Wie schafft Deutschland die digitalpolitische Wende?
Die neue Bundesregierung hat die digitalpolitische Wende als eines ihrer Ziele ausgerufen. Um Regierung und Verwaltung fit für den digitalen Wandel zu machen, muss sie drei Herausforderungen dringend angehen: Auf- bzw. Ausbau von interner Expertise, Öffnung für Austausch und Kollaboration sowie Vereinfachung von Zuständigkeiten.
Von Stefan Heumann
In der Digitalpolitik steht die neue Bundesregierung vor großen Herausforderungen. Deutschland hat im vergangenen Jahrzehnt den Anschluss an europäische Vorreiter wie Dänemark, Finnland oder Estland verloren. Ob digitaler Unterricht, die Möglichkeit Behördengänge online abzuwickeln oder die Verfügbarkeit leistungsstarker Breitbandanschlüsse – die Covid-19 Pandemie hat uns die Versäumnisse der Digitalpolitik plastisch vor Augen geführt.
Wirtschaft und Gesellschaft hoffen, dass mit der neuen Bundesregierung endlich die digitalpolitische Wende kommt. Allerdings ist die Kluft zwischen digitalpolitischen Versprechen und tatsächlich Erreichten nicht neu. Schon 2014 wollte die Bundesregierung Deutschland mithilfe der “Digitalen Agenda” zu einem digitalen Vorreiter in Europa machen. Tatsächlich häufen sich seither nicht eingelöste Versprechen, während das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unserer politischen Institutionen gesunken ist.
Mangelnde Anpassung in Regierung und Verwaltung als Kern des Problems
Die Gründe für die schlechte digitalpolitische Bilanz der vergangenen Jahre sind vielfältig. Viel wird über Personen und Programme geredet. Zu wenig Beachtung finden in der Diskussion die schwerwiegenden strukturellen Probleme, die einer erfolgreichen Digitalpolitik im Wege stehen. Um Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen sind deshalb tiefgreifende und damit auch schmerzhafte Reformen notwendig.
Der Wandel zu einer Informationsgesellschaft hat in Wirtschaft und Gesellschaft zu grundlegenden Veränderungen geführt. Die Dynamik und Komplexität der mit diesem Wandel einhergehenden technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen erfordert neue Organisationsformen und -kulturen. Während Unternehmen mit neuen Formen von Wissensaustausch, Netzwerkbildung und Arbeitsorganisation experimentieren, haben Arbeitsweise und -abläufe in Regierung und Verwaltung sich indes kaum verändert. Hier liegt der Kern des Problems, warum es in der Digitalpolitik hierzulande im letzten Jahrzehnt so wenig Fortschritte gab. Institutionen und Prozesse in Regierung und Verwaltung sind nicht angepasst worden, um den neuen Herausforderungen der Informationsgesellschaft gerecht zu werden.
Die Agenda für die digitalpolitische Wende
Was muss passieren? Politische Entscheidungsträger:innen müssen Regierung und Verwaltung als lernende Organisationen begreifen und diese entsprechend weiterentwickeln. Nur so werden sie mit der durch digitale Technologien ausgelösten Veränderungsdynamik produktiv umgehen können. Lernfähigkeit ist die Grundlage, um die Handlungsfähigkeit in der Digitalpolitik zurückzugewinnen. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP verbindet zurecht den digitalen Aufbruch mit einem Wandel hin zu einem lernenden Staat. Aber was heißt das konkret? Aus meiner Sicht müssen auf dem Weg zum lernenden Staat und erfolgreicher Digitalpolitik vor allem drei Herausforderungen dringend angegangen werden: Auf- bzw. Ausbau von Expertise zum digitalen Wandel, Öffnung für Austausch und Kollaboration und Vereinfachung von Zuständigkeiten. Diese drei Bereiche müssen im Mittelpunkt einer umfangreichen Reformagenda stehen, um Regierung und Verwaltung fit für den digitalen Wandel zu machen.
Aufbau und Entwicklung von Expertise
Regierung und Verwaltung sind bei Digitalisierungsvorhaben von externen Beratern abhängig geworden. Es muss dringend eigene Expertise auf- und ausgebaut werden, um Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Hierzu muss der öffentliche Dienst den Wettbewerb um die Innovatoren der digitalen Transformation aufnehmen. Dies wird nicht ohne grundlegende Reformen im Staatsdienst gelingen. Insbesondere die Leitungsebenen müssen viel offener für Besetzungen durch externe Expert:innen werden. Zudem müssen eigene Innovator:innen gestärkt und bestehende Expertise mit einer Weiterbildungsoffensive ausgebaut werden.
Öffnung für Austausch und Kollaboration
Die Öffnung nach außen beruht auf der Einsicht, dass keine Organisation, so groß und ressourcenreich sie auch sein mag, die Herausforderungen des digitalen Wandels allein meistern kann. Während gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure Wissenssilos aufbrechen und sich für Kollaboration öffnen, wirken Ministerien und Regierungsapparate oft wie Trutzburgen, die sich von der Außenwelt abkapseln. Abschottung und Informationskontrolle verhindern, dass staatliche Institutionen wichtige Impulse von außen aufnehmen und produktiv mit ihnen umgehen können.
Offenheit muss endlich als strategischer Ansatz für gutes Regierungshandeln erkannt und gelebt werden. Hierzu braucht es Unterstützung auf der politischen Leitungsebene und den Aufbau entsprechender Kompetenzen für organisationsübergreifende Vernetzung, Austausch und Kollaboration.
Vereinfachung der Governance
Deutsche Digitalpolitik muss der Komplexitätsfalle entkommen. Die Bundesländer haben wichtige Zuständigkeiten bei zentralen Themen wie Datenschutz oder Medienregulierung. Hinzu kommt die gestiegene Bedeutung der EU als Regulator der Digitalwirtschaft. Deutscher Föderalismus in Kombination mit dem wachsenden Einfluss von Brüssel sorgen für enormen Koordinierungs- und Abstimmungsaufwand. Dieser Aufwand bindet wichtige Ressourcen und kostet viel Zeit. Es macht wenig Sinn, sechzehn Bundesländer bei digitalpolitischer Regulierung mitreden zu lassen. Denn das Internet sieht in Deutschland überall gleich aus.
Nur mit einer Vereinfachung der Zuständigkeiten und einer Bündelung von Ressourcen gewinnt die Politik die Fokussierung auf die Bearbeitung der eigentlichen Probleme zurück. Und nur so werden die Voraussetzungen für effiziente Entscheidungsprozesse geschaffen. Das wird nur gelingen, wenn wir uns an zentrale Strukturfragen wagen. Statt immer wieder die Bedeutung der EU als Regulator der Digitalwirtschaft zu betonen, sollten wir auch endlich so handeln. Zusätzlich brauchen wir eine Weiterentwicklung des Föderalismus als zentralen Baustein einer übergreifenden Reform digitalpolitische Zuständigkeiten in Deutschland zu vereinfachen und in effektiven Institutionen zu bündeln.
Es muss höchste Priorität der neuen Bundesregierung sein, die hier skizzierte Reformagenda anzustoßen und das Konzept des „lernenden Staats“ mit Leben zu füllen. So schaffen wir die Voraussetzungen, damit der digitale Aufbruch ins 21. Jahrhundert auch wirklich gelingen kann.
Dr. Stefan Heumann ist Politikwissenschaftler und Mitglied des Vorstands der Stiftung Neue Verantwortung (SNV). SNV und die Robert Bosch Stiftung arbeiten im Rahmen einer strategischen Partnerschaft zusammen.
Quarterly Perspectives
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