Demokratie hat in Polen tiefe Wurzeln
Ein Gespräch mit Rafał Dutkiewicz über die Logik von Nationalismus und Populismus, den Wert der europäischen Solidarität für Polen, den Zustand der polnischen Demokratie und das Verhältnis zu Nachbarland Ukraine.
Vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Sie haben in Ihrer großen Rede vor dem Deutschen Bundestag gesagt, dass Europa die Zukunft ist und Nationalismen von gestern sind. Nun erleben wir eine Zeit, die europäische Solidarität vermissen lässt. Würden Sie Ihre Rede aufrechterhalten?
Ja, schon. Das Coronavirus hat zwar dafür gesorgt, dass die Grenzen geschlossen wurden und es eine Welle von Nationalismen und Populismus gibt. Aber das sind Agonieschmerzen einer alten Ordnung, die im 19. Jahrhundert entstanden ist. Der nationale Staat ist zwar immer noch wichtig, aber Problemlösungen gibt es nur in einer breiteren Gemeinschaft. Für uns ist das die Europäische Union.
Ist der Rückfall auf das Nationale in Zeiten der Krise normal? Wird Europa aus der Krise heraus stärker oder schwächer sein?
Die populistische und nationalistische Tendenz ist älter als die Pandemie und wurde durch sie lediglich verstärkt. Aber das Coronavirus kann die positive Wirkung der europäischen Integration nicht zerstören. Am Beispiel Polens und meiner Stadt Breslau ist zu sehen, was für eine fantastische Rolle die Europäische Union gespielt hat. Zwar wird der Vergleich aller europäischen Großstädte mit mehr als 250.000 Einwohnern nach der Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung von Dublin angeführt, gefolgt von Prag, aber schon an dritter Stelle steht Breslau! Ohne unsere Mitgliedschaft in der EU seit dem Jahr 2004 wäre das unmöglich gewesen. Auch für die Bewältigung der Pandemiefolgen wird die europäische Solidarität entscheidend sein. Kein einziger europäischer Nationalstaat kann allein für sich die Probleme lösen, die aus Migration, Klimawandel oder Verteidigung erwachsen. Natürlich nutzen Populisten die Krise, um zu betonen, dass nur der nationale Staat die Rettung bringt. Gleichzeitig untergraben sie die Grundregeln der Demokratie, um ihre Macht zu sichern, etwa in Ungarn oder Polen. Die Entmachtung der Justiz in meiner Heimat ist erschreckend. Aber gerade deshalb brauchen wir die europäischen Standards und die Unterstützung der europäischen Familie.
Was bestimmt die Logik von Nationalismus und Populismus?
Der Philosoph Jürgen Habermas hat gesagt, gäbe es die Nationalstaaten nicht, dann müsste man sie erfinden. Historisch betrachtet haben Nation und Nationalstaat eine positive Rolle gespielt. Inzwischen sind wir viel weiter, leben teilweise aber immer noch in dem Paradigma aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im 19. und 20. Jahrhundert hat die Menschheit vom Austausch von Gütern gelebt. Heute muss man stärkeres Gewicht auf den Austausch von Ideen legen, das ist die Zukunft. Dafür braucht man eine offene und internationale Gesellschaft, weil nur diese kreativ genug ist, etwas Besseres zu schaffen. Zur Wirklichkeit gehört auch die Tatsache, dass viele Menschen xenophob sind, insbesondere in einem ethnisch so homogenen Land wie Polen. Wir konnten anders als Westdeutschland noch keine Erfahrung mit Einwanderern sammeln. Unglücklicherweise unterstützt die Pandemie die Ablehnung von Ausländern, weil Distanz zur offiziellen Politik geworden ist, obwohl Kooperation das Gebot der Stunde wäre. Das zu erkennen, ist eine Frage der Bildung und Erfahrung.
Sind Nationalismus und Populismus nicht auch eine Abwehrreaktion auf den grenzüberschreitenden Austausch von Ideen und Gütern, der Ängste auslöst?
