Deutschlands De-Risking-Strategie gegenüber China und die Rolle der Informationstransparenz
In letzter Zeit ist „De-Risking“ zum Modewort in der europäischen Politik geworden. Doch der Begriff verliert leicht seine Bedeutung, wenn wir die fraglichen Risiken nur unzureichend abschätzen und nicht beurteilen können, ob es sich um eine echte Bedrohung oder nur einen Hype handelt.
Von King-wa Fu
Deutschland hat vor kurzem seine lang erwartete „China-Strategie“ veröffentlicht, in der es die Grundgedanken für einen neuen Ansatz Deutschlands in der Zusammenarbeit mit China darlegt. In einem Bericht des Mercator Institute for China Studies (MERICS) wird die Strategie mit den Worten „ehrgeizige Worte, zweideutiger Kurs“ beschrieben. Die öffentliche Reaktion ist weitgehend gemischt: Auf der einen Seite steht die wachsende Bedrohung der Menschenrechte und der Weltordnung durch China, auf der anderen Seite die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Verschlechterung der Beziehungen zu China. Das 64-seitige Papier wird in den Medien häufig als das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Politiker:innen und Wirtschaftsvertreter:innen dargestellt. Die genehmigte Investition Chinas in das Hamburger Hafenterminal gilt als Präzedenzfall für einen solchen Kompromiss in der deutschen Politik. Die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der deutschen China-Strategie sind jedoch noch nicht absehbar.
Als Schlüsselelement des politischen Narrativs betont Deutschland das De-Risking als wichtigstes Leitmotiv, um seine übermäßige Abhängigkeit von einem einzelnen Land zu verringern. Aber dieses Narrativ ist ja nichts Neues: Wir leben in einer Welt der Unsicherheit, vom Klimawandel bis zum Krieg in der Ukraine. Das Risikomanagement (einschließlich der Entschärfung von Krisen) gehört zum Wesen der modernen Gesellschaft, wie der deutsche Soziologe Ulrich Beck in seinem berühmten, vor fast drei Jahrzehnten veröffentlichten Buch treffend formulierte. Selbstverständlich sollte jede verantwortungsbewusste Regierung, unabhängig davon, wer an der Macht ist, welche Partei an der Macht ist und welche politische Richtung sie verfolgt, die Gefahr einer möglichen Krise verringern – und damit die Wahrscheinlichkeit, dass wirklich schlimme Dinge passieren.
Die wichtigste Frage, die wir uns jetzt stellen sollten, betrifft also nicht die rhetorischen Mittel, die in dem Papier vorgestellt werden, sondern den Weg in die Zukunft: Wie setzt Deutschland seine De-Risking-Strategie in konkrete Politik um?
Dem Oxford-Wörterbuch zufolge ist Risiko „die Möglichkeit, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft etwas Schlimmes passiert“, und De-Risking bedeutet, den potenziellen Schaden zu minimieren. Aber wie können wir den potenziellen Schaden genau abschätzen? De-Risking ist ohne eine gute Risikobewertung nicht möglich. Evidenzbasiertes Wissen ist der Schlüssel zum Verständnis des tatsächlichen Risikos und zur Beurteilung, ob es sich bei der Besorgnis um bloße Paranoia handelt oder nicht. Der Aufbau einer Wissensbasis sollte als Voraussetzung für eine De-Risking-Strategie dienen. Der Zugang zu qualitativ hochwertigen und zuverlässigen Informationen über China ist daher entscheidend für den Erfolg der De-Risking-Politik. Doch leider hat es bereits eine Reihe von Bedrohungen gegeben, die Deutschlands Fähigkeit zu einer derartigen Risikobewertung nicht gerade förderlich sind. Die Formulierung eines prinzipiengeleiteten, vielschichtigen und transparenten politischen Engagements, so argumentiere ich, ist der wichtigste Teil der Umsetzung der deutschen China-Strategie.
Deutschlands blinde Flecken
Es ist nicht ganz neu, dass deutsche (und andere westliche) Medien in der Regel aus einer verengten Perspektive, wenn nicht gar stereotyp über China berichten. Vor einem Jahrzehnt veröffentlichte die Heinrich-Böll-Stiftung eine Studie zur Analyse des Berichterstattungsstils deutscher Medien und stellte fest, dass „mehr als die Hälfte dieser Beiträge sich lediglich in allegorischer und stereotypisierender Form auf China bezieht“ und dass „deutliche blinde Flecken in der Themenagenda aller Medien [bestehen], da insbesondere für gesellschaftliche Umbruchsprozesse so zentrale Bereiche wie Soziales oder Bildung, Wissenschaft & Technik fast vollständig ausgeklammert werden.“ In einer neueren Untersuchung wird trotz der zunehmenden Vielfalt der chinarelevanten Medienthemen bestätigt, dass die deutschen Medien nach wie vor wirtschaftlichen Themen mit Bezug zu Deutschland große Aufmerksamkeit schenken. Die Studie stellt aber auch eine Verschiebung in der Darstellung Chinas in den Medien fest: China wird immer häufiger als Rivale und nicht als Partner beschrieben. Dieses Medienframing spiegelt im Wesentlichen die Position der Europäischen Union seit März 2019 wider, die China als „Kooperations- und Verhandlungspartner, als wirtschaftlichen Konkurrenten und als systemischen Rivalen“ betrachtet.
