Die partizipative Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft ist eine Aufgabe für Alle

März 2023

Seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine befinden sich mehr als acht Millionen Ukrainer:innen auf der Flucht, viele in Ländern Ost- und Mitteleuropas und mehr als eine Million in Deutschland. Markus Lux, Bereichsleiter Globale Fragen und verantwortlich für das Thema „Einwanderungsgesellschaft“, gibt im Gespräch Einblicke in die Strategie der Stiftung. 

Ein Gespräch mit Markus Lux

Einwanderungsgesellschaft Ukraine Berlin Geflüchtete
IMAGO / Christian Thiel

Henry Alt-Haaker:  Die russische Invasion der Ukraine im Februar 2022 hat neben der menschlichen Not in der Ukraine auch Europa und die ganze Welt maßgeblich beeinflusst; unter anderem durch hohe Geflüchtetenzahlen, die viele Nachbarländer und auch Deutschland vor große Herausforderungen stellen. Wie hat die Stiftung auf diese Herausforderung reagiert?

Markus Lux:  Zunächst für uns eher ungewöhnlich, da wir einen starken Fokus auf Nothilfe gelegt haben. Auf Grund der jahrelangen Beziehungen in die Region, aber auch unter dem Eindruck der großen Zahlen an Geflüchteten haben wir uns dazu entschieden, stärker in dieser Form tätig zu werden. Dazu gehörte unter anderem die Unterstützung migrantischer Organisationen in Deutschland und Mitteleuropa bei der Aufnahme und Integration geflüchteter Ukrainer:innen. Gleichzeitig sahen wir für uns neue Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbedarfe.

 

In Deutschland wird oft über die Anzahl von Geflüchteten im Verhältnis zur Bevölkerung gesprochen und welche Bedeutung dies für das gesellschaftlichen Zusammenleben hat. Ihr seid nicht nur in Deutschland aktiv, sondern unter anderem auch in unseren osteuropäischen Nachbarländern. Wo liegen die Unterschiede in den Debatten oder Herausforderungen in den Gesellschaften im Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten?

Zwischen den einzelnen Ländern sind die Debatten heute gar nicht so unterschiedlich. Analog zu der Situation in Deutschland 2015/16 haben wir gerade in Mitteleuropa, insbesondere in Polen, erlebt, wie stark die Zivilgesellschaft sein kann, wenn der Staat nicht vorbereitet war oder es allein nicht leisten konnte, diese Aufgabe der Aufnahme, der Versorgung und auch der Integration zu schultern. Das passierte in ganz Mittel- und Nord-, aber auch in Westeuropa. Natürlich sind Länder unterschiedlich betroffen, weil die Migrationsrouten unterschiedlich im Vergleich zu den Jahren 2015/16 sind. Länder wie Italien und Spanien erleben weniger Migration aus der Ukraine, Mitteleuropa stärker. Länder in Mitteleuropa, die 2015/16 sehr restriktiv oder zurückhaltend gegenüber EU-Beschlüssen wie dem Verteilungsschlüssel waren, zeigten sich plötzlich als treibende Kräfte bei diesen Fragestellungen und gingen neue Lernprozesse ein.

 

Wie bereiten wir uns als Stiftung auf die kommenden Jahre vor? Der Krieg ist leider noch nicht vorbei und es sieht auch nicht so aus, als würde er bald enden. Es gibt noch viele Ukrainer:innen, die außerhalb ihres Landes leben müssen. Was erwartest Du für die nächsten Monate?

Zukunftsvorhersagen sind hier sehr riskant, weil der militärische Zustand innerhalb der Ukraine der entscheidende Faktor ist. Mein Eindruck ist: Kommt es zu einem frozen conflict, ist eher mit einer Rückwanderung von Geflüchteten zu rechnen. Gibt es eine große Offensive Russlands und kommt es nicht zur Gegenoffensive der Ukraine, dann ändert sich die Situation dramatisch. Gäbe es einen erfolgreichen Angriff auf die Millionenstadt Odessa, wären Länder wie Moldau und Rumänien innerhalb von Stunden am Rande ihrer Kapazitäten. Die Frage ist aber auch, was sind unsere Lessons Learned? Insbesondere auf der kommunalen Ebene ist die zirkuläre Migration ein neuer Faktor. In den letzten Jahren wurde der Begriff vor allem auf Arbeitsmigration bezogen, zum Beispiel Pflegekräfte oder Saisonarbeiter:innen. Zum ersten Mal haben wir aber auch bei Geflüchteten häufig auftretende zirkuläre Migration, und das stellt uns vor neue Herausforderungen.


Lass uns zu den Aktivitäten der Stiftung im Thema Einwanderungsgesellschaft gehen, unabhängig von der konkreten Reaktion auf den Angriffskrieg in der Ukraine. Wir arbeiten zu Projekten mit dem sperrigen und sehr deutschen Begriff „Einwanderungsgesellschaft“, der in Deutschland lange kontrovers diskutiert wurde. Sind wir eine Einwanderungsgesellschaft, wollen wir das sein und wenn ja, was bedeutet das? Und was meinen wir mit diesem Begriff?

Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, aber wir haben uns das noch nicht vollständig bewusst gemacht und unser Handeln danach ausgerichtet. Als wir 2020 den Begriff diskutiert haben, haben wir uns strategisch mit Bedrohungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschäftigt. Wesentliche Herausforderungen für unsere Gesellschaft sind Racializing und rassistische Diskriminierung und da setzen wir an. Wir haben den Begriff Einwanderungsgesellschaft gewählt, wohl wissend, dass er nicht selbsterklärend und schwer zu übersetzen ist. Damit sind wir gleich mit unseren Partner:innen in einem Dialog über Inhalte, was wir sehr schätzen.


Ihr habt eure Arbeit in Handlungsstränge aufgeteilt: Kommunales Handeln und gleichberechtigte Teilhabe. Welches Defizit versuchen wir dort zu adressieren?

Die zwei Handlungsstränge können nur gemeinsam wirken. Bei „kommunalem Handeln“ geht es uns um die Gestaltung der Integration auf der kommunalen Ebene, insbesondere in Transformationsregionen wie den ländlichen Räumen. Hier unterstützen wir lokale staatliche Akteur:innen darin, Integrationskonzepte zu realisieren, und zwar mit einem wirklich herausfordernden, aber ernst gemeinten transsektoralen Ansatz. Der zweite Handlungsstrang beinhaltet die Stärkung der Zivilgesellschaft. Ihre Akteur:innen, insbesondere Vertreter:innen der migrantisch geprägten Zivilgesellschaft, unterstützen wir in ihrem Engagement für das Zusammenleben. Das Kernziel ist es, ein gemeinsames Verständnis von einer Einwanderungsgesellschaft, die alle Menschen einschließt, die in ihr leben, zu gestalten. Dafür brauchen wir staatliche Akteur:innen einerseits, die ihr politisches Handeln danach ausrichten, aber auch migrantische Interessensvertretungen, die besser teilhaben können. Es geht uns nicht nur darum, die Bedarfe der zugewanderten Menschen zu berücksichtigen, sondern auch die Potenziale dieser Menschen für unsere Gesellschaft zu nutzen.

 

Das erscheint mir keine leichte Aufgabe zu sein: Auf der einen Seite eine in meinen Erfahrungen nicht unbedingt beratungsoffene Infrastruktur lokaler politischer Entscheidungsträger:innen, die sich von einer Stiftung keine guten Ratschläge geben lassen wollen. Auf der anderen Seite eine Community von Organisationen und marginalisierten Personen in der Gesellschaft, die vermutlich eine gewisse Skepsis gegenüber einer wohlhabenden Stiftung aus Berlin und Stuttgart hat. Gleichzeitig funktionieren eure Ansätze aber nur, wenn beide Seiten überzeugt sind und Ownership am Prozess haben. Wie bringt ihr diese Spannung zusammen?

Beim kommunalen Handeln ist die Stiftung schon lange aktiv und pflegt die transsektorale Zusammenarbeit mit Organisationen wie Universitäten und Forschungseinrichtungen, die sich seit Jahren mit der Thematik beschäftigen. Letztlich geht es um die Interessen der kommunalen Ebene. Während Entscheidungen über Mittel für die kommunale Integration auf der Bundesebene fallen, passiert das Handeln in den Kommunen. Dort ist das Wissen und da sind auch die Bedürfnisse. Hier können wir als Stiftung die Kommunen bedarfsorientiert unterstützen, auch in der Kommunikation mit höheren politischen Ebenen. Bei der gleichberechtigten Teilhabe und der Zielgruppe der migrantischen Selbstorganisationen haben wir durch unsere jahrelange zivilgesellschaftliche Arbeit sowohl eine Glaubwürdigkeit als auch eine Accountability in Deutschland und in Europa. Darauf lässt sich natürlich aufbauen.

Aber es stellt sich grundsätzlich für uns die Frage, wie wir mit diesem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Förder:innen und Empfänger:innen umgehen. Wenn wir von Empowerment und Powersharing sprechen, müssen wir uns selbst hinterfragen, also die Art, wie wir fördern. Wir müssen stärker das Handeln, aber auch die Kreation der Maßnahmen in die Hände der Zielgruppen geben. Das alles sind aber nur Schritte auf dem Weg zum solidarischen Handeln. Wie weit sind wir in der Lage, Kapitalien, die wir besitzen, Ressourcen, finanzielle, personelle, aber auch den guten Namen, Netzwerke und weiteres mit unseren Partner:innen zu teilen? Wie weit können wir als unternehmensverbundene Stiftung gehen und wo müssen wir die Entscheidungsgewalt bei uns lassen und das auch transparent unseren Partner:innen vermitteln? Die ersten Erfahrungen mit Förderungen, Workshops und Diskussionsrunden, zeigen große Offenheit auf Seite unserer Partner:innen.


Du hast schon kurz angesprochen, dass ihr nicht nur in Deutschland, sondern eben auch in sehr unterschiedlichen Ländern aktiv seid. Wie funktioniert das internationale Lernen voneinander, das Übertragen von Erfahrungen aus einem Kontext in einen anderen Kontext und der Austausch zwischen Akteur:innen?

