifegrad seines digitalen Gesundheitssystems anderen Ländern hinterherhinkt. Im März 2023 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium unter dem Titel „Gemeinsam Digital“ die deutsche Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege. Darin erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach: „Die Digitalisierung birgt für die Gesundheits- und Pflegeversorgung ein enormes Potenzial, das bislang noch zu wenig genutzt wird.“ Im Oktober 2023 starteten Lauterbach und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft zudem den Erarbeitungsprozess des Aktionsplans für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen. „Barrieren beim Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, Sprachbarrieren oder Diskriminierung“, so Lauterbach, „es kann unterschiedliche Barrieren geben, die den Menschen den Zugang zur Versorgung erschweren. Das wollen wir ändern... Die beste Gesundheitsversorgung hilft nicht, wenn nicht alle Zugang dazu haben.“ Bei der Umsetzung der Digitalisierungsstrategie hat Deutschland die einmalige Chance, diese Strategie mit der Bereitstellung eines diversen und inklusiven Gesundheitssystems in Einklang zu bringen: mit gleichberechtigtem Zugang und einem Augenmerk auf die Beseitigung von Diskriminierung.
Wie wird die Digitalisierung umgesetzt?
In der Strategie werden mehrere zentrale Ziele und Prioritäten formuliert, darunter die elektronische Patientenakte (ePA), eine vollständige digitale Medikationsübersicht für Versicherte, höhere Qualität, schnellere Verfügbarkeit und mehr Rechtssicherheit bei der Datennutzung, Datenschutz und Datensicherheit, die Aufhebung der Beschränkung der Telemedizin auf 30 Prozent der Sprechstunden sowie eine Aktualisierung der Ziele und Verantwortlichkeiten der Gesellschaft für Telematik (gematik GmbH) und ihre Weiterentwicklung zur Digitalen Gesundheitsagentur.
Zu den Zielen gehören:
- Bis zum Jahr 2025 sollen 80 Prozent der gesetzlich Versicherten über eine elektronische Patientenakte (ePA) verfügen;
- bis 2026 wird es in mindestens 60 Prozent der hausärztlich unterversorgten Regionen eine Anlaufstelle für assistierte Telemedizin geben;
- im Jahr 2026 erfolgen 80 Prozent der Kommunikationsvorgänge im Gesundheits- und Pflegewesen papierlos.
Im August 2023 hat das Bundeskabinett die Entwürfe für ein Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (DigiG) und ein Gesetz zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten (GDNG) beschlossen. Der Zeitrahmen für die Umsetzung der Ziele ist ehrgeizig, insbesondere vor dem Hintergrund früherer Versuche zur Digitalisierung des Gesundheitswesens in den vergangenen zehn Jahren, der derzeitigen Datensilos und des Widerstands wichtiger Akteure des Gesundheitssystems gegen einige der Änderungen.
Ich habe im Sommer 2023 drei Monate in Deutschland verbracht, um den deutschen Ansatz zur Digitalisierung zu analysieren und ihn mit dem englischen zu vergleichen. Ich sprach mit einer Vielzahl von Akteur:innen über die aktuelle Nutzung digitaler und datenbasierter Tools, darunter Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Patient:innen, Versicherer und digitale Führungskräfte.
Von den Stakeholdern erhielt ich unter anderem folgendes Feedback:
- „Das IT-Team ist ein Helpdesk“, sagte ein Kliniker, der sich mit digitaler Gesundheit beschäftigt.
- „Wir reden schon seit mehr als zehn Jahren über [eine elektronische Gesundheitsakte]“, sagte ein Leiter für Digitalisierung.
- „Niemand kann in Deutschland Gesundheitsdaten in großem Umfang austauschen“, hieß es auf der BMG-Digitalkonferenz in Berlin im Juni 2023.
