Das Gesundheitsparadigma überdenken
Es muss ein grundlegender Wandel stattfinden, weg von der Betrachtung von Gesundheit als Kostenfaktor hin zu Gesundheit als Investition. Das System muss von einer immer fortschrittlicheren Behandlung zu einer Ethik der Prävention übergehen.
Von Bogi Eliasen
Unsere Gesundheitssysteme stehen unter enormem Druck. Die Nachfrage nach Behandlungsmöglichkeiten nimmt ständig zu, zum Teil, weil die kombinierte Krankheitslast – die Auswirkungen eines Gesundheitsproblems, gemessen an den finanziellen Kosten, der Sterblichkeit, der Morbidität oder anderen Indikatoren – zunimmt. Hierfür gibt es mehrere Gründe. In den letzten 150 Jahren hat sich unsere Lebenserwartung erhöht. Es hat sich auch die durchschnittliche Krankheitslast erhöht. Somit ist die kombinierte Krankheitslast für das Gesundheitssystem immer größer.
In der westlichen Welt konnten übertragbare Krankheiten erheblich zurückgedrängt werden: Die große Herausforderung sind die nicht übertragbaren Krankheiten. Diese werden weitgehend durch Lebensstil und Umweltfaktoren verursacht. Es ist wichtig zu betonen, dass wir alle sterben werden, die meisten von uns an Krankheiten. Die Herausforderung, vor der wir stehen, besteht darin, dass wir eine sehr hohe Rate an vermeidbaren Krankheiten haben, die hohe Kosten für die Lebensqualität und die Würde des Einzelnen sowie für die Ressourcen des Gesundheitssystems verursachen.
Wir haben jedoch als Naturgesetz akzeptiert, dass eine längere Lebensspanne mit einer höheren Krankheitslast einhergehen muss. Warum? Wir konzentrieren uns daher auf sehr fortschrittliche Behandlungen, wenn Menschen bereits krank sind, weil wir sowohl das Wissen als auch die Technologie haben, um zu helfen und einzugreifen. Um jedoch eine bessere Wirkung zu erzielen, müssen wir so früh wie möglich eingreifen, wenn die Krankheit geheilt oder in einem Stadium kontrolliert werden kann, in dem die Belastung für die betroffene Person so gering wie möglich gehalten wird. Wir schätzen, dass 30 Prozent der derzeitigen Krankheitslast vermeidbar sind. Unser Einheits-Paradigma, das unsere durchschnittliche Lebenserwartung von etwa 30 auf etwa 80 Jahre erhöht hat, hat uns gute Dienste geleistet, hat aber mittlerweile ausgedient. Wir brauchen eine neue Denkweise in Bezug auf Gesundheit und Krankenversorgung.
Würde als Konzept
Um sich dieser Frage zu nähern, müssen wir einen Schritt weg von der „Fabrik“-Denkweise im Gesundheitswesen machen. Das Gesundheitswesen bietet den Menschen ein besseres Leben und erfordert eine ständige Bewertung dessen, was wir für den einzelnen Menschen tun. Die Kernfrage ist, worauf wir abzielen: auf ein besseres Gesundheitssystem oder eine gesündere Bevölkerung? Das ist nicht dasselbe. Wir vergessen oft, dass die wichtigsten Faktoren für unsere höhere Lebenserwartung nicht unsere Gesundheitssysteme sind, sondern Faktoren wie sauberes Wasser, bessere und mehr Bildung, verbesserte Wohnverhältnisse, bessere Arbeitsbedingungen, Verkehrssicherheit und weniger Gewalt. Wir müssen uns wieder darauf konzentrieren, was die Menschen länger gesund hält, und wo und wie wir den Menschen am besten helfen können. Dazu gehört auch ein Umdenken darüber, was in Krankenhäusern geschehen muss und was besser außerhalb von Krankenhäusern geleistet werden kann.
