Eine wachsende, aber übersehene Bedrohung: grenzüberschreitende organisierte Kriminalität in Deutschland

April 2025

Deutschland wird immer stärker von grenzüberschreitender organisierter Kriminalität bedroht. Doch die Reaktionen von Politik und Institutionen sind nach wie vor schleppend.

von Robert Muggah und Daniel Brombacher

Geldwäsche Querformat

Das Land, das lange Zeit als relativ sicherer Hafen für kriminelle Netzwerke aus ganz Europa galt, ist jetzt gezwungen, seine Annahmen zu überdenken. Die Indizien für die Verwundbarkeit Deutschlands häufen sich. Das waren die Schlussfolgerungen eines Roundtable-Gesprächs am 27. März 2025, an dem 30 Expert:innen aus Regierung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft teilnahmen.

Der von der Robert Bosch Academy in Zusammenarbeit mit der Global Initiative Against Transnational Organized Crime, einer internationalen NGO mit Sitz in Genf, und dem brasilianischen Thinktank Igarapé Institute veranstaltete Runde Tisch machte das Ausmaß der Herausforderungen für Deutschland deutlich. Weil kriminelle Netzwerke immer anpassungsfähiger und raffinierter werden, lässt der Global Organized Crime Index darauf schließen, dass Möglichkeiten zur Bekämpfung organisierter Kriminalität herausgefordert werden. Gleichzeitig machen geopolitische und technologische Veränderungen die organisierte Kriminalität von einem Problem der Strafverfolgung zu einer strategischen Sicherheitsbedrohung, die dringende Maßnahmen erfordert.

Die strukturellen Schwächen, die kriminelle Netzwerke ermöglichen

Deutsche Maßnahmen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität leiden unter politischem Opportunismus und institutioneller Trägheit. Die Terrorismusbekämpfung dominiert die Sicherheitsagenda, wodurch Ressourcen von der Bekämpfung krimineller Vereinigungen abgezogen werden. Und das, obwohl es klare Anzeichen dafür gibt, dass die organisierte Kriminalität an Umfang und zunimmt und zu immer raffinierteren Methoden greift. Die deutschen Bundes- und Landesbehörden, die für die Bekämpfung dieser kriminellen Netzwerke verantwortlich sind, sind unterfinanziert und überlastet. Im März 2025 gab es über 930.000 ungelöste Fälle – ein Rückstand, der die Fähigkeit der Strafverfolgungsbehörden untergräbt, mit den sich entwickelnden Bedrohungen Schritt zu halten.

Gleichzeitig erschwert die dezentralisierte Struktur der deutschen Verwaltung die Koordination zwischen den Behörden. Kriminelle Organisationen nutzen diese Ineffizienzen aus, indem sie die schwache Anwendung und Durchsetzung von Geldwäschebestimmungen, veraltete rechtliche Rahmenbedingungen und begrenzte Ermittlungskapazitäten ausnutzen. Die Gesetze zur Beschlagnahme von Vermögenswerten sind nach wie vor ineffektiv, nur zwei Prozent der illegal erworbenen Vermögenswerte werden erfolgreich konfisziert. Ohne dringende Reformen wird Deutschland auch weiterhin ein attraktives Drehkreuz für das organisierte Verbrechen sein.

Herausforderungen durch Mafia und Clans

Eine der größten und dennoch unterschätzten Bedrohungen geht von italienischen Mafiagruppen aus, insbesondere von der 'Ndrangheta. Deutschland ist für dieses mächtige Syndikat, dem schätzungsweise 3.000 Mitglieder angehören, zu einer wichtigen Operationsbasis geworden. Allein die 'Ndrangheta erwirtschaftet jährlich schätzungsweise 50 Milliarden Euro, eine Summe, die die Budgets vieler deutscher Strafverfolgungsbehörden in den Schatten stellt. In der Zwischenzeit haben sich die Drogenmärkte erheblich ausgeweitet, und die Verfügbarkeit von Kokain, Opioiden, synthetischen Drogen und Crack ist gestiegen. Das Aufkommen synthetischer Opioide hat zu neuen Abhängigkeitsmustern und Problemen für die öffentliche Gesundheit geführt. Auch die Struktur des Drogenmarktes verändert sich: Die schwankenden Preise, die lokale Produktion von synthetischen Drogen und der zunehmende Wettbewerb zwischen kriminellen Gruppen führen zu Gewalt und zur Destabilisierung etablierter Netzwerke.