Geringer Datenaustausch und Interoperabilität
Kliniker:innen kommunizieren größtenteils über Papierakten miteinander, wobei der Datenaustausch und die Interoperabilität minimal sind. Zum Beispiel werden Überweisungen von Hausärzt:innen immer noch per Fax an Krankenhäuser geschickt. Weniger als ein Prozent der Patient:innen haben Zugang zu ihrer elektronischen Gesundheitsakte. Die Gesundheitslandschaft ist stark fragmentiert, und die Kontinuität der Versorgung ist unterschiedlich. Den Patient:innen steht es in der Regel frei, die Primärversorgung oder Fachärzt:innen ihrer Wahl aufzusuchen. Dies hat zur Folge, dass die Daten in der Primärversorgung, in Krankenhäusern und bei Versicherern in abgegrenzten Datensilos liegen. Dies schränkt die Möglichkeiten zur Datenanalyse auf Bevölkerungsebene ein sowie darauf basierende Entscheidungen und Planung der Gesundheitsdienste.
In stark dezentralisierten Verwaltungsstaaten wie Deutschland ist es schwieriger, einen nationalen Konsens zu erreichen, wenn es um die Einführung und den Reifegrad digitaler Systeme geht. Die Führungsverantwortung in der Digitalisierung, das klinische Engagement und die Unterstützung für die Digitalisierung sind unterschiedlich, und wie im britischen National Health Service (NHS) gibt es eine schnell wachsende Kluft Lücke bei den Informatikkenntnissen. Anders als beim NHS gibt es jedoch keinen koordinierten Plan für die Entwicklung digitaler Arbeitskräfte, den Ausbau von Fachinformatikkapazitäten oder den Aufbau von Netzwerken von Führungskräften im Bereich der digitalen Gesundheit.
Diversität von Daten für eine inklusive Gesundheitsversorgung
Trotz der zunehmenden internationalen Rekrutierung gibt es im Gesundheitswesen in Deutschland nur eine minimale Diversität in den Führungsetagen und einen Mangel an Daten zu ethnischer Herkunft und Gesundheit. Dies trägt zu gesundheitlichen Ungleichheiten und Voreingenommenheit bei und kann diese noch verschärfen. In den USA und im Vereinigten Königreich ist die Gesundheit von Müttern eines der deutlichsten Beispiele für gesundheitliche Ungleichheit aufgrund der ethnischen Herkunft. Im Vereinigten Königreich ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen schwarzer ethnischer Herkunft während der Schwangerschaft sterben, nach wie vor viermal höher als bei weißen Frauen.
Auch bei der Morbiditäts- und Mortalitätsrate gibt es in einigen ethnischen Gruppen erhebliche Unterschiede, z. B. bei Covid und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sowie gravierende Ungleichheiten beim Zugang zu psychiatrischen Behandlungen. Das Datenvakuum in Deutschland bedeutet, dass niemand weiß, ob Patient:innen mit Migrationshintergrund andere Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung machen, ob es für sie andere klinische Ergebnisse gibt oder bestimmte Krankheiten bei ihnen in einer anderen Häufigkeit auftreten. Ich konnte auch keine einzige leitende digitale Führungskraft in Organisationen des Gesundheitswesens wie Krankenhäusern und kommunalen Kliniken finden, die sich als weiblich und Person of Color identifizierte. Dabei haben 24 Prozent der Gesamtbevölkerung eine Einwanderungsgeschichte, und die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen sind überwiegend weiblich.
Wie kann digitale Innovation auch zu einem vielfältigen und barrierefreien Gesundheitssystem führen?
Ich war 30 Jahre lang im Gesundheitswesen tätig, sowohl in England als auch in den USA, Laos, Indonesien und im Sudan. Ich habe nationale Gesundheitspolitik, digitale Programme und integrierte Versorgungsmodelle geleitet und umgesetzt. Hier sind einige Schlüsselempfehlungen, die Ländern, darunter auch Deutschland, helfen können, den digitalen Wandel in großem Maßstab umzusetzen:
1. Ausgangspunkt sind die Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung, nicht die Technologie
Es ist sehr verführerisch zu glauben, dass eine neue App, eine Software, ein KI-Algorithmus oder ein anderes Produkt, wenn es einmal implementiert ist, die Probleme im Bereich Gesundheit und Pflege lösen wird, ohne das eigentliche Problem zu betrachten, das es zu lösen gilt, und ohne die Menschen einzubeziehen, nämlich die Patient:innen und die Mitarbeiter:innen im Gesundheitssystem.