Dichotomie kann eine kognitive Falle sein. Sie kann als mentales Schlagwort dienen, das uns dazu verleitet, Themen in ein Schwarz-Weiß-Raster einzuordnen, aber sie nicht so facettenreich zu beurteilen, wie wir es in einer komplexen Welt tun sollten. Leider neigt die öffentliche Debatte in Deutschland über China dazu, in eine allzu vereinfachte Zweiteilung zu verfallen. Einige meiner deutschen intellektuellen Freund:innen mit umfassenden Kenntnissen über China beklagen sich über dieses ungesunde öffentliche Phänomen. Obwohl sie unparteiisch bleiben, werden ihre Einsichten oft polaren Extremen zugeordnet: entweder als „Panda-Knuddler“ oder als „China-Hasser“. Diese Art der Einordnung zieht zwar die Aufmerksamkeit auf sich, aber sie fasst die komplexen soziopolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und China nicht korrekt zusammen.
Allerdings sollten die Nachrichtenmedien nicht die Hauptschuldigen sein. Auslandskorrespondent:innen in China haben bei der Recherche für ihre eigenen Geschichten vor Ort mit unzähligen Hürden zu kämpfen. In den Jahresberichten des Foreign Correspondent Club China werden seit Jahren Opfer von Übergriffen und Belästigungen dokumentiert, darunter auch viele deutsche Korrespondent:innen, und die Situation scheint sich verschärft zu haben. Im März 2023 forderte die International Federation of Journalists (IFJ) in einer Pressemitteilung die chinesische Regierung auf, „die Informationsfreiheit zu respektieren und die Verfolgung unabhängiger und kritischer Journalist:innen einzustellen.“ Dies zeigt, wie schwierig es für Journalist:innen ist, über das „echte“ China zu berichten. Das streng reglementierte Medienumfeld setzt Journalist:innen einem Risiko aus und erschwert ihnen den Zugang zu Material aus erster Hand und zu lokalen Quellen. So wird die Praxis gefördert, Informationen aus zweiter Hand zu verwenden und eine begrenzte Anzahl von Expert:innen zu befragen, was letztlich bestehende Stereotypen verstärken kann.
Chinas Intransparenz
Betrachten wir das Ganze einmal von der anderen Seite. Im Vergleich zu vielen demokratischen Gesellschaften ist Chinas Regierung berüchtigt für ihre Intransparenz. Es ist notorisch schwierig, herauszufinden, was genau im Land vor sich geht. Eines der aufschlussreichsten Beispiele ist das jüngste öffentliche Verschwinden und der spätere Rücktritt des chinesischen Außenministers Qin Gang. Sein überraschender Abgang ist immer noch ein Rätsel. Ein weiteres Beispiel ist die peinliche Pressekonferenz ohne Fragerunde zum Abschluss des Berlin-Besuchs des chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiangim Juni 2023.
Es ist allgemein bekannt, dass Chinas Mediensystem von der Regierung streng kontrolliert wird. Die Nachrichtenmedien sind praktisch alle staatlich gelenkt, und den meisten ausländischen Medien ist es nicht gestattet, in China Nachrichten zu veröffentlichen. Die wenigen Ausnahmen sind die russischen Staatsmedien RT und Sputnik News. Unabhängige Stimmen und abweichende Meinungen können nicht ohne weiteres nebeneinander bestehen. Die weltweit tätige Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen stuft China im weltweiten Länder-Ranking Medienfreiheitauf dem vorletzten Platz ein. Im chinesischen Internet kann politisch sensibles Material schnell entfernt werden, und Nutzerkonten in sozialen Medien, die eine andere Meinung als die Behörden vertreten, können plötzlich verboten werden.Ein breites Spektrum an Themen kann als sensibel eingestuft werden, darunter wenig überraschend Diskussionen über die führenden Politiker:innen des Landes, die historischen Ereignisse in China und die Außenpolitik. Offizielle Stellen in China können ein breites Spektrum von Themen als sensibel einstufen: nicht überraschend etwa Diskussionen über die Führung des Landes, historische Eriegnisse in China und Außenpolitik. Werden „nicht-offizielle" Formulierungen verwendet, besteht die Gefahr, dass der Inhalt gelöscht wird. Aber auch alternative Ansichten über Chinas Wirtschaft, Finanzprognosen oder Sozialpolitik (wie sinkende Geburtenraten oder steigende Arbeitslosigkeit) können der Zensur unterliegen.
