Europa am Rande eines Kollapses auf dem rechten Flügel
Wir können die sehr reale Bedrohung der extremen Rechten nicht einfach verschwinden lassen
von Nathalie Tocci
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wurde von vielen ein Rechtsruck erwartet. Die Ergebnisse haben diese Erwartung sowohl bestätigt als auch entkräftet, doch ein Worst-Case-Szenario ist immer noch möglich. Die Erwartung eines Rechtsrucks hat sich in den beiden größten europäischen Ländern, Frankreich und Deutschland, bestätigt. In Frankreich lag der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen in den Umfragen mit 17 Punkten Vorsprung vor der Partei En Marche, an deren Spitze Präsident Emmanuel Macron steht.
Macrons Wette
Macron reagierte darauf mit der Ausrufung von vorgezogenen Parlamentswahlen für den 30. Juni, die diesen Rechtsruck weiter unterstrichen und zum ersten Mal den Weg für eine rechtsextreme Regierung ebneten. Während der RN im ersten Wahlgang tatsächlich vorne lag, schloss sich für den zweiten Wahlgang vom 7. Juli eine neue Parteienallianz (Nouveau Front Populaire) gegen Le Pens Rassemblement zusammen, und die Bürger wählten diese neue Allianz. Macrons Wette ist teilweise aufgegangen. Die Gefahr einer rechtsextremen Regierung ist vorerst gebannt, doch wer Frankreich in den nächsten Monaten regieren wird und ob es einer neuen Regierung gelingen wird, ihre Politik in den kommenden Jahren umzusetzen, bleibt höchst unklar. Noch weniger klar ist, ob all dies die Rechtsextremen bei ihrer Bewerbung um die Präsidentschaft im Jahr 2027 schwächen oder stärken wird. Darüber wird die Zukunft entscheiden.
In Deutschland bezogen alle drei Parteien der Regierungskoalition – SPD, Grüne und FDP – Prügel, und die Rechtsaußen-Partei Alternative für Deutschland (AfD) behauptete sich als zweitstärkste Oppositionspartei hinter den Christdemokraten von der CDU. Die Wahl-Landkarten von Frankreich und Deutschland sind verblüffend: In Frankreich ist die braune Farbe, die den Sieg des RN anzeigt, allgegenwärtig; in Deutschland ist das Ost-West-Gefälle so tief wie eh und je, wobei die AfD ihren Einfluss in Ostdeutschland verstärkt hat. Auch in anderen europäischen Ländern wie Italien und Österreich liegen die Parteien des rechten Rands in den Umfragen vorn. Giorgia Melonis Fratelli dItalia (FdI) war eine der wenigen Regierungsparteien, die ihren Anteil im Vergleich zu den nationalen Wahlen, die sie an die Macht brachten, steigern konnte.
Kein Rechtsruck in der Mehrzahl der Länder
In den meisten europäischen Ländern und auf EU-Ebene wurde das Narrativ des Rechtsrucks jedoch entkräftet. In Polen bestätigte die von Ministerpräsident Donald Tusk geführte Koalition ihren Vorsprung vor der Rechtsaußen-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). In den Niederlanden belegte das oppositionelle sozialistisch-grüne Bündnis den ersten Platz und überholte die rechtspopulistische Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders, die jetzt an einer Regierungskoalition beteiligt ist. In Spanien, Schweden, Finnland, Dänemark, der Tschechischen Republik, Bulgarien und sogar in Ungarn schnitt die äußerste Rechte schlechter ab. Auch in Italien lag Meloni in den Umfragen zwar mit fast 29 Prozent an der Spitze, doch das ist weit entfernt von Matteo Salvinis 35 Prozent bei den Europawahlen 2019: Italiens Beitrag zum Aufschwung des rechten Flügels ist ein Minusgeschäft. Insgesamt haben die Rechtsextremen zugelegt, aber es handelt sich nicht um einen Erdrutsch: Die Parteien am äußersten rechten Rand der Fraktionen Identität und Demokratie (ID) und Europäische Konservative und Reformisten (EKR) im Europäischen Parlament haben ihren Anteil von rund 20 auf 24 Prozent erhöht.
Das bedeutet, dass die „regierende“ Mehrheit im Europäischen Parlament mit der Mitte-Rechts-Volkspartei, den Sozialisten und den Liberalen wahrscheinlich dieselbe bleiben wird. Wie beim letzten Mal wird dies wahrscheinlich nicht ausreichen, um die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit wiederzuwählen. Sie wird auch andere für sich gewinnen müssen. Die beiden prinzipiellen Optionen, die ihr jetzt zur Verfügung stehen, sind die Grünen und die EKR am rechten Rand.