Was treibt die digitale Transformation an? Das Ziel sollte darin bestehen, die fünf vom Institute for Healthcare Improvement (IHI), eines internationalen Think Tanks und Forschungsinstituts im Bereich des Gesundheitswesens mit Sitz in den USA, genannten Ziele zu erreichen:
- Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung;
- Verbesserung der Erfahrungen und Ergebnisse für die Patienten;
- Senkung der Pro-Kopf-Kosten für die Versorgung zum Nutzen der Gesellschaft;
- Erhöhung des Wohlbefindens und der Sicherheit der Arbeitskräfte;
- Förderung der gesundheitlichen Chancengleichheit.
Es wäre kontraproduktiv, dies erreichen zu wollen, ohne digitale und datengestützte Hilfsmittel zu nutzen oder groß angelegte digitale Veränderungen durchzuführen und vor allem ohne die Kernziele in den Mittelpunkt zu stellen. Wesentlich für den Erfolg sind von Anfang an klare Messgrößen, mit denen sich Fortschritte und Auswirkungen verfolgen lassen, sowie robuste Sicherheitsprozesse auf der klinischen Ebene und funktionierende Governance-Prozesse.
Aus der Umsetzung anderer großer Transformationsprogramme im Gesundheitswesen lassen sich Lehren ziehen. Digitalisierung bringt zusätzliche Dimensionen mit sich, die die Komplexität erhöhen, wie etwa die Steuerung und Überwachung von Informationen, Cybersicherheit, KI und Datenschutz. Schwere digitale Störfälle haben das Potenzial, Millionen von Menschen zu betreffen und Gesundheitsdienste lahmzulegen. Aufgrund der sich rasch entwickelnden technologischen Fortschritte werden Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sowie die Fähigkeit, künftige Trends zu erkennen, für die Gesundheits- und Pflegesysteme auf der ganzen Welt immer wichtiger.
2. Investitionen in digitale Arbeitskräfte und Führung
Die Verankerung eines umfassenden Wandels in der Gesundheitsversorgung wird nicht durch Zauberei oder Gesetze allein gelingen. Es ist schon schwer genug, Ärztinnen und Ärzte in einer einzelnen Klinik davon zu überzeugen, Veränderungen vorzunehmen – ganz zu schweigen von einer Verhaltensänderung auf nationaler Ebene. Deutschland muss digitale Vorreiter und glaubwürdige Informatikexperten ausbilden sowie dem gesamten Personal Unterstützung bieten, damit es Vertrauen in die Nutzung der Technologie entwickelt. Und im Gesundheitssystem müssen Führungspersönlichkeiten Verantwortung erhalten, die in der Lage sind, Vertrauen und Konsens zu schaffen.
Bei NHS Digital habe ich das größte Team klinischer Informatikexpert:innen in England geleitet, die aus den unterschiedlichsten Bereichen kamen und an über 70 Daten- und Digitalprogrammen arbeiteten. Dies ermöglichte dem NHS die erfolgreiche Einführung digitaler Produkte und Dienste wie der NHS-Website, der Gesundheits-App, elektronischen Überweisungen zu Arztpraxen und Kliniken, elektronischen Rezepten und Online-Impfbuchungssystemen. Diese digitalen Angebote des Gesundheitssystems werden von Millionen von Menschen genutzt.
Der NHS-Plan für die digitale Gesundheits- und Sozialfürsorge im Vereinigten Königreich macht deutlich: „Um die digitale Transformation zu erreichen, müssen wir bei den Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen eine allgemeine digitale Kompetenz, digitale Fachkenntnisse und digitale Führungsqualitäten aufbauen.“ Der NHS England wird einen nationalen Plan für digitale Arbeitskräfte veröffentlichen. Programme wie das NHS Digital Health Leadership Program und das Shuri Digital Fellowship haben dazu beigetragen, die nächste Generation von digitalen Führungskräften aufzubauen. The Topol Review, ein unabhängiger Bericht, der 2019 im Auftrag des britischen Gesundheitsministeriums erstellt wurde, enthält auch Empfehlungen, wie die Arbeitskräfte im Gesundheitswesen durch Bildung und Ausbildung vorbereitet werden können.
