Gedanken zu europäischer Sicherheit, Militarisierung, Transatlantismus und mehr
Progressive Strategien werden im außenpolitischen Establishment immer noch übersehen. Henry Alt-Haaker, Bereichsleiter der Robert Bosch Stiftung und Sanam Naraghi Anderlini, Fellow der Robert Bosch Academy, teilen ihre Gedanken zur Münchner Sicherheitskonferenz und den aktuellen Entwicklungen in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Von Henry Alt-Haaker und Sanam Naraghi Anderlini
Henry Alt-Haaker (HAH) und Fellow Sanam Naraghi Anderlini (SNA) schildern hier ihre Eindrücke von der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), die vom 16. bis 18. Februar 2024 stattfand. Sie diskutieren sechs Begriffe – Elefant im Raum, Gerontokratie, Alarm, Nostalgie, Ungeduld und Schockstarre – die ihre persönlichen Eindrücke beschreiben.
SNA: Wenn ich an die MSC denke, fallen mir Elefanten ein: die, die im Raum waren und die, die fehlten. Der größte Elefant war das Phantom der Zukunft Donald Trump, also die Aussicht auf eine zweite Amtszeit von Trump als US-Präsident und deren Auswirkungen auf Europa und die europäische Sicherheit. Die Debatten über die Militarisierung und die Stärkung des Sicherheitssektors drehten sich nicht nur um die Ukraine und Russland, sondern auch um die Möglichkeit, dass sich die USA aus Europa zurückziehen. Viele andere Elefanten fehlten in den Diskussionen über Israel und Palästina, insbesondere in Bezug auf die 700.000 israelischen Siedler im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Die in München anwesenden Politiker:innen sprachen immer wieder von der Notwendigkeit eines Waffenstillstands und der Rückkehr zur Zwei-Staaten-Lösung, aber niemand sprach über den Umgang mit den schwer bewaffneten Siedlern, den Israel möglich macht.
HAH: Es wurde so viel geredet, so viel in „Nostalgie“ – mein erstes Wort – geschwelgt über die guten alten transatlantischen Tage, als die Welt angeblich noch in Ordnung war. Manchmal, wenn ich diese Art von transatlantischen Fantasien höre, frage ich mich: Was ist mit der Kubakrise, den Stellvertreterkriegen in der damaligen Dritten Welt und der Ausbeutung Afrikas?
Die Debatte vernachlässigt die Veränderungen der globalen Realität. Eine Reihe neuer Akteure hat die Bühne betreten. Wir müssen an neuen Strategien arbeiten, die darüber hinausgehen, sie bloß auf unsere Seite ziehen zu wollen. Wenn wir über Russland und die Ukraine nachdenken, ist das eine einfache Angelegenheit: Es gibt einen Aggressor, der den Krieg provoziert hat, und ein Opfer. Wenn wir aber die Situation der Israelis und Palästinenser:innen vor und nach dem 7. Oktober betrachten, gibt es keine so klare Dichotomie. Und je nachdem, an welchem Zeitpunkt man beginnt, den Konflikt zu betrachten, kommt man zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Alle Regierungen ringen damit, wie sie sich in diesem komplizierten Konflikt positionieren sollen. Ich denke, die Teilnehmenden der MSC finden genau das schwierig, da einige wichtige Perspektiven fehlen.
