Eine neue gemeinsame Zukunft entwerfen
Sowohl Wahldemokratien, also nicht-liberale Demokratien, als auch autoritäre Staaten legitimieren zunehmend Hass und Fanatismus, höhlen die Demokratie aus und untergraben die Idee einer Gesellschaft gleichberechtigter Bürger:innen. Die Zeit ist überfällig für einen radikal neuen Entwurf einer gemeinsamen Zukunft für alle.
von Harsh Mander
Überall um uns herum gibt es Anzeichen für eine Welt in Aufruhr. In vielen Ländern der Erde – auch in Indien, der größten Demokratie der Welt – werden bürgerliche Freiheiten und das friedliche Miteinander in Frage gestellt und manchmal sogar durch eine immer stärkere Politik des Hasses ausgelöscht. Für Angehörige religiöser oder ethnischer Minderheiten, die Angehörigen bestimmter Klassen oder Kasten und geschlechtsspezifische Minderheiten ist ein Leben in Würde und Sicherheit zunehmend schwierig geworden.
Wir leben heute auf einem Planeten, auf dem die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass Ihr:e Nachbar:innen nicht so aussehen wie Sie, nicht so beten wie Sie, nicht Ihre Sprache sprechen und auch nicht so essen, sich kleiden, singen, tanzen und lieben wie Sie. Wie reagieren wir auf diese „anderen“ Menschen? Sind wir einladend, neugierig und freundlich? Oder ängstlich, ablehnend und hasserfüllt?
Nur wenige Länder der Welt sind heute immun gegen den Aufstieg rechtsextremer Führer, die Misstrauen und Hass gegenüber Menschen mit anderem Glauben, anderer Hautfarbe, anderen Überzeugungen und anderen Lebensweisen schüren. Besorgniserregend ist, dass in vielen Ländern, auch in Deutschland, große und wachsende Teile der Wählerschaft diese Politik des Ressentiments gegen „andere“ Menschen, die als Außenseiter:innen, Eindringlinge und Unbeteiligte dargestellt werden, mittragen.
In Indien ist diese Hasskampagne gegen Minderheiten zu einer wütenden Flut angeschwollen, die all das wegzuspülen droht, was sieben Jahrzehnte säkularer Demokratie erreicht haben. Indiens Demokratie war nie perfekt. Aber trotz ihrer Schwächen war sie robust, lebendig, bunt und durchsetzungsfähig. Es gab weitgehend freie Wahlen, eine relativ unabhängige Justiz und Presse, durchsetzungsfähige politische Oppositionen und eine wachsame Zivilgesellschaft.
Warum die Demokratie in Indien in Gefahr ist
Auf dem Weg der indischen Republik ist heute jedoch ein Punkt erreicht, an dem Demokratie und Freiheiten ernsthaft bedroht sind. Das Varieties of Democracy Institute (V-Dem) an der Universität Göteborg stuft in seinem Democracy Report 2022 Indien treffend als „Wahlautokratie“ ein.
Eine der dramatischsten und besorgniserregendsten Bedrohungen für die demokratischen Freiheiten in Indien ist die Unterdrückung abweichender Meinungen in der Politik, der Zivilgesellschaft und in der Wissenschaft. Ein schriller, hierarchisch geführter Diskurs setzt den „obersten Führer“, die Regierungspartei und die Regierung mit der Mehrheitsreligion und der Nation gleich. So wird jede Kritik stigmatisiert und sogar als „anti-national“ kriminalisiert.
Indiens Anti-Terror-Gesetz UAPA wird als Waffe gegen Andersdenkende eingesetzt. Intellektuelle und Aktivist:innen, junge wie ältere, werden jahrelang ohne Gerichtsverfahren oder das Recht auf Stellung einer Kaution inhaftiert. Das aus der Kolonialzeit stammende „Aufwiegelungsgesetz“ wird in ähnlicher Weise gegen politisch Andersdenkende eingesetzt. Ganze 97 Prozent der Fälle von Volksverhetzung, die unter der Regierung von Narendra Modi eingereicht wurden, richteten sich gegen Bürger:innen, die die Regierung kritisierten. Vor einem Jahrhundert wurde Gandhi unter diesem Gesetz wegen „Unzufriedenheit“ mit dem kolonialen Staat angeklagt. Er erwiderte, dass „Zuneigung“ nicht erzwungen werden kann, sondern verdient werden muss.