Deutschland ist auch Zeuge der Entwicklung clanbasierter organisierter Kriminalität. Zuvor von libanesisch-kurdischen Clans dominiert, umfasst die Kriminalität nun auch Akteure aus Syrien, Albanien, Serbien, Rumänien und Bulgarien. Diese Netzwerke sind dezentralisiert, wobei jüngere Generationen weniger an traditionelle Hierarchien gebunden und über digitale Plattformen stärker global vernetzt sind. Die neuen Akteure sind gewalttätiger und unberechenbarer, was zu einer zunehmenden Instabilität innerhalb des kriminellen Ökosystems beiträgt.

Die Clan-Kriminalität ist keineswegs auf bestimmte städtische Gebiete oder Zentren beschränkt, sondern hat sich über ganz Deutschland ausgebreitet und ist in transnationale Lieferketten eingebunden, die sich über ganz Europa erstrecken. Viele dieser Gruppen konnten sich aufgrund der inkonsequenten Reaktion der Polizei entwickeln und ausbreiten. Polizeiliche Razzien werden eher reaktiv als strategisch durchgeführt, sodass sich diese kriminellen Gruppen neu aufstellen und anpassen können. Die Polizei verlässt sich oft auf veraltete Informationen und Annahmen und verkennt den Generations- und Technologiewandel, der die kriminellen Netzwerke neu strukturiert hat.

Wachsende Bedrohung durch staatlich geförderte Kriminalität

Die organisierte Kriminalität ist nicht mehr nur ein Problem von Recht und Ordnung, sie ist eine geopolitische Waffe. Die Verwicklung des russischen Staates in die organisierte Kriminalität stellt eine strategische Herausforderung für Deutschland und Europa im Allgemeinen dar. Russland hat kriminelle Netzwerke seit langem in seine Staatsführung integriert und nutzt sie als Stellvertreter für illegale Finanzströme, Cyberkriminalität und sogar politische Einmischung. Die russischen Märkte für kriminelle Aktivitäten sind hochgradig globalisiert und dienen als „One-Stop-Shop“ für Drogen, Waffen, Cyberangriffe und gefälschte Waren. Russische Statthalter operieren in Deutschland und ganz Europa, oft ohne eigenes Wissen über ihre Rolle in umfassenderen staatlich geförderten Operationen.

Seit 2022 haben westliche Staaten eine große Zahl russischer Spione ausgewiesen. Doch darauf hat sich der Kreml eingestellt, indem er kriminelle Statthalter und ideologische Sympathisant:innen als Mittelsmänner einsetzt. Russische Akteure betreiben Sabotage und politische Einmischung und nutzen kriminelle Profite zur Finanzierung destabilisierender Aktivitäten. Auch China, der Iran und Nordkorea nutzen zunehmend kriminelle Mittelsleute, um ihre geopolitischen Ziele voranzutreiben, sodass die Überschneidung von organisierter Kriminalität und fremdstaatlich geförderter Unterwanderung ein wachsendes Problem darstellt.

Risiken durch illegale Finanzströme und Cyberkriminalität

Die deutsche Finanzinfrastruktur ist nach wie vor sehr anfällig für die Ausnutzung durch die organisierte Kriminalität. Obwohl Deutschland die größte Volkswirtschaft Europas ist, hinkt es bei der Durchsetzung von Anti-Geldwäsche-Gesetzen hinterher. Deutschlands dezentralisierte Regierungsstruktur erschwert die Durchsetzung der Gesetze und behindert die Koordination zwischen Bundes- und Landesbehörden. Kriminelle Netzwerke nutzen routinemäßig Schlupflöcher, indem sie Immobilienmärkte, Finanzdienstleistungen und Kryptowährungen nutzen, um jährlich Milliarden von Euro zu waschen.