MSC-Teilnehmende denken nicht zukunftsorientiert genug
SNA: Das führt zu einem anderen Wort: „Gerontokratie“. Ich will nicht unhöflich sein, aber das Publikum auf der MSC war merklich im höheren Alter. Es ist die Machtelite einer vergangenen Epoche, deren Mentalität im 20. Jahrhundert stehengeblieben ist. Während der Diskussionen über die Geschichte saß ich da und dachte: Es sollte doch eigentlich um die Zukunft gehen, die wir uns vorstellen und auf die wir hoffen, und nicht nur um die Zukunft, die wir fürchten. Vor allem in Bezug auf Israel und Palästina ist die dringende Aufgabe, die Gewalt jetzt zu stoppen und das Fundament für die Zukunft zu legen. Wir sollten die Frage „Welche Zukunft wollen wir?“ diskutieren und unser Handeln in der Gegenwart von dieser Debatte bestimmen lassen. Die Ironie ist, dass 1945 eine Generation auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs saß und sich die Zukunft ausmalte. Diese Generation gab uns die Friedens- und Sicherheitsarchitektur, die wir heute haben, denn sie dachte zukunftsorientiert. Doch die nachfolgenden Generationen nahmen diese Architektur als selbstverständlich hin und nutzten sie ab. Sie haben nicht in sie investiert, um sie für die aktuellen und künftigen Herausforderungen fit zu machen. Darüber hinaus haben sie die Ideen unserer Generation für eine integrativere Friedensarbeit nicht ernst genommen. Die Vorläufergenerationen weigern sich, den Raum für Zukunftsdiskussionen zu öffnen. Sie weigern sich, Frauen, junge Menschen und vielfältige Stimmen einzubeziehen, und eine Debatte über die Zukunft zu gestalten, die wir uns wünschen.
HAH: Das passt perfekt zu meinem nächsten Wort: „Ungeduld“. Während des Mittagessens mit unseren Fellows in München wurde bei ihnen ein Gefühl der Ungeduld angesichts des Wandels in Zeitlupentempo in der Zusammensetzung der Konferenz deutlich. Die meisten von ihnen sind weiblich und gehören der „Globalen Mehrheit“ an. Das ist mein bevorzugter Oberbegriff für den oft so genannten „Globalen Süden“, der etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht. Eine Teilnehmerin sagte: „Als ich das erste Mal zur MSC ging, war ich die einzige Frau dort.“ Dies zeigt, dass es nach 60 Jahren Fortschritte gegeben hat. Aber andererseits haben Randgruppen und junge Menschen heute keine Geduld und vielleicht auch keine Zeit für diese kleinen Verbesserungen. Sie reichen eben nicht für den weitreichenden Wandel, der notwendig ist.
Ich komme gerade aus Südostasien zurück, wo Deutschland eher als „Status quo“-Land denn als risikofreudiger Innovator und konstruktiver Akteur gesehen wird. Die Dringlichkeit, globale Themen wie den Klimawandel, die künstliche Intelligenz oder Pandemien und Krieg anzugehen, ist vorhanden. Doch wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir die, die die Macht haben, dazu bringen, uns zuzuhören – und dafür wir haben noch keinen Weg gefunden. Das System von 1945 wurde auf Trümmern aufgebaut, aber wir versuchen jetzt, das Haus zu sanieren, bevor es abbrennt.
SNA: Ich stimme dir voll und ganz zu und Ungeduld ist mir ein persönliches Anliegen. Ich bin mit 26 Jahren in dieses Berufsfeld eingestiegen. Ich war 29 Jahre alt, als ich mich für die Resolution des UN-Sicherheitsrats zu Frieden und Sicherheit für Frauen einsetzte. Das ist 25 Jahre her! Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Wir haben empirische Beweise dafür, wie wir bessere Friedensarbeit und Konfliktprävention leisten können, und warum es auf die Gleichstellung der Geschlechter und auf lokale Friedensstifter:innen ankommt. Wir wissen auch, wie Modelle für effektive Friedensprozesse aussehen. Ich war eine Fürsprecherin und habe Mediationsprozesse begleitet, um zu praktizieren, was ich gepredigt habe – und um zu zeigen, was möglich ist. Bei International Civil Action Network (ICAN) – eine von mir gegründete NGO, die Frauenrechte, Frieden und Sicherheit fördert – verfügen wir über ein großes Netzwerk von Menschen auf der ganzen Welt, die ihr Leben riskieren, um in Kriegsgebieten Frieden zu schaffen. Doch wenn wir auf die internationale Ebene kommen, hören wir eine neue Rhetorik und sehen neue Etiketten, wie „feministische Außenpolitik“. Bei denen handelt es sich aber nur um alten Wein in neuen Schläuchen. In der Praxis gibt es keinen grundlegenden Wandel. Unsere Ungeduld wächst aus dem einfachen Grund, dass jedes Jahr neue Kriege beginnen und keiner beendet wird. Derzeit befinden sich 369 Millionen Menschen in einer katastrophalen humanitären Lage, und der Klimawandel wird diese Situation noch verschlimmern. Meine Ungeduld rührt daher, dass 25 Jahre eine ziemlich lange Zeit sind, um Veränderungen anzustreben und so wenige tatsächliche Veränderungen zu sehen.
