Der Geist des demokratischen Widerstands weht durch Europa
Gegen den illiberalen Trend in vielen Ländern regt sich in ganz Europa ein Geist des demokratischen Widerstands, meint der Demokratieexperte Richard Youngs. Es gibt mehr direkte Demokratie und neue politische Parteien, die sich auf die demokratische Erneuerung konzentrieren. Aber der Wandel ist noch zaghaft und zurückhaltend.
Claudia Rolf: Regelmäßig wird diagnostiziert: Die Demokratie ist in der Krise. In Europa und anderen Teilen der Welt befindet sich die Demokratie auf dem Rückzug und die Autokratie gewinnt an Boden. Der Titel Ihres neuen Buches Rebuilding European Democracy widmet sich daher einer drängenden und aktuellen Frage. Was hat Sie motiviert, es zu schreiben?
Richard Youngs: Ich hatte so viele Bücher, Fach- und Presseartikel gelesen, in denen die zunehmenden Bedrohungen für die Demokratie betont wurden, dass ich darüber nachzudenken begann, wie wertvoll es sein könnte, eine Übersicht über die Aktivitäten zu geben, die diesen Trends entgegenwirken. Die Debatte über die Demokratie ist sehr pessimistisch, ja sogar dramatisch apokalyptisch geworden – und manchmal ist die Diskussion vielleicht ein wenig repetitiv in ihrer Konzentration auf die populistische Bedrohung. Ohne die Schwere des demokratischen Zerfalls herunterzuspielen, dachte ich, es wäre neu und interessant, das Thema aus einer anderen Perspektive zu betrachten und die Bedeutung der pro-demokratischen Bemühungen und Trends zu bewerten.
Angesichts der Erosion der Demokratie der Zunahme illiberale Politik konzentrieren Sie sich auf die Frage, wie die demokratische Erneuerung gelingen kann. Sie untersuchen vielversprechende Anzeichen für demokratische Innovationen. Was ist Ihre zentrale Aussage und warum ist sie anders als andere Befunde?
Das Buch stellt eine Fülle von Anstrengungen zur Verteidigung und zum Weiterdenken der Demokratie vor, die in den vergangenen Jahren in ganz Europa an Bedeutung gewonnen haben. Proteste haben sich ausgebreitet, die organisierte Zivilgesellschaft ist stärker geworden und die Zahl der demokratischen Diskussionsforen hat sich vervielfacht. Außerdem gibt es jetzt mehr Volksentscheide sowie andere Formen direkter Demokratie auf lokaler Ebene, und neue politische Parteien konzentrieren sich auf die demokratische Erneuerung. Darüber hinaus hat eine zweite Welle innovativer Formen der digitalen Demokratie Gestalt angenommen. Die EU beginnt, sich ernsthafter mit der Bürgerbeteiligung zu befassen und energischer auf antidemokratische Maßnahmen zu reagieren. Das Buch hat eine eindeutige Botschaft, weil es den demokratischen Bemühungen in all diesen Bereichen ebenso Gewicht verleiht wie den unterschiedlichen demokratischen Innovationen. Anstatt nur für eine Art der Erneuerung zu plädieren, unterstreicht das Buch, dass die demokratische Erneuerung derzeit gerade deshalb von so großer Bedeutung ist, weil so viele unterschiedliche Reformbemühungen auf so vielen verschiedenen Ebenen demokratischer Politik im Gange sind.
In letzter Zeit ist es illiberalen Akteuren gelungen, demokratische und zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume einzuschränken. Kritiker:innen könnten also behaupten, Sie seien zu optimistisch, was die Demokratie und die Potenzialen, die demokratische Innovationen freisetzen können, angeht. Ist der Einwand berechtigt?
Die Prämisse des Buchs besteht keineswegs darin zu behaupten, dass mit der europäischen Demokratie alles in bester Ordnung ist. Es wirft vielmehr einen unvoreingenommenen und fragenden Blick darauf, ob die vielen Bemühungen zur Verteidigung und Verbesserung der Demokratie wirklich etwas bringen oder nicht. Tatsächlich kommt das Buch zu einer eher zwiespältigen Schlussfolgerung: Es zeigt, dass die demokratische Erneuerung tatsächlich an Schwung gewonnen hat und dass viele Berichte über demokratische Rückschritte dazu neigen, diese positive Seite der Gleichung in den Schatten zu stellen. Doch das Buch betont auch, dass diese demokratischen Bemühungen noch zu zaghaft, zu vorsichtig, zu zahm und zu fragmentiert sind, um die gegenwärtigen antidemokratischen Trends nachhaltig in eine positive Richtung umzulenken.
Das Coronavirus stellt eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar, aber auch die Auswirkungen auf die Demokratie sind offensichtlich. Als Reaktion auf die Pandemie haben die Regierungen Maßnahmen ergriffen, die erhebliche Folgen für die Grundfreiheiten und die Zivilgesellschaft haben. Verschlechtert Covid-19 die Situation für demokratische Reformen?
Ja, die Pandemie stellt eine zusätzliche Belastung für demokratische Qualität dar. Die Belastungen könnten sich in der langen Post-Covid-Zeit noch verstärken, weil der politische Weg zum wirtschaftlichen Wiederaufschwung wahrscheinlich verschlungen und steinig sein wird. Dennoch hat die Pandemie auch der demokratischen Erneuerung neue Impulse verliehen. Die Zivilgesellschaft ist noch aktiver geworden. Immer mehr Entscheider:innen und Behörden konsultieren die Bürger:innenbei der Bewältigung der Krise, und die Menschen haben sich in lokalen Bürgerinitiativen organisiert, um die Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen und um Versäumnisse der Behörden auszugleichen. Im Wesentlichen verschärft Covid-19 die Herausforderungen für die Demokratie. Die Pandemie scheint aber auch die Forderungen der Bürger:innen nach einer reaktionsfähigeren, bürgernäheren und inklusiveren Regierungsführung zu verstärken.
Welche Faktoren entscheiden darüber, ob die Demokratie in Europa gestärkt wird?
Ich bin mir nicht sicher, ob es einen einzigen Faktor gibt, der einen dramatischen Unterschied machen kann. Ich bezweifle, dass eine einzelne große Maßnahme oder Veränderung die Krise der Demokratie „bewältigen“ wird. Es ist wahrscheinlicher, dass gleichzeitig viele kleine Anstrengungen zur Verbesserung der Demokratie einerseits und andererseits zahlreiche Bedrohungen für die Demokratie existieren werden – letztere kennen wir gut. Dieser Konflikt wird auf unbestimmte Zeit fortbestehen. In diesem Sinne besteht eine der Herausforderungen darin, aus den vielen kleinen Reforminitiativen und unterschiedlichen Wegen zur demokratischen Erneuerung eine kohärentere, weniger zersplitterte Bewegung für den Wiederaufbau der Demokratie zu formen, die eine größere Wirkung auf die übergeordnete nationale und internationale Politik hat.
Richard Youngs ist Senior Fellow im Democracy, Conflict, and Governance Program bei Carnegie Europe und Autor von „Rebuilding European Democracy: Resistance and Renewal in an Illiberal Age“. Carnegie Endowment for International Peace und die Robert Bosch Stiftung arbeiten im Rahmen einer strategischen Partnerschaft zusammen.
Claudia Rolf leitet das Team Demokratie im Fördergebiet Globale Fragen bei der Robert Bosch Stiftung.
Quarterly Perspectives
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