Der erste Ansatz ist, man sieht etwas im Ausland und glaubt, dass es für das heimische Ökosystem sinnvoll sein könnte. Man versucht daher, es zu adaptieren, indem man es selbst übernimmt oder die entsprechenden Akteur:innen aus den beiden Ländern zusammenbringt. Ein zweiter Ansatz ist das umgekehrte Vorgehen. Vielleicht gibt es etwas, das wir in Deutschland entwickelt haben, was interessant in der internationalen Skalierung wäre. Auch hier müssen wir vor allem Netzwerke haben und Organisationen und Akteur:innen zusammenbringen, was wir als Stiftung übrigens schon lange tun. Da haben wir eine Convener-Rolle mit unseren Erfahrungen und Netzwerken. Es gibt zum Beispiel viele Parallelen bei Integrationsmaßnahmen zwischen Deutschland und Tschechien, was uns überrascht hat. Deutschland, Frankreich und Polen sind wiederum sehr unterschiedlich. Der dritte Ansatz ist das gemeinsame Gestalten. Wir, bzw. unsere Partner:innen identifizieren Felder des gemeinsamen Handels und in Ländern oder in Gemeinschaften Akteur:innen, die teilhaben wollen. Der klassische NGO-Sektor ist eher international vernetzt als kommunale Akteur:innen.  


Als Stiftung sind wir noch auf einer Lernreise, wenn es um das partizipative Fördern geht, dasselbe gilt auch für die Arbeit in unseren Themen. Die Arbeit an einer inklusiven und partizipativen Einwanderungsgesellschaft ist vermutlich nicht morgen abgeschlossen. Mit Blick auf die nächsten ein bis fünf Jahre, wo würdest Du Felder für euch ausmachen - geographisch oder inhaltlich -. wo wir noch aktiver sein sollten?

Geografisch ist Mittel- und Osteuropa für uns interessant, weil dort - auch ausgelöst durch Russlands Krieg in der Ukraine und die hohen Geflüchtetenzahlen - Diskurse über Einwanderung stattfinden, die es bislang so nicht gab. Diese Länder waren eher von Abwanderung geprägt und jetzt steht Zuwanderung, die sie übrigens auch schon vorher hatten, mehr im öffentlichen Diskurs. Häufig gibt es in den Ländern einen Bedarf an neuen Integrationskonzepten und dort können wir mit unseren Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in den Austausch gehen und gemeinsam lernen. Ein Beispiel ist Lettland, ein klassisches Abwanderungsland, das prozentual gesehen einen noch größeren Bedarf an Arbeitsmigration und Fachkräften hat als Deutschland. Das Thema Arbeitsmigration ist also eines, das großes Potenzial bietet, gerade wenn es um gesellschaftliche Teilhabe und Empowerment geht.

Intersektionalität ist ein weiteres Thema, das wir weiterdenken müssen, zum Beispiel Gender und Queerness. Geflüchtete, queere Personen sind nicht nur in ihrer Geflüchtetencommunity marginalisiert und diskriminiert, sondern manchmal sogar in der aufnehmenden LGBTQ+ Community.

Dann geht es uns auch weiterhin um die kommunale Ebene, die sich in einem permanenten Krisenmodus befindet. Die dortigen Probleme sind gesamtgesellschaftliche kommunale Probleme wie der Wohnungsmarkt, Bildungssysteme, die auch ohne ukrainische Kinder schon überlastet wären, und das Gesundheitssystem. Diese Herausforderungen sind deutschland- und auch europaweit evident und hängen eng mit Fragen der Zuwanderung zusammen.

Der letzte große Bereich, der uns weiter beschäftigen wird, ist die Frage des solidarischen Handelns.

Vielen Dank für die spannenden Einblicke in eure Arbeit.

Henry Alt-Haaker rund grau 30p

 

Henry Alt-Haaker leitet den Bereich Strategische Partnerschaften und Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung.

Markus Lux rund grau

 

Markus Lux ist Bereichsleiter Globale Fragender Robert Bosch Stiftung und verantwortlich für die Themen Demokratie und Einwanderungsgesellschaft.

Das könnte Sie auch interessieren

Debates @Academy – Schools and Universities in Sub-Saharan Africa

Bitte wechseln Sie auf die englische Version unserer Website, um diesen Nachbericht zu lesen.

Weiterlesen

„Das Thema Kollaboration ist äußerst heikel“

Pierre Hazan ist leitender Berater beim Centre for Humanitarian Dialogue, einer der wichtigsten Organisationen für Vermittlung in bewaffneten Konflikten. Er verfolgt den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und konzentriert sich auf „Transitional...

Auf einer externen Seite weiterlesen

Der Multilateralismus muss Ergebnisse liefern

Die dringendsten Probleme der Welt sind global und erfordern multilaterale Antworten. Die wesentlichen politischen Mechanismen dafür existieren bereits. Doch um die anstehenden Aufgaben besser bewältigen zu können, müssen multilaterale Institutionen...

Weiterlesen