Ja, das stimmt. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Welt ändert, hat begünstigt, dass breite Bevölkerungsgruppen eine gewisse Angst verspüren, ihre Wurzeln und Heimat zu verlieren. Zudem wurde die Spaltung zwischen Stadt und Land verstärkt, denn die Wohlstandsgewinne haben sich eher in den Großstädten konzentriert. Auf dem Land und in den kleineren Städten denkt man anders. Auch Polen ist mental und politisch zutiefst gespalten. So wird die führende politische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eher auf dem Land unterstützt, nicht in den Großstädten, die als Universitätsstädte eher offen sind. Trotz der nationalen Widerstände befinden wir uns in einem Prozess, dessen Richtung zu mehr Öffnung und Austausch geht. Pandemie und Wirtschaftskrise sind dabei lediglich Hürden, die verzögernd wirken. Wenn es keinen Krieg gibt, gehen wir weiter in eine supranationale Richtung.
Welche Rolle spielen urbane Räume dabei?
Ich war eng mit Benjamin R. Barber befreundet, dem 2017 verstorbenen amerikanischen Professor für Zivilgesellschaft. Er gründete ein weltweites Netzwerk von Bürgermeistern großer Städte. Mit seinem Bestseller „If Mayors Ruled the World“ gab Barber der Diskussion über die Zukunft der Demokratie neue Impulse. Ich habe ihn in Berlin kennengelernt, und habe ihm zugeredet, dass er dieses Buch schreiben sollte. Für ihn war der Nationalstaat ausgedacht, um im Wettbewerb zu anderen Nationalstaaten zu stehen, während Städte aus ihrer Logik und Verfasstheit eher für Kooperation stehen. Das ist von besonderer Bedeutung in der heutigen Welt, die eine Welt der Vernetzung sein sollte. Das fördert nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern ist auch eine Frage des zivilisatorischen Fortschritts. Natürlich gibt es überall in der Welt Gegner dieser Entwicklung. Deren Anführer war Donald Trump. Er hat die transatlantische Achse beschädigt und bekämpfte die Europäische Union. Der Brexit zeigt die Widerstände innerhalb Europas selbst auf. Trotzdem bin ich optimistisch.
Gibt es angesichts der Polarisierung der Gesellschaften einen gemeinsamen Nenner?
Ich würde sagen, es gab ihn. Heutzutage wäre das aber in Polen unmöglich. Die Regierungspartei PiS hat mit der Gleichschaltung der Justiz die Grenzen der Demokratie überschritten. Ich selbst wäre nicht mehr bereit, mit der Partei zusammenzuarbeiten. Sie muss abgewählt werden.
Nun ist die Regierungspartei recht erfolgreich darin, eine nationale mit einer pseudosozialistischen Politik zu verbinden, etwa durch das Kinder- oder Kurzarbeitergeld. Ist die Aussicht, dass sie die Macht verliert, nicht eher Wunschdenken?
Nein, das würde ich nicht sagen. Die Regierungspartei hat Erfolg, weil ihre Vorgängerregierung unter der Bürgerplattform zwei Probleme ungelöst gelassen hat. Weder wurden die Institutionen des Staates gestärkt, noch das Soziale ausreichend beachtet. So wurde der Erfolg der PiS erst möglich. Aber Politik in Polen funktioniert immer im Wechsel. Es ist nicht so, dass die PiS ständig regieren wird. Schon die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise können der PiS gefährlich werden. Die PiS ist ein Feind der europäischen Einigung. Ihr Parteiführer Jarosław Kaczyński und Präsident Andrzej Duda haben eine schreckliche Dynamik ausgelöst. Der Präsident meint, dass die EU-Institutionen in Brüssel für Polen die gleiche Wirkung zeigen wie die preußischen, österreichischen und russischen Besatzer in der Geschichte. Dieser Vergleich ist wirklich verrückt! Gerade in der Krise ist die europäische Solidarität für Polen von Bedeutung. Das werden die Menschen verstehen.
Wie stark ist die Demokratie in Polen verankert?
Die Demokratie hat in Polen tiefe Wurzeln. Sie ist belastbar und bietet eine Vision, wie man die Zukunft aktiv gestalten kann. Dazu folgendes Beispiel: Im Jahr 2010 habe ich eine Umfrage unter 5.000 Einwohnern in Breslau durchgeführt, in deren Zentrum eine offene Frage stand: Was wäre wichtig für Breslau? Wir wussten damals schon, dass 2012 die Fußball- Europameisterschaft in Polen und in der Ukraine stattfindet. Unter allen Antworten hat der neue Flughafen gewonnen, auf Platz zwei ein neues Stadion, auf Platz drei aber, mit mehr als 2.400 Stimmen, eine wissensbasierte Wirtschaft. Das zeigt die Fähigkeiten einer demokratischen Bürgerschaft, Prioritäten nicht nur zu erkennen, sondern auch über die eigenen Perspektiven frei entscheiden zu wollen.