Vierte industrielle Revolution
Wir erleben derzeit die vierte industrielle Revolution im Gesundheitsbereich: die Kombination von Daten, digitalen Funktionen, einem neuen Verständnis von Biologie und biologischen Werkzeugen, intelligenten Materialien und fortschrittlichen Bildgebungsverfahren. Wir arbeiten heute mit datengesteuerter Gesundheit, Echtzeitüberwachung, Genomik und fortschrittlicher Bildgebung als Teil der Erkennung und Behandlung. Wir haben zwei Jahrzehnte erlebt, in denen wir uns auf Präzisionsmedizin und Gesundheit konzentriert haben. Die Technologie und das Wissen sind nun bereit, in ein fortgeschritteneres Stadium einzutreten. Bei der Präzision geht es nicht nur um die Art der Behandlung, sondern auch um den Zeitpunkt der Diagnose, des Eingreifens und der Nachsorge. Die vorhandenen Technologien und Kenntnisse werden derzeit durch unsere Trennung von öffentlicher und personalisierter Gesundheit behindert. Es handelt sich um zwei Seiten derselben Medaille, bei denen wir neu darüber nachdenken müssen, wie wir gleichzeitig einen konzertierten öffentlichen und personalisierten Ansatz für die Gesundheit anwenden können. Eine der Kernfragen lautet: Wie setzen wir die Ressourcen dort ein, wo die Wirkung am größten ist?
Gesundheit als wichtigster gesellschaftlicher Pfeiler
In der Datenübersicht, die wir in Dänemark haben, gibt es klare Muster von Krankheitsverläufen, die zeigen, wer ein hohes Risiko für eine chronische Krankheit, aber auch für andere chronische Erkrankungen hat. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass Patient:innen mit zusätzlichen Krankheiten einen erheblichen Verlust an Lebensqualität erleiden und Komplikationen in den Gesundheitsdiensten auftreten. In der Initiative Nordic Health 2030, einer 2019 gestarteten Zusammenarbeit zwischen den nordischen Ländern, lautet eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, dass die Gesundheitssysteme wesentlich präventiver werden müssen. Die Hälfte des Gesundheitsbudgets sollte auf die Prävention ausgerichtet sein: Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass wir für unser Budget keine ausreichenden Gesundheitsergebnisse erzielen und dass die Systeme zusammenbrechen werden, wenn wir nichts ändern. Dies erfordert einen grundlegenden Wandel von der Betrachtung der Gesundheit als Kostenfaktor hin zu einer Betrachtung der Gesundheit als Investition. Wir müssen auch die Kosten der Untätigkeit erkennen. Während wir eine technologische Explosion erleben, konzentrieren wir uns nicht ausreichend auf den Aufbau von Kapazitäten auf allen Ebenen, um die Vorteile neuer Technologien und neuen Wissens zu nutzen.
Der Übergang von Lebensspanne zu Gesundheitsspanne erfordert ein radikales Umdenken. Wir müssen von der Frage, wie lange wir leben, zu der Frage übergehen, wie gut wir leben. Letztendlich wird sich unsere Lebenserwartung auch erhöhen, wenn wir uns darauf konzentrieren, wie gut wir leben können. Es ist sinnvoll, mit der Sekundärprävention zu beginnen. Zwar ist die allgemeine Prävention sehr wichtig, doch unser Ansatz besteht darin, mit der Sekundärprävention zu beginnen, d. h. mit der Person zu arbeiten, bei der eine chronische Krankheit am frühesten auftritt oder die ein hohes Risiko für eine chronische Krankheit aufweist. Dies ist nur mit einer neuen Denkweise möglich, die holistische und hyperspezialisierte Denkweisen kombiniert und miteinander verbindet. Es ist ein neuer Paradigmenwechsel; wir müssen neue Rahmen für Technologie und Gesellschaft schaffen.
Fairness, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit
Der Aufbau eines neuen Gesundheitsparadigmas hängt von der Technologie ab, wir müssen uns jedoch dessen bewusst sein, dass Technologie ein Hilfsmittel und nicht das Ziel ist. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was wir anstreben, nämlich eine gesündere Bevölkerung, zu der auch ein besseres Gesundheitssystem beiträgt. Aber das Ziel ist nicht das Gesundheitssystem selbst. Das Ziel ist der Aufbau einer gerechteren und gleichberechtigten Gesellschaft, die die Chance auf ein gesundes Leben bietet und niemanden zurücklässt.