HAH: Ich frage mich nur, wie schnell wir vorankommen können, ohne diejenigen zu verlieren, die an der Macht sind und deren Zustimmung wir brauchen. Wir müssen sie dazu bringen, mit uns mitzuziehen.
Militär- und Sicherheitsthemen dominieren den Diskurs immer noch
SNA: Das bringt mich zu dem Wort „Alarm“. Erstens hat mich alarmiert, dass Militarisierung, erhöhte Verteidigungsausgaben und die Umwandlung von eigentlich zivilen Themen in Themen der militärischen Sicherheit zum dominanten Diskurs geworden sind, ohne dass das überhaupt hinterfragt wird. Als Europäerin kann ich das bis zu einem gewissen Grad verstehen. Wir brauchen unsere eigene Sicherheitspolitik, weil an unseren Grenzen eine Bedrohung entstehen könnte und unser wichtigster Verbündeter durchaus verschwinden könnte. Doch die Taktik, alles auf Militärausgaben zu setzen, und die damit verbundene Mentalität sind alarmierend. Denn das bedeutet eine Kürzung von Sozialleistungen, und vielleicht eine Einführung der Wehrpflicht für unsere jungen Männer und Frauen. Was bedeutet das für die gesellschaftliche Stabilität, Fragen des Klimawandels und die menschliche Sicherheit?
Zweitens hat mich auch beunruhigt, dass die Redner:innen in der abschließenden Sitzung zum Thema „60 Jahre in die Zukunft“ auf entscheidende Momente der Vergangenheit zurückblickten, darunter den Völkerbund und die Gründung der UNO im Jahr 1945. Das Ende des Kalten Krieges wurde jedoch übersprungen. Das aber war der Moment, in dem nicht nur die westliche Vorstellung von neoliberaler Wirtschaft, politischer Liberalisierung und Demokratie vermeintlich den Sieg davontrug. Gleichzeitig öffneten sich auch Handlungsspielräume für alle Arten von zivilgesellschaftlichem und bürgerschaftlichem Aktivismus in den Bereichen Klima, Frieden, Armut, Gesundheit, Frauenrechte, LGBTQ und andere Themen.
Nach dem 11. September 2001 liefen die Dinge in die falsche Richtung. Wir landeten in der Ära des Krieges gegen den Terror. Aber die junge, zivilgesellschaftlich orientierte Generation war immer noch aktiv und präsent. Daher war ich beunruhigt, dass der gesamte zivilgesellschaftliche Sektor, das bürgerschaftliche Engagement in den westlichen Ländern bis hin zu den lokalen Gemeinschaften in Liberia und im Jemen, auf der MSC völlig unsichtbar und abwesend war. Es kam mir in München so vor, als ob die Zeit zwischen dem Ende des Kalten Krieges und den Anschlägen vom 11. September 2001 nur ein kurzes Kapitel zwischen zwei sicherheitsrelevanten Epochen war und dieses Buch nun geschlossen ist. Ich bin beunruhigt über die Kluft zwischen den Vertreter:innen von sicherheitspolitischen Ansätzen auf der einen und friedenspolitischen Ansätzen auf der anderen Seite. Mich besorgt auch der fehlende Diskurs über menschliche Sicherheit.
HAH: Vielleicht liegt es daran, dass eine Beschäftigung mit diesen „weicheren“ Themen wie der menschlichen Sicherheit immer dann angenehmer ist, wenn man die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung hat – zu Unrecht, wie ich meine. Eine alternative Erklärung könnte sein, dass die Fragmentierung der Welt zunimmt. Ebenso wächst der grundlegende Unterschied zwischen der Globalen Mehrheit und der transatlantischen Gemeinschaft, und wie diese auf Herausforderungen blicken. Das gilt auch für die Kluft zwischen den Eliten – in allen Ländern, ob reich oder arm – und der Mehrheitsgesellschaft bei Themen wie Klimawandel, Ungleichheit und globaler Ordnung.