Nicht viele Oberbürgermeister haben den Mut, offene Fragen zu stellen. Wo aber ist in der heutigen polnischen Gesellschaft die Diskussion über eine Wissensgesellschaft und ihre entsprechenden Wertschöpfungsketten?
Ministerpräsident Morawiecki hat anfangs versucht, darüber zu sprechen, aber dann ging er in eine andere Richtung. Er und seine Partei verstehen das Regieren als Macht an sich, während das Regieren eine Dienstleistung sein sollte. Das ist der Unterschied. Um die Menschheit zu entwickeln, muss man nicht nur einer Ratio folgen, sondern auch eine Vision haben, wie sich das umsetzen lässt. Wenn man sich dabei als ein Dienstleister für die Menschen versteht, dann funktioniert das ganz ordentlich.
Besteht nicht die Realität der offiziellen polnischen Politik darin, dass man sich über ein Freund-Feind-Denken definiert? Berlin, Brüssel, Moskau dienen als Feinde, gegen die man kämpft. Ist es der Geist von Marschall Piłsudski, dessen Drei-Meere- Initiative die Strategie für morgen vorgibt?
Ja, das ist genau die Politik von Kaczyński und seiner Clique. Aber das ist ein Beispiel dafür, dass sie in einer total veralteten Art und Weise denken, die aus dem 19. Jahrhundert ist. So funktioniert die Welt nicht mehr. Heute sind supranationale Netzwerke wichtig, in denen man sich bewegen muss. Es gibt zwar Versuche, die Zeit zurückzudrehen, aber es wird nie mehr gelingen. Es sei denn, diese Leute provozieren einen Krieg. Das Ziel der Populisten ist Macht an sich; die wollen sie haben. Bei Kaczyński ist das mittlerweile völlig offensichtlich. Die Art und Weise, wie er mit den Präsidentschaftswahlen in Polen umgeht, zeigt das genau.
Wie stark ist das Schicksal der Ukraine mit Polen verbunden?
Wir sind nicht nur Nachbarn, sondern Verwandte. Die Ukraine ist allerdings in mehrfacher Hinsicht in einer schwierigeren Lage: wirtschaftlich, demografisch und in den Beziehungen zu Russland. Die Korruption ist stark und der Staat ist schwach. Dennoch gab es in der neuesten Geschichte der Ukraine drei positive gesellschaftliche Eruptionen: die Orangene Revolution, den Maidan und die letzten Präsidentschaftswahlen, die einen Neuanfang im Präsidentenamt ermöglichten. Das schreckliche Problem der Ukraine ist, dass nach allen drei Umwälzungen bislang immer eine Enttäuschung folgte. Die demografischen Umwälzungen sind in der Ukraine besonders dramatisch. Es leben gegenwärtig 15 Millionen Menschen weniger in der Ukraine als zur Zeit der Sowjetunion. Das muss tiefere Gründe haben. Es sind vor allem die jungen Menschen, die weggehen. Viele von ihnen kommen nach Polen. Breslau ist sehr stark mit Lemberg verbunden, denn dessen Bewohner wurden in die ehemals von Deutschen bewohnte Stadt umgesiedelt. Es gibt nicht nur eine Partnerschaft der Städte, sondern in der Geschichte Polens hat Lemberg auch eine ähnliche Rolle gespielt wie Breslau in der deutschen Geschichte. Im Jahr 1990 waren die beiden Städte wirtschaftlich auf demselben Niveau, jetzt hat Breslau 20 Jahre Vorsprung. Das ist der Europäischen Union zu verdanken, weniger der finanziellen Unterstützung, sondern vor allem den höheren Standards und dem veränderten Ausblick. Die Mitgliedschaft in der europäischen Familie hat erreicht, dass man breiter und weiter denkt. Deswegen ist die europäische Zukunft für die Ukraine von grundlegender Bedeutung.
Schon zu Ihrer Zeit als Oberbürgermeister in Wrocław waren viele Zehntausende Ukrainer als Arbeitskräfte und Studenten in der Stadt. Was sind die Gründe dafür?
