Kann Deutschland bei der Wiederbelebung der UN eine Vorreiterrolle übernehmen?
Der kürzlich veröffentlichte Global Governance Survey beschreibt die Fähigkeit und das Engagement einzelner Staaten in Bezug auf die Verwaltung öffentlicher Güter, sowie die Bewältigung globaler Herausforderungen durch multilaterale Institutionen. Im Vergleich zeigt sich, wie gut Deutschland sich in einer Führungsrolle positioniert hat.
Von Henry Alt-Haaker und Brian Finlay
Die Deutschen sind multilateral gestimmt, und eine Mehrheit (52%) sieht sich als Weltbürger*innen. Im Vergleich zu zwölf anderen einflussreichen Ländern (G7 und BRICS), die befragt wurden, schnitt Deutschland bei der ersten Global-Governance-Umfrage (Global Governance Survey [GGS]) zudem am besten ab (66%). Große Mehrheiten befürworten multilaterale Maßnahmen zur Bewältigung von Sicherheitsherausforderungen (75%), zum Klimawandel (71%), zur Bekämpfung von Pandemien (61 %) und zum Schutz der Menschenrechte (64%).
Obwohl sich in den letzten Wochen alle Augen auf den in New York stattfindenden Gipfel zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs), richteten, dürfte der Zukunftsgipfel (“Summit of the Future”) im kommenden Jahr weitaus folgenreicher sein. Während auf ersterem Gipfel eine Bilanz der siebzehn SDGs seit ihrer Verabschiedung im Jahr 2015 gezogen wird, hat der Zukunftsgipfel im September 2024 den Anspruch, internationale Organisationen grundsätzlicher zu überdenken, zu modernisieren und besser zu finanzieren. Ziel ist es, dass alle Länder ihre dringendsten Ziele in den Bereichen Entwicklung, Umwelt, Menschenrechte und Sicherheit erreichen können. Insbesondere angesichts der starken Unterstützung der deutschen Öffentlichkeit für Reformen zur Stärkung des multilateralen Systems kann Deutschland eine wichtige Rolle in diesem UN-Revitalisierungsprogramm spielen; z.B. für einen repräsentativeren Sicherheitsrat und die Ermächtigung des Internationalen Gerichtshofs, Entschädigungen für Klimaschäden einzufordern,.
Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung im Land hat Deutschland eine starke Erfolgsbilanz als multilateraler Führungsnation vorzuweisen. Besonders in der Integration von Flüchtlingen und internationalen Klimaschutzmaßnahmen. Im April 2019 hat Berlin die Allianz für Multilateralismus mitinitiiert, in der sich mehr als 70 Länder, internationale Organisationen und Vertreter der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen haben, um mehr Vertrauen und Sicherheit im Cyberspace zu fördern, die Gleichstellung der Geschlechter in den Bildungssystemen zu verbessern und das humanitäre Völkerrecht zu stärken. Die deutsche Botschafterin in New York, Antje Leendertse, hat gemeinsam mit ihrem namibischen Amtskollegen, Neville Gertze, die Vorbereitungen für den Zukunftsgipfel 2024 geleitet. Am 1. September 2023 schlossen beide die Verhandlungen über einen ehrgeizigen Fahrplan für die kommenden zwölf Monate erfolgreich ab, mit dem längst überfällige, tiefgreifende Reformen des UN-Modells erreicht werden sollen.
Wie der neue Global Governance Index (GGI) zeigt, hat Deutschland seine globale Führungsrolle mit gutem Beispiel vorangetrieben und sich damit positioniert, um eine breit angelegte Koalition aus staatlichen und nichtstaatlichen Gruppen aufzubauen, die das Potenzial des Zukunftsgipfels voll ausschöpfen kann. Bei der Erstellung des Index übertraf Deutschland alle G7- und BRICS-Länder in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte und lag bei der Finanzierung wichtiger multilateraler Initiativen wie der UN-Friedenssicherung, der Impfstoffallianz GAVI und dem UN-Entwicklungsprogramm stets in der Spitzengruppe. Deutschland erreichte außerdem die höchste Punktzahl in Kategorien wie der Ökosystem-Vitalität und gehörte zu den leistungsstärksten Ländern bei der Ratifizierung von Abrüstungsverträgen sowie von Abkommen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und des Umweltschutzes.