Die Verlierer haben vielleicht auch noch eine Stimme
Die Grünen, die zu den großen Verlierern dieser Wahl gehören, sind möglicherweise kompromissbereiter als beim letzten Mal und vielleicht eher bereit, von der Leyen zu unterstützen. Die Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz hat das bereits angedeutet. Durch die Unterstützung von der Leyens könnten sie realistischerweise versuchen, den Europäischen Green Deal zu retten, mit dem von der Leyen ihren Namen verbunden hat (obwohl sie in den letzten Monaten viel zu bereit schien, ihm den Rücken zu kehren). Die Grünen werden vielleicht nicht in der Lage sein, ambitioniertere Klimaziele der EU durchzusetzen, insbesondere bei Themen wie der Agrarreform und dem Umweltschutz. Doch sie könnten dafür sorgen, dass der Druck zur Umsetzung der rechtlichen Verpflichtungen, die die EU in Bezug auf das Klima und die Energiewende bereits eingegangen ist, aufrechterhalten wird. Weiter könnten sie gleichzeitig darauf drängen, die Klimafinanzierung insbesondere im Globalen Süden im Zusammenhang mit dem nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU zu gegebener Zeit zu erhöhen. Mit der Unterstützung der Grünen könnte die pro-europäische Mehrheit Bestand haben.
Die Alternative wäre das Werben um die EKR und insbesondere um die Fratelli von Giorgia Meloni aus Italien. Meloni ist aus diesen Wahlen als klare Siegerin hervorgegangen, und von der Leyen mag denken, dass sie es sich nicht leisten kann, die italienische Premierministerin zu verprellen, insbesondere angesichts der geschwächten Positionen von Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz. Doch wie der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kürzlich in einem Interview erklärte, besteht keine Notwendigkeit, die Unterstützung aller Regierungsparteien zu gewinnen. Als er 2014 zum Kommissionspräsidenten gewählt wurde, hatte die britische Tory-Partei von David Cameron (damals in der EKR-Fraktion) gegen ihn gestimmt.
Die rechten Parteien isolieren?
Hinzu kommt, dass die Progressive Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) sich ermutigt fühlen könnte, Meloni und die EKR in Schach zu halten. Denn immerhin ist die größte nationale Delegation in der S&D-Fraktion die italienische Partito Democratico, die mit 24 Prozent überdurchschnittlich gut abschnitt und sehr wahrscheinlich nicht mit Meloni kooperieren wird. Auf der anderen Seite der Gleichung könnte Meloni selbst eher geneigt sein, die euroskeptische Karte zu spielen, sich von Ursula von der Leyen zu distanzieren und sich weiter an die Parteien auf der äußersten Rechten anzunähern. Das gilt besonders angesichts der Bildung der neuen Gruppe der „Patrioten“ unter der Führung von Victor Orban. Dieser Gruppe gehören auch die spanische, portugiesische, österreichische, niederländische und tschechische Parteien der extremen Rechte an. Vor allem, wenn Le Pens RN sich dieser Gruppe anschließen sollte, würde sie leicht zur drittgrößten im EP werden. Meloni, der sich zwischen Mitte-Rechts und einer noch weiter rechts stehenden Gruppe eingezwängt fühlt, könnte zu Letzterer tendieren.
Bislang hat sich Meloni nicht in die Karten schauen lassen und es vermieden, eine Wahl zu treffen. In den letzten anderthalb Jahren hat sie sich in Brüssel als gemäßigt und in Rom als radikal erwiesen, indem sie die Ukraine unterstützte und fest in der transatlantischen Gemeinschaft verankert blieb, während sie zu Hause ungeniert einen Personenkult, die Zentralisierung der Macht, den Nationalismus und die Aushöhlung der Bürgerrechte und der Medienfreiheit vorantrieb. Es ist ein Balanceakt, der für Meloni von Vorteil war, und sie wird zweifellos versuchen, ihn so lange wie möglich fortzusetzen.
Dieser Balanceakt wird wahrscheinlich nicht lange dauern. Die Stunde der Wahrheit könnte frühestens Mitte Juli kommen, wenn die Präsidentin der Europäischen Kommission dem Parlament ihre Agenda vorstellt und aus dem Amt gewählt wird. Spätestens bei den für Europa bedeutsamsten Wahlen in diesem Jahr, den Wahlen auf der anderen Seite des Atlantiks, wird die Stunde der Wahrheit schlagen. Sollte Donald Trump ins Amt zurückkehren, gäbe es keinen Grund, sich weiter zu verstellen. Ein pro-amerikanischer und pro-westlicher Kurs könnte dann durchaus mit einem Rückzug aus der Ukraine und einer aktiven Einschränkung von Rechten und Freiheiten innerhalb der EU vereinbar sein.
Vielleicht müssen Leute wie Meloni keine eindeutige Entscheidung treffen, vielleicht werden die Extremisten weiterhin unter Druck gesetzt, sich zu mäßigen, und vielleicht wird sich die EU weiterhin durchwursteln. Aber diese Europawahl sollte uns zumindest bewusst machen, dass die Dinge auch in eine ganz andere Richtung gehen können. Und das Schlimmste, was diejenigen, die an die EU und die ihr zugrunde liegenden Werte glauben, tun können, ist, den Kopf in den Sand zu stecken und das Problem einfach wegzuwünschen.
Quarterly Perspectives
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