Die Ermittlungsbehörden des indischen Staates werden massiv und schamlos dazu missbraucht, die politische Opposition und abweichende Bürger zu kriminalisieren. Hinzu kommt die rasante, vorsätzliche Zerstörung der freien Universitäten und ein ruinöses Durchgreifen bei der Finanzierung der Zivilgesellschaft und dem Schutz ihrer Entfaltungsmöglichkeiten.
Der von Reporter ohne Grenzen veröffentlichte Welt-Pressefreiheits-Index 2021 stuft Indien auf Platz 142 von 180 Ländern ein: Als „schlecht“ für den Journalismus und „eines der gefährlichsten Länder“ für Journalist:innen, die versuchen, ihrem Auftrag gerecht zu werden und gute Arbeit zu leisten.
Der Bericht verweist auf die gewaltsamen staatlichen und gesellschaftlichen Angriffe auf Indiens religiöse Minderheiten – insbesondere auf Muslim:inne:n, aber auch auf Christ:innen. Ihr Recht auf freie Religionsausübung, aber auch ihr Recht auf gleichberechtigte Staatsbürgerschaft wird angegriffen.
Was uns Deutschlands Erfahrungen im Dritten Reich lehren
In dem Jahr, das ich in Deutschland verbracht habe, habe ich mich intensiv mit den Erfahrungen Deutschlands im Dritten Reich beschäftigt. Aus dieser Geschichte spricht die düstere Mahnung, dass Demokratie die Herrschaft der Mehrheit voraussetzt, aber nicht auf sie beschränkt ist – denn diese Herrschaft kann zum Faschismus mutieren. Demokratie bedeutet den Schutz jeder Minderheit und aller ihrer Freiheiten, einschließlich der Religions- und Kulturfreiheit. Demokratie muss auch gewährleisten, dass Angehörige aller Minderheiten in jeder Hinsicht gleichberechtigte Bürger:innen sind.
In den acht Jahren unter der Führung von Premierminister Modi wurde Indien von den Wirren einer staatlich gelenkten Kampagne des offenen Hasses gegen seine religiösen Minderheiten, vor allem gegen Muslim:innen, aber auch gegen die Religionsfreiheit der Christ:innen, heimgesucht. Eine Krankheit vergiftet die Seele dieses alten Landes – so sehr, dass Gregory Stanton, Gründer von Genocide Watch, argumentiert, dass Indien unter Modi erste Anzeichen eines bevorstehenden Völkermords zeige. Das US Holocaust Museum schätzt, dass Indien nach Pakistan das Land ist, das am ehesten Zeuge eines Völkermordes werden könnte.
Es quält mich, so viele Ähnlichkeiten zwischen dem zu sehen, was sich heute in Indien abspielt, und den Hasskampagnen gegen die jüdische Bevölkerung im Deutschland der 1930er Jahre, die schließlich zur Shoah führten. Ich möchte hier nur einige Beispiele nennen:
- Ausufernde Hassreden von hochrangigen Politiker:innen und anderen Führungspersönlichkeiten: in den Medien, in der Wissenschaft, in der Populärkultur, in leitenden Positionen des Technologiesektors und in anderen Unternehmen; aber auch von Geistlichen und einfachen Bürger:innen. Diese Rhetorik von Menschen in verantwortlicher Position schürt und legitimiert den Hass und die Bigotterie der Bevölkerung und ruft manchmal sogar zu Völkermord und Massenvergewaltigungen auf. Die Erinnerung an Nazi-Deutschland zeigt, dass der Holocaust nicht in den Gaskammern begann, sondern mit Hassreden, die von der Spitze ausgingen.
- Eine Epidemie von Lynchmorden und gezielten Hassangriffen auf Minderheiten durch Bürgerwehrgruppen und Einzelpersonen, die von den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten geduldet werden – und das Schweigen der Öffentlichkeit dazu.
- Änderung der Staatsbürgerschaftsgesetze, um Muslim:inne:n vom gleichberechtigten Zugang zur Staatsbürgerschaft auszuschließen, wodurch eine Hierarchie der Staatsbürgerschaft geschaffen wird und Staatenlosigkeit droht.