Im Jahr 2004 hat mich die BBC als Gast für die Talkshow „Hardtalk“ nach London eingeladen. Damals wurde ich gefragt, ob es angesichts der wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven in Polen und Breslau genug Arbeits- und Fachkräfte gibt? Damals habe ich die Frage einfach nicht begriffen, denn die Arbeitslosigkeit lag in Polen bei 20 %, in Breslau bei 13 %, und viele junge Menschen drängten auf den Arbeitsmarkt. Inzwischen haben wir Arbeitsplätze, aber nicht genug Menschen, um diese auszufüllen. Unter den 276 Regionen der Europäischen Union ist die Region Breslau nach der Anzahl der Arbeitsplätze europaweit die Nummer Eins. Wir haben kurz nach der EU-Erweiterung mehr als 400.000 Arbeitsplätze in der Subregion geschaffen. Das stellte nicht nur für die Ukrainer eine ungeheure Anziehungskraft dar. Vor der Pandemie gab es im Ballungsgebiet um Breslau rund 200.000 Ausländer, von denen die Hälfte Ukrainer waren, aber die andere Hälfte waren Menschen aus 120 weiteren Ländern. Für die Ukrainer hat eine große Rolle gespielt, dass sie besser verdient haben, aber für junge Menschen aus Norditalien oder Spanien war attraktiv, dass Polen sich dynamisch entwickelt und daher die Chancen für eine berufliche Karriere einfach größer sind. Man verdient zwar weniger als im Westen, aber man kann schneller eine berufliche Karriere machen. Wie die Welt nach der Krise aussehen wird, weiß ich nicht. Meine größte Befürchtung ist, dass die angespannte Situation für eine Abschottung und Kleingeistigkeit sorgt, weil ich unbedingt aus Breslau eine internationale Stadt machen wollte.
Wie beschreiben Sie das Verhältnis der Polen zu den Ukrainern?
Vor dem Zweiten Weltkrieg war Polen multikulturell, auch ethnisch gesehen. Nach dem Krieg ist Polen sehr homogen und zunehmend feindlich gegenüber Ausländern geworden. Deshalb sind die Ukrainer eine zusätzliche Chance, dass wir auch diese Kurve kriegen. Die Ukrainer sehen aus wie wir, sie sind auch Christen, sie sprechen auch eine slawische Sprache und sind in der Lage, in ein paar Monaten ziemlich gut Polnisch zu sprechen. Als Bürgermeister von Breslau habe ich die Ukrainer gefragt, ob wir dort eine ukrainische Schule gründen sollten. Das wollten sie aber nicht, sie zogen es vor – und das ist typisch für die neuen Migranten –, dass die ukrainischen Kinder auf Polnisch unterrichtet werden, damit sie sich schneller integrieren können. Man könnte dank der Menschen aus der Ukraine sehen, dass Ausländer gar nicht so anders sind, dass sie unsere Brüder und Schwestern sind und uns helfen. Deshalb haben die Ukrainer gesellschaftlich gesehen eine sehr wichtige Bedeutung für Polen und für Breslau.
Welche polnischen Interessen gibt es in Bezug auf die Ukraine?
Im polnischen Interesse ist es, eine gute Zusammenarbeit mit der Ukraine zu haben und sie irgendwann in die Europäische Union zu holen. Die Ukraine ist kulturell und geografisch ein Teil von Europa. Für den Bestand, die Sicherheit und Entwicklung des Landes ist die Europäische Union von essenzieller Bedeutung. Alleine schafft es die Ukraine mit Sicherheit leider nicht.
Bezieht sich das auch auf Belarus?
Ja, im weiteren Sinne schon, aber Präsident Lukaschenko ist ein anderer Fall. Polen wurde im Jahr 1997 Mitglied der NATO und 2004 der Europäischen Union. Die Bedingungen waren, dass es eine unabhängige Justiz und funktionierende Demokratie geben muss. Damals haben wir die Bedingungen erfüllt. Weißrussland ist keine Demokratie und muss dorthin noch einen weiten Weg zurücklegen. Die Pandemie hat jegliche Erweiterung der EU erschwert. Mit Geduld sollte man dennoch die Perspektive eines Beitritts auch gegenüber Weißrussland öffnen.
Halten Sie es für möglich, dass im polnisch-russischen Verhältnis ein Tauwetter einsetzt und die gemeinsamen Interessen in den Vordergrund rücken?
