Wie die Pandemie die Ungleichheit in Indien vergrößert

März 2022

Die Pandemie hat in Indien Milliardäre noch reicher gemacht, während es in den unteren Schichten ein Massensterben, Hunger und Armut gibt. Das ist die Folge einer falschen Politik. Die Zeit ist reif für einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Von Harsh Mander

Harsh Mander Inequality Covid Corona Pandemic Poor

Die Pandemie hat in dramatischer Weise und mit schonungsloser moralischer Klarheit die katastrophalen gesellschaftlichen Kosten der Ungleichheit offengelegt. Tausende, ja Millionen von Menschenleben in Indien hätten in den vergangenen Jahrzehnten gerettet werden können, wenn deutlich mehr Geld in die öffentliche Gesundheitsversorgung investiert worden wäre. Die Ausbreitung von Massenhunger und Arbeitslosigkeit sowie die daraus resultierende Umsiedlung von Millionen von erwerbstätigen Armen hätten durch besseren Arbeitsschutz, bessere soziale Absicherung und ein höheres Lohnniveau der Arbeitnehmer verhindert werden können. Die verschiedenen indischen Regierungen hätten dafür sorgen müssen, dass die Armen mehr finanzielle Unterstützung erhalten.

„Ungleichheit tötet“ ist der treffende Titel eines Berichts von Oxfam Indien, der die verheerenden Folgen einer falschen Politik aufzeigt, und parallel zu dem Weltwirtschaftsforum in Davos veröffentlicht wurde. Für Indiens Superreiche wurde die Pandemie zu einer Zeit, in der sie ihren Reichtum in schwindelerregende Höhen vermehrten. Das schlimmste Jahr der Pandemie war für Indien 2021. Allein in diesem Jahr stieg das Nettovermögen eines einzigen indischen Milliardärs, Gautam Adani, von 8,9 Milliarden Dollar im Jahr 2020 auf 50,5 Milliarden im Jahr 2021 – also um mehr als das Fünfeinhalbfache. Das Nettovermögen von Mukesh Ambani wiederum verdoppelte sich auf 85,5 Milliarden Dollar im Jahr 2021 – war er zuvor Indiens reichster Mann, so stieg er in dem Jahr zu ganz Asiens reichstem Mann auf. Im Pandemiejahr 2021 stieg die Zahl der Dollar-Milliardäre in Indien um 39 Prozent an. Indien beherbergt heute nach den USA und China die größte Anzahl von Dollar-Milliardären und hat mehr Milliardäre als Frankreich, Schweden und die Schweiz zusammen.

Zahl der Armen mehr als verdoppelt

Im gleichen Zeitraum erlitten 84 Prozent der indischen Haushalte Einkommenseinbußen, die viele in tiefe und langfristige Armut stürzten. 120 Millionen Arbeitsplätze gingen verloren, von denen 92 Millionen im informellen Sektor angesiedelt waren. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) berichtete im Jahr 2021, dass in Indien 200 Millionen Menschen unterernährt sind und dass ein Viertel aller unterernährten Menschen weltweit in Indien leben. Das Pew Research Center mit Sitz in Washington D.C. schätzte, dass sich die Zahl der armen Menschen in Indien von 55 Millionen im Jahr 2020 auf 120 Millionen im Jahr 2021 mehr als verdoppelte. Diese ernüchternden Statistiken blenden manchmal das enorme menschliche Leid aus, auf das sie eigentlich hinweisen. Oxfam berichtet, dass Tagelöhner im Jahr 2020 die Bevölkerungsgruppe mit der höchsten Suizidrate waren, gefolgt von Selbstständigen und Arbeitslosen.

Bewertungen in den Medien, unter politischen Experten und im öffentlichen Diskurs erkennen nicht in angemessener Weise an, dass der größte Teil der wirtschaftlichen Verwüstung, die uns heute in Indien umgibt – Massensterben, Arbeitslosigkeit, Hunger und eine schrumpfende Wirtschaft – nicht in erster Linie durch die Covid-19-Pandemie verursacht wird. Diese negativen gesellschaftlichen Phänomene sind die grausamen Folgen einer von primär durch marktwirtschaftliche Gesichtspunkte bestimmten Politik, die derart ungleiche Lebensstandards nur begünstigt hat. Das wird in diesen Zeiten der globalen Katastrophen nur noch deutlicher sichtbar.