Cyberkriminalität ist zu einer wichtigen Triebfeder für illegale Profite geworden. Ransomware-Angriffe, verschlüsselte Kommunikationsnetzwerke und Dark-Web-Marktplätze bieten Kriminellen neue Möglichkeiten, ungestraft zu operieren. Russische, chinesische und nordkoreanische Akteure sind besonders aktiv, wenn es darum geht, Cyber-Tools sowohl für finanziellen Gewinn als auch für politische Sabotage einzusetzen. Die Fähigkeit Deutschlands, diesen Bedrohungen zu begegnen, wird jedoch durch rechtliche und institutionelle Hindernisse eingeschränkt. Strenge Datenschutzgesetze behindern eine vorbeugende Überwachung, während die Strafverfolgungsbehörden selbst mit einem Mangel an technischem Fachwissen zu kämpfen haben.

Der deutsche Rechtsrahmen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist veraltet. Bestehende Gesetze zum Schutz der Privatsphäre und zum Datenschutz erschweren das Aufspüren und Zerschlagen krimineller Netzwerke. Ermittlerinnen und Ermittler sind häufig verpflichtet, Daten über organisierte Kriminalität nach einer bestimmten Zeit zu löschen, was die langfristige Sammlung von Informationen einschränkt. Finanzverbrechen, einschließlich Steuerhinterziehung im großen Stil, bleiben aufgrund der hohen Beweislast, die das deutsche Verfassungsrecht verlangt, häufig straffrei. Bemühungen, die Gesetze zur Beschlagnahme von Vermögenswerten zu modernisieren und sie mit den EU-Richtlinien in Einklang zu bringen, stoßen auf politischen Widerstand, was den Fortschritt verlangsamt.

Der Personalmangel in der deutschen Justiz und den Ermittlungsbehörden verschärft das Problem zusätzlich. Es besteht ein dringender Bedarf an Richter:innen mit speziellen Kenntnissen, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, Ermittler:innen im Bereich der Finanzkriminalität und forensischen Analytiker:innen, um die Komplexität der modernen organisierten Kriminalität zu bewältigen. Ohne grundlegende Reformen läuft das Rechtssystem des Landes Gefahr, auf Dauer überfordert zu sein.

Suche nach Lösungen zur Stärkung der deutschen Gegenmaßnahmen

Deutschland muss seine Herangehensweise an die organisierte Kriminalität überdenken. Die Expert:innen des Roundtable-Gesprächs betonten die Notwendigkeit, die organisierte Kriminalität als eine dem Terrorismus ebenbürtige Bedrohung der nationalen Sicherheit zu behandeln. Dies erfordert eine Umorientierung von rein reaktiven polizeilichen Maßnahmen hin zu nachrichtendienstlichen Strategien, die vorrangig auf die Zerschlagung krimineller Netzwerke ausgerichtet sind. Ein umfassender Ansatz, der nachrichtendienstlich gestützte Polizeiarbeit mit sozialer und ethnographischer Analyse krimineller Netzwerke kombiniert, ist von entscheidender Wichtigkeit.

Politische Unterstützung für die Prävention, Abschreckung und Zerschlagung des organisierten Verbrechens gewinnen. Als Mindestmaßnahme müssen die politischen Parteien der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität Vorrang einräumen und die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren. Die von zivilgesellschaftlichen Gruppen durchgeführten Feldforschungen müssen nicht nur mit der Regierung, sondern auch mit der Gesellschaft insgesamt geteilt werden, um eine öffentliche Diskussion anzustoßen.

Verstärkte Nutzung von datengestützter Forschung. Offizielle Kriminalitätsstatistiken („Hellfeld“) erfassen nur einen Bruchteil der illegalen Aktivitäten und lassen große blinde Flecken bei der Politikgestaltung. Um das gesamte Ausmaß des Problems zu erfassen, sind größere Investitionen in unabhängige Forschung und von der Zivilgesellschaft geleitete Analysen zu den untererfassten Bereichen der organisierten Kriminalität („Dunkelfeld“) erforderlich. Politische Entscheiderinnen und Entscheider müssen auch die Öffentlichkeit sensibilisieren und sicherstellen, dass die Bekämpfung der organisierten Kriminalität eine nationale Priorität ist.

Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche, zur Stärkung der Strafverfolgung und zur Modernisierung des Justizwesens sollten verstärkt werden. So könnte Deutschland beispielsweise seine Gesetze zur Einziehung von Vermögenswerten an die EU-Richtlinien anpassen, um eine aggressivere Verfolgung krimineller Gewinne zu ermöglichen. Die Umwidmung beschlagnahmter Immobilien für soziale Zwecke könnte die wirtschaftliche Macht krimineller Netzwerke verringern. Die Vorschriften zur Bekämpfung der Geldwäsche könnten aktualisiert werden, einschließlich höherer Strafen für Finanzverbrechen.

Modernisierung der Technologien zur Bekämpfung der transnationalen organisierten Kriminalität. Kriminelle Organisationen haben eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit bewiesen und nutzen verschlüsselte Kommunikations-Plattformen, Kurierdienste und Offshore-Finanznetzwerke, um sich der Entdeckung zu entziehen. KI-gesteuerte Überwachung, Blockchain-Analysen und ein verbesserter grenzüberschreitender Informationsaustausch sollten im Mittelpunkt jeder Strategie zur Bekämpfung und Vereitelung von Cyberkriminalität stehen. Diese Bemühungen müssen jedoch durch robuste Schutzmaßnahmen zur Wahrung der Privatsphäre und der bürgerlichen Freiheiten ausgeglichen werden.

Unterstützung von Präventionsstrategien zur Bekämpfung der Faktoren, die junge Menschen in die organisierte Kriminalität treiben. Gezielte Interventionen für gefährdete Jugendliche in Clans sollten beispielsweise bereits im Alter von neun oder zehn Jahren beginnen. Frühzeitige Präventionsstrategien, einschließlich Initiativen, die in den Communities ansetzen, sollten ausgeweitet werden. Die strafrechtlichen Sanktionen für Gewalt- und Finanzverbrechen sollten verschärft werden, und die Durchsetzung von Geldwäschevorschriften sollte Vorrang haben.

Förderung einer strukturierten Zusammenarbeit zwischen Staat, Zivilgesellschaft und Privatsektor, um die Herausforderung der organisierten Kriminalität zu bewältigen. Eine zivile Beobachtungsstelle für organisierte Kriminalität, die staatlich unterstützt wird, aber unabhängig arbeitet, könnte empirische Beobachtungen und politische Empfehlungen liefern. Public Private  Partnerships könnten dazu beitragen, illegale Finanzströme zu unterbrechen, während strukturierte Vereinbarungen über den Austausch von Erkenntnissen mit internationalen Partnern die deutschen Maßnahmen verstärken würden.

Deutschlands dezentraler Ansatz bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität hat zu Nachlässigkeit geführt. Trotz der ernsten Bedrohung durch die organisierte Kriminalität bleiben die Investitionen in Strafverfolgung und Prävention hinter den Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung zurück. Es ist ein grundlegender Wandel erforderlich, der die organisierte Kriminalität als direkte Herausforderung für die nationale Sicherheit und die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Deutschlands begreift.

Die Expert:innen des Roundtable-Gesprächs warnten, dass Deutschlands Unfähigkeit, der organisierten Kriminalität entgegenzutreten, die tieferen Schwächen seiner politischen und sicherheitspolitischen Institutionen widerspiegelt. Die Behandlung der organisierten Kriminalität als strategische Bedrohung, auf Augenhöhe mit Terrorismus und staatlich geförderter Spionage, erfordert einen grundlegenden Wandel in der politischen und sicherheitspolitischen Strategie Deutschlands. Ohne entschlossenes Handeln werden kriminelle Netzwerke weiterhin die Stabilität des Landes von innen heraus untergraben.

 

Die Robert Bosch Academy versammelte am 27. März 2025 Experten zu diesem Thema. Die Veranstaltung wurde moderiert von Richard von Weizsäcker Fellow Dr. Robert Muggah. Dieser Artikel gibt Teile der Diskussion wieder, die unter Chatham House Regeln gehalten wurde.

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