Das ist von großer Bedeutung, mit Präsident Putin aber ausgeschlossen. Es gibt zudem tiefere geschichtliche und mentale Probleme im polnisch-russischen Verhältnis. Eine Anekdote schildert am besten, was die Polen über Russland an sich denken. Es ist nach dem Ersten Weltkrieg passiert. Eine Kommission war dafür verantwortlich, die Grenze zwischen Polen und der ehemaligen Sowjetunion zu bestimmen. Auf einem Feld wurde entdeckt, dass die neue Grenze durch ein Haus führen würde. Die Kommission sagte: „Nein, das geht nicht, wir müssen die Grenze ein bisschen verschieben, aber in welche Richtung?“ Es wurde entschieden, den Bauern zu fragen: „Herr Bauer, nachdem die Grenze abgesteckt ist, wollen Sie lieber in Polen wohnen oder in Russland?“ Und da sagte der Bauer sofort: „In Polen, bitte.“ „Gut, dann verschieben wir die Grenze 50 Meter nach Osten. Aber sagen Sie uns bitte, wieso haben Sie sich so schnell für Polen entschieden?“ Und er antwortete: „Man sagt, der Winter ist viel, viel kälter auf der russischen Seite.“
Daraus folgt aber nicht, dass der Sommer auf der deutschen Seite wärmer ist. Das Verhältnis zu Deutschland hat sich unter der jetzigen Regierung verschlechtert, und das Land rangiert als Feindbild auf der Ebene Russlands. Wie kann man sich wieder davon lösen?
Die deutsch-polnische Versöhnung wurde vollzogen. Ich habe mein Möglichstes beigetragen. Das spürt man am direktesten in den Grenzstädten. In Görlitz wohnen bereits 5.000 Polen und es gibt einen gemeinsamen Arbeitsmarkt. Kaczyński denkt wirklich, dass die Deutschen unsere gefährlichen Feinde sind. Er hat mir selbst die Geschichte über sein Treffen mit Helmut Kohl anlässlich eines Staatsbesuchs in Polen erzählt. Damals war Kaczyński Staatssekretär bei Präsident Walesa. Kohl sagte zu Kaczyński: „Wissen Sie, Herr Kaczyński, ich bin erstens ein Mensch, zweitens bin ich Christ, drittens bin ich Deutscher.“ Aber die Reaktion von Kaczyński war: „Meine Prioritäten sind völlig andere: Ich bin erstens katholisch, zweitens bin ich Pole, drittens bin ich ein Mensch.“ Völlig umgekehrt. Polen und Deutsche sind aber beide in erster Linie Menschen. Dass jemand, der so denkt wie Kaczyński, Macht bekommen hat, ist gefährlich. Übrigens ist auch für den viel jüngeren Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki die Geschichte des Zweiten Weltkrieges – die Deutschen haben ihn angefangen – immer noch von Bedeutung. Er fühlt sich tief mit den polnischen Helden verbunden und spricht ständig davon. Auch ich kenne unsere Geschichte, aber viel wichtiger sind Offenheit und Versöhnung. Zwar wurde die Aussöhnung vollzogen, aber sie muss ständig unterstützt werden, wie es die Robert Bosch Stiftung tut. Daran muss man ständig arbeiten, insbesondere, wenn man solche Führer in der Politik hat.
Beim polnischen Premierminister ist dessen Einstellung umso erstaunlicher, weil er nicht nur ein Praktikum bei der Deutschen Bundesbank absolvierte, sondern auch an den Universitäten Frankfurt/Main und Hamburg europäisches Recht studierte. Wenn das kein Vertreter der jungen, weltoffenen, liberalen Generation Polens ist, wer dann?
Die Erklärung geht in zwei Richtungen. Erstens ist er mental wahrscheinlicher älter als seine Zahl an Lebensjahren, und zweitens ist er zynisch. Macht spielt für ihn eine wichtige Rolle. Die Rhetorik über die deutschen und russischen Feinde wird für die Innenpolitik genutzt. Dabei wird nicht bedacht, dass damit etwas in Gang kommt, was für die Zukunft Polens gefährlich ist. Ich sehe fatale Ähnlichkeiten zum Vereinigten Königreich. Als der damalige Ministerpräsident Großbritanniens, David Cameron, vor Jahren ankündigte, ein Referendum über einen Austritt aus der EU durchzuführen, dachte er niemals, dass es tatsächlich zu einem Brexit kommt. Plötzlich ist es dann doch passiert. In dem Sinne hat Cameron Wind gesät und Sturm geerntet. Sein Land und ganz Europa werden darunter leiden.