Die Absicht, die hinter den von der öffentlichen Hand produzierten und/oder finanzierten Daten steht, ist entscheidend für die Schaffung lernender Gesundheitssysteme. Dies bezieht sich nicht nur auf direkte klinische Gesundheitsdaten, sondern auch auf gesundheitsrelevante Daten (alle Informationen, die für die Gesundheit/Behandlung und dergleichen relevant sind). Im Allgemeinen handelt es sich dabei um aggregierte Daten. Ebenso wichtig ist die Schaffung von Intent-Daten auf persönlicher Ebene, um sicherzustellen, dass der:die Einzelne stets Zugang zu verknüpften Daten über sich selbst hat. Dies könnte den Weg für die Integration sowohl öffentlicher als auch kommerzieller Daten durch eine einheitliche Data Intent-Strategie, wie von der Weltbank vorgeschlagen, ebnen.
Das Humanom-Modell ist ein Produkt der 2019 gestarteten Initiative Nordic Health 2030, die vom Copenhagen Institute for Future Studies in Zusammenarbeit mit der Organisation des Nordischen Rates, Nordic Innovation, geleitet wird. Dieses Projekt widmete sich der Stärkung der Zusammenarbeit im Gesundheitswesen, wobei der Schwerpunkt auf Daten, digitalen Fähigkeiten und Genomik lag. Im Mittelpunkt stand die Befähigung der Bürger:innen, indem ihnen der Zugang zu ihren persönlichen Daten ermöglicht wurde. Das Ziel war nicht nur die Bereitstellung von Daten, sondern auch die Gewährleistung ihrer Relevanz und ihres Wertes für den:die Einzelne:n. Daneben legte die Initiative einen Schwerpunkt auf die Einrichtung strenger Schutzmaßnahmen und Protokolle zur Wahrung der Datensicherheit, der Autonomie des:der Einzelnen und der Einhaltung von Verträgen.
Datensolidarität und kein Schaden
Die Schlüsselfrage für die Datensolidarität ist, ob eine bestimmte Art der Datennutzung wahrscheinlich einen bedeutenden öffentlichen Wert schafft, ohne übertriebene Risiken mit sich zu bringen. Das Digital Transformation Health Lab, das u. a. von Ilona Kickbuch und Barbara Praisack geleitet wird, schlägt die Einrichtung einer Stelle zur Schadensbegrenzung vor, die bei der Datenverwaltung hilft. Dieser Ansatz ist sehr darauf bedacht, eine verantwortungsvolle Datennutzung zu ermöglichen, nicht sie zu unterbinden.
Wir stehen an der Schwelle von Chancen - und Herausforderungen - die einen riesigen Sprung nach vorn oder einen beispiellosen Rückschlag bedeuten könnten. Wir müssen Fragen stellen, bevor wir nach Antworten suchen, wenn wir die neuen Möglichkeiten, Herausforderungen und Rahmenbedingungen angehen wollen. Wenn wir nur nach Antworten suchen, werden wir innerhalb des derzeitigen Rahmens bleiben. Die Aufgabe, die vor uns liegt, besteht nicht darin, die Technologie voranzutreiben, sondern darin, eine belastbare und nachhaltige Denkweise und ein neues Paradigma zu entwickeln, bei dem wir das anwenden, was wir haben.
Bogi Eliasen ist Direktor für Gesundheit am Copenhagen Institute for Futures Studies (CIFS) und Richard von Weizsäcker der Robert Bosch Academy.
Quarterly Perspectives
Das könnte Sie auch interessieren
„Das Fellowship war eine einzigartige Gelegenheit!“
Während der 197 Tage seines Richard von Weizsäcker Fellowships war Mike van Graan über 60 Tage außerhalb Berlins unterwegs und reiste dabei in 10 deutsche Städte sowie in 10 Länder innerhalb und außerhalb Europas.
Das Kindeswohl in der Schule in den Mittelpunkt stellen
Was können wir tun, um die globale Bildungskrise zu bewältigen? An Teilproblemen herumzubasteln, wird nicht funktionieren. Es ist an der Zeit, die sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft, das digitale Suchtverhalten und unsere Ausbeutung der Natur...
Schule nach der Pandemie: Digitalisierung nutzen, um Schüler zu motivieren
Die Pandemie hat Lehrkräfte dazu gezwungen, digitale Tools mehr als je zuvor in den Alltag ihrer Schüler zu integrieren. Mit der Rückkehr des Präsenzunterrichts haben Lehrer die einmalige Chance, die Schulen weiter zu verändern, um digitale...