Karrieren in der Digital- und Datenbranche werden oft als exklusiv angesehen, mit unklaren Einstiegsmöglichkeiten und Stellenbeschreibungen, die Bewerber:innen aus unterrepräsentierten Gruppen wie zum Beispiel Frauen von einer Bewerbung abhalten können. Dies muss sich ändern, da wir das Talent und Potenzial in unseren Teams nicht voll ausschöpfen. Gleiche Aufstiegschancen und die Beseitigung des geschlechts- und herkunftsspezifischen Lohngefälles sind von entscheidender Bedeutung, wenn wir die qualifiziertesten Mitarbeiter:innen in diesem Bereich gewinnen und halten wollen.
3. Die IT ist mehr als ein Helpdesk
Datenmanagement und IT sollten als Teil der strategischen Führung von Gesundheitsorganisationen betrachtet werden. Wenn Reformen des Gesundheitssystems im weiteren Sinne erörtert werden, sollten die Verantwortlichen für Datenmanagement, IT und Technologie mit am Tisch sitzen, um einen integrierten, evidenzbasierten Ansatz und eine klare Abstimmung zwischen Gesundheits- und Informatikprioritäten zu gewährleisten.
4. Die passende Basisinfrastruktur schaffen
Für viele unserer Beschäftigten im Gesundheitswesen stellt die IT eine zusätzliche Belastung dar: veraltete Geräte, schlechte Konnektivität, mehrfache Anmeldungen, ein Mangel an interoperablen Datensätzen und unzureichende Schulung im Umgang mit digitalen Tools. Dies und der hohe Arbeitsdruck wirken sich negativ auf die Arbeitsmoral und das Wohlbefinden des Personals und damit auf die Patientenversorgung aus.
Die Gesundheits- und Pflegesysteme müssen in die Infrastruktur (Hardware, Software, Konnektivität) investieren, damit das Personal effizienter und effektiver arbeiten kann. Es ist schön und gut, über Robotik, Wearables, Genomforschung und KI zu sprechen, doch wenn gleichzeitig Mitarbeiter:innen Schwierigkeiten haben, auf Patientenakten zuzugreifen, weil das WLAN zu langsam ist, wirkt sich das direkt auf die Heilungsergebnisse der Patienten aus. Unklar ist, wie hoch die Investitionen für die Umsetzung der digitalen Strategie in Deutschland sein werden und wer die Kosten angesichts der Komplexität der Transformation und des aktuellen digitalen Reifegrads tragen wird.
Schlussbemerkung
Die Technologie mag hervorragend funktionieren, aber was den Patientinnen und Patienten am meisten in Erinnerung bleibt, ist, wie sie behandelt werden. Die nächsten Jahre sind eine Chance für Deutschland, die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen neu zu gestalten und dabei Daten und Technologie zu nutzen, um die gesundheitliche Chancengleichheit, Innovation, Effizienz und Kommunikation zu verbessern, Diskriminierung abzubauen und die Forschung zu unterstützen. Der strategische Einsatz von Gesetzen und nationalen Anreizen, die Einbindung von Interessengruppen, das Lernen von anderen Gesundheitssystemen und die Tatsache, dass der Mensch und nicht die Technologie im Mittelpunkt der digitalen Transformation steht, werden die Erfolgschancen erhöhen und die Veränderungen bewirken, die die Bevölkerung verdient.
Shera Chok ist Vorsitzende und Gründerin des mehrfach preisgekrönten Shuri Network, des ersten britischen Netzwerks im National Health Service (NHS) für Frauen, die dort im Bereich Gesundheitstechnologie und Datenverarbeitung beschäftigt sind und ethnischen Minderheiten angehören. Sie verfügt über 30 Jahre Erfahrung als Ärztin im NHS und hat Programme zur Verbesserung der Patient:innensicherheit sowie für Diversity und Innovation geleitet. Sie ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Quarterly Perspectives
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