SNA: Ich sehe das aus der Sicht der Menschen, mit denen ich arbeite: der Frauen, die durch die Kraft der Umstände, durch ihren außergewöhnlichen Mut und ihre Persönlichkeit die Verantwortung für den Schutz ihrer Communities übernehmen, zum Beispiel wenn ein Krieg ausbricht, sei es im Jemen oder in Kamerun. Diese Frauen sind nicht die Elite. Sie sind scheinbar gewöhnliche Menschen, die sich unter außergewöhnlichen Umständen der Herausforderung stellen, die Unsicherheit und Gewalt in ihren Communities anzugehen. Die Frauen, mit denen ich arbeite, sind wie Superheldinnen in Alltagskleidung. Einige waren Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen. Sie werden von dem Instinkt angetrieben, sich um die Menschen, dort wo sie leben, zu kümmern. Und finden sich in einer Situation wieder, in der sie mit bewaffneten Gruppen über die Freilassung von Gefangenen verhandeln, wie es die Vereinigung der Mütter der Entführten im Jemen tut. Ich glaube nicht, dass es um Geld geht, es geht vielmehr um Prioritäten. Im Jahr 2013 kostete eine nach Syrien abgefeuerte Rakete 68 Millionen Dollar. Stell dir vor, wir hätten ein paar dieser Raketen nicht eingesetzt und dieses Geld stattdessen für Gesundheit, Bildung und Friedensförderung verwendet.
Und dann denk an die Atomwaffen: Sie sind nur dann nützlich, wenn sie völlig unnütz bleiben. Das Vereinigte Königreich gibt zehn Milliarden Pfund für 40 neue Atomsprengköpfe aus. Aber stell dir vor, es wären nur 30 oder 35 neue Sprengköpfe, und die Regierung würde das eingesparte Geld für Entwicklung und Friedenskonsolidierung im In- und Ausland verwenden. Was für einen außerordentlichen Nutzen könnte das stiften.
Auch die Frage nach der Fragmentierung der globalen Gesellschaft gibt Anlass zur Sorge. Ich glaube, die westlichen Staats- und Regierungschef:innen leugnen die Tatsache, dass die Globale Mehrheit jetzt Teil ihrer eigenen Bevölkerung ist. Die Menschen der Globalen Mehrheit leben nicht mehr „irgendwo anders“. Gaza ist das klassische Beispiel dafür, wie sich Ereignisse im Ausland auf unsere Institutionen auswirken. In den USA und anderswo zerstört die Haltung, die unsere politischen Führungen eingenommen haben, die Grundlagen unserer Demokratien und die Grundprinzipien der Redefreiheit.
Unterschiedliche Sichtweisen auf Russland führen zu Stillstand
HAH: Ein weiteres Beispiel für die Fragmentierung und die sehr unterschiedlichen Sichtweisen ist die Art und Weise, wie wir auf Russland schauen. Das führt mich zu „Schockstarre“. Die transatlantische Gemeinschaft und die Globale Mehrheit betrachten Russland auf völlig unterschiedliche Weise. Die Ermordung von Alexej Nawalny und die mutige Rede seiner erstaunlich starken Witwe Julia Nawalnaja auf der Konferenz haben uns schockiert. Eine Teilnehmerin sagte, der Unterschied zwischen dem Putinismus einerseits und dem Stalinismus, Maoismus und Nazismus andererseits bestehe darin, dass Putin keine utopische Zukunftsvision habe. Putins Ideologie ist ein ständiger Kampf gegen den Westen und er weiß nicht, wohin das führen wird. Dieses frustrierende Nichtverstehen, die Unveränderlichkeit seines Plans und unsere Angst, uns wegen einer möglichen Rückkehr von Donald Trump nicht schützen zu können, schockiert alle in Europa und führt zu der Gefahr einer Schockstarre.
Wenn ich mit Menschen der Globalen Mehrheit spreche, sehen sie den Krieg Russlands gegen die Ukraineals einen regionalen Konflikt, der für uns aufgrund der geografischen Nähe von Bedeutung ist, für sie aber nicht. Ich bin da ganz anderer Meinung. Es geht um die nationale Souveränität. Wenn wir zulassen, dass ein Land ein anderes mit Waffengewalt überfällt, schaffen wir einen Präzedenzfall. Länder wie Singapur haben das übrigens verstanden und stellen die Verbindung zu ihrer Region her. Es ist das einzige Land im Verband südostasiatischer Staaten (ASEAN), das Sanktionen gegen Russland unterstützt.