Der GGI stellt den allerersten Versuch dar, die Fähigkeit und das Engagement einzelner Staaten in Bezug auf die Verwaltung öffentlicher Güter, sowie die Bewältigung globaler Herausforderungen durch multilaterale Institutionen zu erfassen und zu vergleichen. Hier werden die Staaten der G7 und BRICS- anhand von Indikatoren in verschiedenen Themenbereichen bewertet und verglichen; darunter Frieden und Sicherheit, Entwicklung, Menschenrechte und Umweltmaßnahmen. Die erste Erhebung sah Deutschland an vorderster Stelle unter den zwölf ausgewählten Ländern mit einer erzielten Punktzahl von 6,53 von 10 Punkten. Den niedrigsten Wert erreichte Russland mit 4,29.
Gesamtpunktzahl des Global Governance Index (in fünf Bereichen)
Aber sind sich die Deutschen überhaupt der globalen Führungsrolle ihres Landes bewusst?
Es ist bemerkenswert, dass die für die Global Governance Umfrage befragten deutschen Bürger*innen angesichts der Führung im Ranking Deutschlands trotzdem ein niedrigeres Maß an Vertrauen in die internationale Führungsrolle ihres Landes haben als die befragten indischen, chinesischen und russischen Bürger*innen. Und dass, obwohl Indien, China und Russland im Ranking weitaus schlechter abschneiden. Obwohl die meisten Deutschen multilateral denken, sagt eine Mehrheit (53%), dass ihr Land nicht genug getan habe, um eine effektive globale Führung und Zusammenarbeit zu etablieren, während nur 35% mit Deutschlands Leistung zufrieden sind.
Bürger*innen der zwölf G7- und BRICS-Staaten wurden zu denselben fünf Bereichen befragt. Auf die Frage, ob sie der Meinung seien, dass sich die Welt „in die richtige [oder falsche] Richtung“ bewege, antworteten rund zwei Drittel negativ und das obwohl chinesische und indische Befragte mit großer Mehrheit eine positive Antwort gaben.
Diagnose der Welt: Der Global Governance Survey
Der aussagekräftige Vergleich zwischen Ländern und die verbesserten Indikatoren und Gewichtungen von GGS und GGI stimulieren einen gesunden Wettbewerb, der Win-Win-Ergebnisse fördern und dazu beitragen kann, das globale kollektive Handeln insgesamt zu verbessern. Diese beiden neuen Instrumente zielen außerdem darauf ab, eine größere globale Solidarität zu fördern, indem sie der Meinung der Bürger*innen über die Leistungsfähigkeit der multilateralen Institutionen und ihres Landes bei der Bewältigung elementarer Bedrohungen und Herausforderungen Bedeutung beimessen.
Je klarer wir wissen, wo wir stehen, desto besser wissen wir, wohin wir gehen müssen. Aufbauend auf Deutschlands vorbildlichem „Weltbürgertum“, das sich in Deutschlands bemerkenswerten GGI-Ergebnissen widerspiegelt, ist die Bundesrepublik in der Lage, eine fortschrittliche Koalition aus Staaten, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Gruppen zu fördern, die sich dafür einsetzt, den Zukunftsgipfel in New York im nächsten Jahr optimal zu nutzen. Dabei wird Deutschland hoffentlich nicht nur als positives Vorbild dienen, sondern sich auch in kritischen Momenten für einen globalen Konsens über ehrgeizige Ziele einsetzen müssen. Es wird sich auch gegen diejenigen Akteure wehren müssen, die versuchen, nötige Verpflichtungen abzumildern. Dies wird hoffentlich auch das Vertrauen der deutschen Öffentlichkeit in die internationale Führungsrolle ihres eigenen Landes stärken.
Henry Alt-Haaker leitet den Bereich Strategische Partnerschaften und Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung.
Brian Finlay ist Präsident und Chief Executive Officer des Stimson Center, eines führenden Think Tanks für Außenpolitik, die sich durch angewandte Forschung und globales Engagement für internationale Sicherheit und gemeinsamen Wohlstand einsetzt.
Quarterly Perspectives
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