- Rechtliche und soziale Hindernisse für Liebesbeziehungen und sexuelle Beziehungen sowie Eheschließungen zwischen den Religionen (und zwischen den Kasten) unter dem demagogischen Vorwand des sogenannten „Liebesdschihad“.
- Angriffe auf kulturelle und religiöse Praktiken und Heiligtümer von Minderheiten, sowohl in der Form von Gesetzgebung als auch durch gewalttätige Aktionen selbsternannter Bürgerwehren.
- Angriffe auf christliche Heiligtümer, Priester:innen und Nonnen.
- Drohungen mit dem Abriss von Moscheen unter dem Vorwand, dass dort zuvor Hindu-Tempel existierten.
- Umschreiben der Geschichte in einer Weise, die Muslim:innen dämonisiert und die Rolle der dominanten Gruppen aufwertet.
- Umbenennung von Städten und Straßen, um die Beteiligung von Minderheitengruppen und -kulturen auszulöschen.
- Umschreiben von Schulbüchern und Umgestaltung der Schulsysteme, um Minderheiten auszugrenzen und zu dämonisieren.
- Angriffe auf die wirtschaftliche Grundlage der betroffenen Minderheiten, ihren Lebensunterhalt und ihr Eigentum, durch Gesetzesänderungen und gewaltsame Selbstjustiz.
- Erzwingen einer getrennten Lebensweise von Bevölkerungsgruppen und die Ghettoisierung der betroffenen Minderheiten, ebenfalls durch Gesetzesänderungen und gewalttätige Selbstjustiz.
Ich könnte diese Liste weiterführen. Dies sind erschreckende Anklänge nicht nur an Nazi-Deutschland, sondern auch an die Jim-Crow-Ära in den USA und den sich immer weiter um sich greifenden Völkermord an den Rohingya in Myanmar.
Da die führenden Politiker:innen sowohl in Wahldemokratien als auch in autoritären Staaten zunehmend Hass und Bigotterie legitimieren, die Demokratie und die Idee der gleichberechtigten Bürgerschaft aushöhlen, ist die Zeit für einen radikal neuen Entwurf einer gemeinsamen Zukunft überfällig.
Ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen allen Völkern
Dieser Entwurf muss auf friedlichem Miteinander und Solidarität fußen, auf der Idee, dass wir uns umeinander kümmern sollten. Die Idee der säkularen Demokratie erfordert nicht die Verleugnung des religiösen Glaubens, sondern setzt den gleichen Respekt für jeden religiösen Glauben voraus, auch für die Abwesenheit des Glaubens. Die Demokratie muss den Grundsatz der gleichberechtigten Zugehörigkeit von Minderheitsreligionen, Ethnien, Sprachen und Geschlechtern enthalten, ohne dass dies an Bedingungen geknüpft ist. Minderheiten müssen eben nicht lernen, so zu sein wie die dominante Mehrheit, um dazugehören zu können. Wir – sowohl die Mehrheit als auch die Minderheiten – müssen einander akzeptieren, respektieren, voneinander lernen und uns schließlich gegenseitig feiern.
Unter Hitler stürzte Deutschland tief in den Abgrund einer schrecklichen, von oben gesteuerten Hasspolitik. Sie gipfelte in einem der schwersten Verbrechen der modernen Menschheitsgeschichte. Aber spätere Generationen haben sich in bewundernswerter Weise bemüht, in einem einzigartigen nationalen Unterfangen, sich mutig den Verbrechen ihrer jüngsten Geschichte zu stellen, um eine freundlichere und gleichberechtigtere Nation aufzubauen. Im Kampf gegen die vorherrschenden Ideologien des Hasses müssen wir uns bewusst sein, dass man Hass nicht mit Hass bekämpfen kann: Das würde ihn nur noch weiter vertiefen. Wir müssen eine neue Sprache und neue Ausdrucksformen des Widerstands finden, die auf radikaler Liebe beruhen, um den Hass zu bekämpfen. Diese Liebe, die auf großem Mut gründet, muss in der Tat die Seele unseres neuen Entwurfs eines Gesellschaftsvertrags zwischen allen Völkern werden – einer Übereinkunft für Gerechtigkeit, Gleichheit und Fürsorge.
Harsh Mander ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy und Direktor des Centre for Equity Studies in Indien. Er ist Autor des Buches „Locking Down the Poor: The Pandemic and India’s Moral Centre” (2021).
Quarterly Perspectives
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