SNA: Ja. Und ich glaube, der Westen verleugnet die andere Seite dieser Diskussion. Für den Westen beginnt die Geschichte des Ukraine-Kriegs mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und dem Bruch aller Regeln. Aber aus der Perspektive des Nahen Ostens oder Afrikas begann der Regelbruch mit der US-Invasion in den Irak im Jahr 2003. Interessanterweise leugnen amerikanische Politiker:innen in den USA, die Regeln gebrochen zu haben, weil sie den UN-Sicherheitsrat nicht für relevant halten. Sie sagen, der US-Kongress habe für den Krieg gestimmt, also sei er legal.
Nach dem Irak wurde 2012 auch die Flugverbotszone der NATO in Libyen in Frage gestellt, weil sie laut Russland nicht als Mandat für einen Regimewechsel gedacht war. Hätte Muammar Ghaddafi (der De-facto-Führer von Libyen 1969-2012) die Angriffe der NATO überlebt, wäre die NATO der Verlierer gewesen. 2015 war das Votum des UN-Sicherheitsrats, Saudi-Arabiens Krieg gegen Jemen zuzulassen, ein weiterer entscheidender Moment. Der gesamte UN-Sicherheitsrat stimmte dafür, dass Saudi-Arabien, ein UN-Mitgliedstaat, den Jemen, einen anderen UN-Mitgliedstaat, bombardieren durfte. Der UN-Sicherheitsrat hat vor allem eine Aufgabe: Er soll verhindern, dass sich die UN-Mitgliedstaaten gegenseitig angreifen. Er hat also versagt.
Auf Normverletzungen reagieren, Institutionen weiterentwickeln
HAH: Der Vorwurf der Heuchelei gegenüber dem Westen ist berechtigt. Der Westen hat seine eigenen Regeln viele Male gebrochen. Aber was sind die Konsequenzen? Manchmal fürchte ich, dass Menschen außerhalb des Westens darauf hinzudeuten versuchen, dass diese Regelbrüche zu einer vollständigen Abschaffung der regelbasierten internationalen Ordnung führen sollten. Wenn man das Kind mit dem Bade ausschüttet, lehrt uns die Geschichte, dass nur die Starken gewinnen. Multilaterale Zusammenarbeit und internationale Institutionen, gut konzipiert, stärken die kleinen Staaten und nicht die großen. In der Zwischenzeit muss auf die Verletzung von Normen und Idealen reagiert werden. Dafür haben wir freie Medien, Wissenschaftsfreiheit, Wahlen und Rechtsstaatlichkeit, die zur Kontrolle von Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen dienen können. Wir müssen Konsequenzen aus diesen Fehlern ziehen und es in Zukunft besser machen.
SNA: Ich habe das Gefühl, dass uns die Bereitschaft fehlt, die Systeme weiterzuentwickeln. Zu dieser Entwicklung gehört auch, seine eigenen Fehler einzugestehen. Man muss in der Lage sein, zu sagen: „Tut uns leid, wir haben Mist gebaut“. Wir haben es in Abu Ghraib vermasselt. Wir haben es im Jemen vermasselt. Wir müssen unsere Institutionen weiterentwickeln. Ich befürchte, dass eine Revolution oder die Zerstörung unserer bestehenden Institutionen auch bedeutet, dass wir die Programme zur menschlichen Sicherheit, zu den Menschenrechten und so weiter, die „Wir, die Völker der UNO“ formuliert haben, über Bord werfen. Das sind doch gute Dinge, nicht wahr?
Die Kräfte des Autoritarismus und des Konservatismus nutzen dies als Gelegenheit, um alles, was wir als progressive Kräfte erreicht haben, auszulöschen. Aber wir müssen an unseren Werten und unserer Freiheit, die in den Gesellschaften verwurzelt sind, festhalten. Das Argument, es handele sich dabei um Top-Down-Ansätze, ist ein völliger Trugschluss. Viele Aspekte des Multilateralismus funktionieren, doch andere Aspekte müssen korrigiert werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass Pessimismus und Nostalgie unser Denken über die Zukunft dominieren. Dieser Pessimismus ist ein Privileg der Privilegierten.