Stellen Sie sich ein vollkommen anderes Indien vor – auch wenn dies für jüngere Inder vielleicht schwieriger ist, weil sie nur das heutige Indien kennen. Stellen Sie sich zum Beispiel ein Land vor, in dem es eine kostenlose und leistungsfähige öffentliche Gesundheitsversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger, eine Grundversorgung mit Lebensmitteln für alle, das Recht von Arbeitnehmern auf soziale Sicherheit und Lohnzahlungen für alle während der Schließung von Betrieben sowie angemessen belüftete Wohnungen und sauberes Wasser gibt. Wäre das die Wirklichkeit, dann hätten Arbeitslosigkeit und auch das Sterben von Millionen von Menschen vermieden werden können. Hätten Millionen von Arbeitnehmern mehr Geld zur Verfügung gehabt, hätte die größte wirtschaftliche Rezession seit der Unabhängigkeit Indiens abgewendet werden können. Hätten die Regierungen für alle Bewohner menschenwürdige Sozialwohnungen und eine Versorgung mit Trinkwasser gewährleistet, hätten sich die Millionen, die heute in überfüllten Slums leben müssen, schützen können – durch das Leben in gut belüfteten Wohnungen mit hygienischen Waschmöglichkeiten. Millennials könnten nun einwenden: Das alles ist unrealistisch. Wozu also noch Szenarien von unerreichbaren Utopien zeichnen?

Die Vision für ein gerechteres Indien

Doch so, wie die ernüchternde humanitäre Krise von heute hätte verhindert werden können, ist eine Alternative in der Zukunft durchaus realistisch: nämlich dann, wenn sich Volk und die Regierenden den in der Verfassung festgelegten Zielen verpflichten. Oxfam stellt fest, dass Indien nur 3,54 Prozent seiner Haushaltsmittel für die Gesundheitsfürsorge ausgibt, viel weniger als andere Länder mit mittlerem Einkommen wie Brasilien (9,51), Südafrika (8,25) und China (5,35). Die Einkommensunterschiede schmälern außerdem die Lebenschancen derjenigen noch mehr, die aufgrund von Kaste, Geschlecht und religiöser Identität benachteiligt sind, in Indien noch mehr. Eine Dalit-Frau hat beispielsweise eine um 15 Jahre niedrigere Lebenserwartung als eine Frau aus einer höheren Kaste. Angesichts eines kaputten und ausgehöhlten öffentlichen Gesundheitssystems sind selbst die Ärmsten auf private Anbieter von Gesundheitsleistungen angewiesen. 60 Prozent der Gesundheitsausgaben in Indien bezahlen die Menschen aus eigener Tasche. Dieser Anteil gehört weltweit zu den höchsten und ist eine der Hauptursachen für den Absturz in die Armut. Während der Pandemie war die Benachteiligung der ärmeren Schichten noch größer: Oxfam fand heraus, dass Familien der Mittelschicht während der zweiten Welle 400.000 Rupien pro Tag in privaten Krankenhäusern ausgaben. Das entspricht der Summe, die ein Gelegenheitsarbeiter in drei Jahren verdient!

Der Ausgangspunkt unserer Vision für ein neues Indien ist ein Staat, der Verantwortung dafür übernimmt, allen Bürgern kostenlos oder auf erschwingliche Weise eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung, Bildung, Nahrung, Rente, sauberes Wasser und Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler Prabhat Patnaik schreibt in seinem Beitrag zum neuesten India Exclusion Report, der vom Centre for Equity Studies herausgegeben wurde, dass die Bereitstellung all dieser Mittel eine Entschlossenheit in der Gesellschaft erfordert, die Besteuerung der Superreichen zu erhöhen. Um all dies zu finanzieren, reichen seiner Berechnung zufolge zwei Steuern aus, die nur vom obersten Prozent der Bevölkerung erhoben werden, nämlich eine Vermögenssteuer von zwei Prozent sowie eine Erbschaftssteuer von 33 Prozent. Die indische Regierung tut das Gegenteil: Sie hat die Vermögenssteuer 2015 abgeschafft und zudem die ohnehin schon niedrigen Unternehmenssteuern gesenkt. Das Ergebnis ist eine regressive Besteuerung, die die Armen belastet. Das führt in der Folge auch zu den abgrundtief niedrigen öffentlichen Ausgaben, die die menschliche Katastrophe ausgelöst hat, die während der Pandemie zu beobachten war.

Die Menschen in Indien, ja in der ganzen Welt, müssen unbedingt erkennen, dass ein humanerer und egalitärerer Planet möglich ist. Doch um dies zu erreichen, brauchen wir eine radikale Neugestaltung des Sozialvertrags, den die Bürger mit ihren Regierungen und die Menschen untereinander haben. Diejenigen, die sich für eine menschenfreundlichere Welt einsetzen, dürfen diesen Moment nicht verpassen: Die Pandemie hat uns den Schrecken unseres moralischen Versagens vor Augen geführt. Das Versagen führt zu wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, die das Leben einiger Weniger privilegieren, aber Millionen anderer Menschen als entbehrlich behandeln. Den Kampf unserer Zeit müssen wir für einen neuen Gesellschaftsvertrag führen, der auf Solidarität und Integration beruht.

Harsh Mander grau rund

 

Harsh Mander ist Richard von Weizsäcker Fellow  der Robert Bosch Academy und Direktor des Centre for Equity Studies in Indien. Er ist Autor des Buches „Locking Down the Poor: The Pandemic and India’s Moral Centre” (2021).

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