Zensurentscheidungen und der Prozess der Inhaltsmoderation, also das Freigeben oder Löschen von Inhalten, sind nicht transparent. Die Qualität grundlegender statistischer Daten, z. B. Volkszählungs- oder Bevölkerungszahlen, wird von Wissenschaftler:innen und Statistiker:innen in Frage gestellt. Selbst nach drei Jahren Pandemie fordert die Weltgesundheitsorganisation China immer noch wiederholt auf, Covid-19-Daten zur Verfügung zu stellen, um die Ursachen der Krankheit besser zu verstehen. Kürzlich hat das Nationale Statistikamt Chinas die Veröffentlichung von Arbeitslosenzahlen eingestellt, da die Zahl der jungen chinesischen Hochschulabsolvent:innen, die nicht in den Arbeitsmarkt eintreten können, sprunghaft angestiegen ist.
Neue Vorschriften schränken den Datenzugriff von außen ein und erschweren ausländischen Unternehmen und Akademiker:innen die Datenerhebung zusätzlich. Chinas neuestes Anti-Spionage-Gesetz trat am 1. Juli 2023 in Kraft und erweitert den Umfang des mit Spionage in Verbindung gebrachten Materials auf „alle Dokumente, Daten, Materialien und Artikel, die mit der nationalen Sicherheit und den nationalen Interessen in Verbindung stehen“, ohne jedoch eine klare Definition der „nationalen Sicherheit und der nationalen Interessen“ zu geben. Einige Wirtschaftsführer:innen in Europa und den Vereinigten Staatensind alarmiert und haben offen Zweifel daran geäußert, in welcher Form das Gesetz überhaupt eingehalten werden kann. Darüber hinaus verlangt das neue Gesetz zum grenzüberschreitenden Datentransfer, das am 1. September dieses Jahres in Kraft tritt, von chinesischen Unternehmen eine „Sicherheitsüberprüfung“ für den Export von Daten ins Ausland. Internationale Finanzunternehmen in China sind besonders besorgt darüber, ob die Weitergabe von in China generierten Investitions- und Portfoliodaten an Offshore-Kolleg:innen gesetzlich verboten ist.
Am besorgniserregendsten sind jedoch die Zukunftsaussichten für Chinas Informationsoffenheit, die sich in einer Abwärtsspirale zu befinden scheint. Im März 2023 überarbeitete der Staatsrat unter der Leitung des neuen Ministerpräsidenten Li Qiang die Arbeitsregeln der Regierung, indem er das Mandat der Vorgängerregierung „Offenheit als Norm, Geheimhaltung als Ausnahme“ aufhob. Dies deutet darauf hin, dass China bei der Weitergabe von Informationen und der Verfügbarkeit von Daten noch weniger transparent und zugänglich wird.
Sinnvolles Engagement gegenüber China
Die zunehmende Intransparenz hat sich zu einem Teufelskreis entwickelt. Weitere Restriktionen vergrößern die Kluft zwischen der Realität und der Medienwahrnehmung. Die Missverständnisse und die Polarisierung führen zu wachsendem Misstrauen und zu einer stärkeren Reglementierung. Jemand sollte die Initiative ergreifen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Obwohl die deutsche Weltanschauung und die demokratischen Werte in krassem Gegensatz zu den chinesischen stehen, hat Berlin eine langfristige Partnerschaft und tiefe wirtschaftliche Beziehungen zu China aufgebaut. Es scheint immer noch in einer besseren Position zu sein, um mit Peking in Kontakt zu treten, als viele andere westliche Verbündete. Die Dinge werden sich nicht über Nacht ändern. Wie schwer es auch sein mag, beide Parteien sollten weiterhin eine gemeinsame Basis und eine Reihe von Grundsätzen als Rahmen für den Beginn eines sinnvollen Engagements erarbeiten. Informationsaustausch und Transparenz sollten der erste Schritt sein. Das Engagement sollte außerdem auf mehreren Ebenen erfolgen. Trotz der Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Gesetz über ausländische Nichtregierungsorganisationen in China sollte Deutschland mit China zusammenarbeiten, um den direkten Austausch zwischen Wissenschaftler:innen, Journalist:innen, Privatunternehmen, Think Tanks und der Zivilgesellschaft beider Länder zu erleichtern und sicherzustellen, dass sich alle Beteiligten sicher und wohl fühlen, um ihre Ansichten ohne Einschränkungen und negative Konsequenzen äußern zu können. Auch wenn in Deutschland ein Konsens darüber besteht, dass die Entkopplung von China auf kurze Sicht keine Lösung ist, beruht ein sinnvoller Austausch auf Transparenz. Der Aufbau von Vertrauen hängt von Ehrlichkeit ab. Dies sollte der Eckpfeiler der künftigen deutsch-chinesischen Engagement-Politik sein.
King-wa Fu ist Professor am Zentrum für Journalismus und Medienwissenschaften der Universität Hongkong und Richard-von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
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