Wie steht Kaczyński zum europäischen Gedanken?
Auch hier kann ich mit einer Anekdote antworten. Als Lech Kaczyński Präsident von Polen war, ist er nach Berlin gekommen, wo es ein Treffen mit dem Bundestagspräsidenten gab. Am Anfang sagte Kaczyński: „Wissen Sie, Herr Bundestagspräsident, wir haben immer Probleme mit Deutschland. Erst der Zweite Weltkrieg und jetzt mussten wir wegen Deutschland in die Europäische Union.“ Da hat der Bundestagspräsident gesagt: „Das mit dem Zweiten Weltkrieg stimmt. Wir waren schuldig, und wir werden uns ehrlich entschuldigen. Aber mit der Europäischen Union, das stimmt nicht, denn das ist nicht obligatorisch. Polens EU-Beitritt freut mich, aber das haben Sie selbst entschieden.“ Da ist Kaczyński aufgestanden und hat gesagt: „Dann verabschiede ich mich, auf Wiedersehen.“ Wer so eine Geisteshaltung hat, wird abgewählt. Polen wird sich weiterhin als Mitglied der Europäischen Union entwickeln. Da bin ich sicher.
Sehen Sie eine Verantwortung von Unternehmen, die in Polen investieren? Welches Verhältnis haben Investitionen und Politik?
Eine schwierige Frage. Vor Jahren haben die Auslandsinvestitionen in gewisser Weise das westlich kapitalistische Modell nach Polen gebracht. Wir hatten keine freie Marktwirtschaft, deswegen war das ausländische Kapital im Sinne der Öffnung wichtig. Selbst die Ernährung der Polen hat sich nach den Investitionen verändert. Früher wurden wenig Joghurt oder Salat gegessen, die Vielfalt hat sich erst mit den internationalen Handelsketten verändert. Die Investoren verdienen mittlerweile gutes Geld in Polen, das nicht immer im Land bleibt, aber sie schaffen auch Arbeitsplätze. Das ist von Bedeutung, denn die Einkommensteuer bleibt ja in Polen. Arbeit ist zudem ein Wert an sich. Das wird während der Pandemie noch bewusster als ohnehin. Eine erfolgreiche Politik ohne ausreichende Arbeitsplätze ist nicht möglich; das habe ich in meiner Zeit als Oberbürgermeister klar gesehen. Es braucht einen Dreiklang aus Finanz-, Human- und Sozialkapital, damit eine funktionierende Wirtschaft entsteht.
Welche Chancen werden mit Blick auf Polen, die Ukraine und Weißrussland aus deutscher Perspektive entweder nicht gesehen oder missachtet?
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat glücklicherweise ein Verständnis für das mittlere und östliche Europa mitgebracht. Ihre Heimat, die Uckermark, ist nahe der polnischen Grenze, und sie kannte die Menschen von ihren Studien und Reisen. Aber Merkels Zeit geht zu Ende. Meine Sorge ist, dass ihre höchstwahrscheinlich aus dem westlichen Teil Deutschlands stammenden Nachfolger gegenüber Polen, Weißrussland und der Ukraine distanzierter sind. Zudem haben sie wahrscheinlich wenig Kenntnis und Gefühl für die Region. Wenn die Deutschen ihre Augen schließen, träumen sie von Russland. Dabei gibt es auch die Ukraine, Weißrussland und das Baltikum mit drei Staaten, die glücklicherweise schon in der Europäischen Union sind. Deutschland ist eindeutig der wichtigste Staat in der EU. Deshalb hat es eine entsprechende Verantwortung für Mittel- und Osteuropa, die es auch wahrnehmen muss.
Vielen Dank für das Gespräch.
Dieses Interview erschien zuerst im Bosch Megatrend Report 10.
Dr. Rafał Dutkiewicz ist der ehemalige Bürgermeister von Breslau (2002-2018) und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy. Er ist Träger des Kommandeurskreuzes des Ordens der Polonia Restituta, Mitglied der französischen Ehrenlegion und Träger des Bundesverdienstkreuzes.
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