Zusammenarbeit und die zentrale Rolle der Friedensstiftung
HAH: Ich stimme deiner Schlussfolgerung voll und ganz zu. Doch ich denke auch, dass wir dies gemeinsam mit denjenigen tun müssen, die an der Macht sind. Sie anzuschreien, wird nicht funktionieren. Also müssen wir die Mächtigen von den Vorteilen der progressiven Agenda überzeugen, indem wir den Stimmen Gehör verschaffen, die die Mächtigen derzeit nicht hören.
SNA: Und damit sind wir wieder in München bei der Sicherheitskonferenz gelandet. Ein Forum wie die MSC ist eine perfekte Gelegenheit, um der Elite einen Dialog zu ermöglichen und ihr zu zeigen, dass Menschen wie wir, die in der Friedensförderung in der Zivilgesellschaft auf globaler oder lokaler Ebene arbeiten, sich konstruktiv, respektvoll und kreativ mit denselben Themen und der Zukunft auseinandersetzen. Wir mögen in Bezug auf die Ansätze unterschiedlicher Meinung sein, aber wir sind uns nicht unbedingt feindlich gesinnt. Wir verstehen die Rolle und die Notwendigkeit eines Sicherheitssektors. Wir diskutieren darüber, was wir von unseren Armeen und unserer Polizei brauchen und wollen. Ironischerweise sehen wir, wie oft der Sicherheitssektor von politischen Kräften instrumentalisiert wird. Schließlich sind es oft junge Soldat:innen, die ihr Leben für zweideutige politische Ziele riskieren. Wenn wir uns mit ihnen zusammensetzen, finden wir eigentlich viele Gemeinsamkeiten mit ihnen. Aber diese Chance haben wir nicht oft. Der MSC könnte ein großartiger Ort für diese anderen Formen des Dialogs sein.
HAH: Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor vielen Jahren mit einem US-amerikanischen General hatte. Er sagte, wenn man jemanden suche, der Krieg vermeiden wolle, solle man sich jemanden in Uniform suchen. Denn er ist derjenige, der den Eltern der Soldat:innen unter seinem Kommando sagen muss, dass ihre Kinder getötet wurden. Niemand will das tun.
SNA: Ich glaube, wir stellen fest, dass sich lokale Friedensstifter:innen oft engagieren, aber die Friedensarbeit als Tätigkeitsfeld ist noch wenig bekannt. Es sind die Friedensstifter:innen und, wie du sagst, die Soldat:innen, die an der Front stehen. Sie kennen die Risiken viel besser als Politiker:innen oder Diplomat:innen – und doch dominieren letztere.
Henry Alt-Haaker leitet den Bereich Strategische Partnerschaften und Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung.
Sanam Naraghi Anderlini, MBE, ist die Gründerin und Geschäftsführerin des International Civil Society Action Network (ICAN) und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Über die Münchner Sicherheitskonferenz
Die Münchner Sicherheitskonferenz ist ein jährliches internationales Sicherheitsforum. In diesem Jahr feierte sie ihr 60-jähriges Bestehen. Die Konferenz ist eine Plattform für diplomatische Initiativen, die darauf abzielen, die drängendsten Sicherheitsrisiken der Welt zu bewältigen. Das Hauptziel der MSC ist es, Vertrauen zu schaffen und friedliche Konfliktlösungen in einer sich ständig verändernden internationalen Landschaft zu fördern. Die Konferenz findet im Hotel Bayerischer Hof in München statt und bietet zahlreiche Panels, Side-Events und bilaterale Gespräche. In diesem Jahr nahmen mehr als 450 hochrangige Entscheidungsträger:innen und Führungskräfte an der MSC teil, darunter Staatschef:innen, Minister:innen, Leiter:innen internationaler Organisationen und NGOs sowie wichtige Vertreter:innen aus Wirtschaft, Medien, Forschung und Zivilgesellschaft.
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