Konturen einer Kontroverse: Mittelmächte und die internationale Ordnung

März 2024

Aufstrebende Mittelmächte spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der zukünftigen internationalen Ordnung. und konkurrieren mit den dominierenden westlichen Mächten.

Von Senem Aydın-Düzgit

Middle Powers Modi Putin Senem Aydin-Düzgit
IMAGO / Kyodo News

In seinem berühmten Buch „Gefängnishefte“, das vor fast einem Jahrhundert verfasst wurde, stellt Antonio Gramsci scharfsinnig fest: „Die Krise besteht gerade darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann. In diesem Interregnum treten die verschiedensten krisenhaften Krankheitssymptome auf.“ [1] Das Alte liegt im Sterben, weil die Nachkriegsordnung mit ihren multilateralen Institutionen und Normen nicht mehr effektiv funktioniert; die USA als hegemonialer Akteur dieser Ordnung können die Spielregeln nicht mehr im Alleingang gestalten und festlegen. Darüber hinaus ist die Gruppe der westlichen Staaten zwar immer noch mächtig und dominant in der globalen politischen Ökonomie, aber sie ist in den großen Debatten über die internationale Ordnung nicht mehr der wichtigste Bezugspunkt für den globalen Süden. Daher gewinnt die Idee, dass sich die Welt in Richtung Multipolarität bewegt, sowohl bei Wissenschaftlern als auch bei politischen Entscheidungsträgern an Zugkraft.

Die zunehmende Bedeutung der Multipolarität hat eine Debatte über die Rolle der Mittelmächte in der internationalen Ordnung ausgelöst. Mittelmächte werden  allgemein als Länder definiert, die „in Bezug auf ihre Macht, ihre Kapazitäten und ihren Einfluss weder groß noch klein sind und die Fähigkeit besitzen, Zusammenhalt wie auch Hindernisse für die globale Ordnung und Governance zu schaffen.“[2] Doch materielle Fähigkeit allein ist kein hinreichendes Merkmal für eine Positionierung als Mittelmacht.

Der Glaube an die Dominanz des Westens schwindet

Es gibt darüber hinaus eine Verhaltenskomponente, mit der diese Länder zur Stabilität der internationalen Ordnung beitragen: Sie übernehmen eine systemunterstützende Rolle durch multilaterale Zusammenarbeit, die Stärkung globaler Institutionen, die Ausübung von Soft Power und ihre Aktivitäten in der Nischendiplomatie. Genau dies ist der Kernpunkt der aktuellen Diskussionen über die Rolle der Mittelmächte in der entstehenden multipolaren Weltordnung. Anders gefragt: Tragen Mittelmächte und insbesondere diejenigen, die als „aufstrebende“ oder „nicht-traditionelle“ Mittelmächte bezeichnet werden und die meist aus dem Globalen Süden stammen, zur so genannten liberalen internationalen Ordnung bei oder stellen sie diese in Frage? Und wenn ja, warum tun sie das?

Aus westlicher Sicht ist die Stimmung pessimistisch und konzentriert sich weitgehend auf Streitpunkte. Wie eine kürzlich durchgeführte Umfrage des European Council on Foreign Relations zeigt, ist die Soft Power des Westens immer noch sehr stark, weil ein Großteil der Menschen im Globalen Süden und darüber hinaus immer noch westliche Länder als bevorzugtes Reiseziel oder als Wohnort wählt. Dies ist jedoch nicht mehr mit dem Glauben an die Dominanz des Westens verbunden. Viele argumentieren, dass die aufstrebenden Mittelmächte mit dem Aufkommen der Multipolarität die internationale Ordnung zunehmend in Frage stellen. Die gemischten Reaktionen im gesamten Globalen Süden auf die russische Invasion in der Ukraine haben viele im Westen darauf aufmerksam gemacht, dass die Welt geteilter Meinung darüber ist, was europäische Sicherheit ausmacht – und, was noch wichtiger ist, ob diese für sie von Bedeutung ist.

Die Unterstützung für internationale Organisationen lässt nach

Nicht nur die unterschiedlich starke Unterstützung der Mittelmächte für die ukrainischen Kriegsanstrengungen erfordert eine eingehende Untersuchung, wie diese Länder die internationale Ordnung wahrnehmen, sondern auch ihre jüngsten Reaktionen auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas, die die vorherrschenden westlichen Positionen kritisieren. Zu untersuchen ist die Art und Weise, wie diese Mächte die internationale Ordnung wahrnehmen, die Gründe für ihre Unzufriedenheit, der Methoden ihrer Anfechtung und ihrer allgemeinen Auswirkungen auf Europa und den Westen. Es ist deutlich geworden, dass Mittelmächte, die im eigenen Land Rückschritte in Sachen Demokratie erleben, auch eine konfrontative Außenpolitik betreiben und Politik eher als reine Transaktion betrachten statt auf regelbasierte Vereinbarungen zu setzen und ihre Unterstützung für internationale Organisationen schwächen[3]. Für viele dieser Länder bietet die Multipolarität jedoch neue Möglichkeiten, sich zwischen den Weltmächten zu positionieren, eine autonomere Außenpolitik zu verfolgen und in ihren Regionen Einfluss auszuüben.

Wie auf einer kürzlich von der Robert Bosch Academy veranstalteten Debatte über Mittelmächte und die internationale Ordnung ausführlich diskutiert wurde, ziehen es diese Mächte vor, sich ihre Optionen offen zu halten, anstatt sich auf langfristige Bündnisse einzulassen. Im Falle Afrikas beispielsweise ist das Narrativ, sich von der Peripherie in die Mitte der globalen Ordnung zu bewegen, sehr stark und mit der Forderung nach einer Reform der Bretton-Woods-Institutionen verbunden. Durch die Reform soll der Kontinent angemessener in diesen Institutionen repräsentiert werden. Die Durchsetzung des Völkerrechts als eine der wichtigsten globalen Normen wird nicht als Vorrecht des Westens angesehen, sondern als etwas, bei dem Afrika eine Vorreiterrolle übernehmen kann, wie die jüngste Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gezeigt hat. Länder wie die Türkei setzen sich seit langem für eine Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ein, die die Machtverhältnisse in der heutigen Welt besser widerspiegeln würde.

Ein Streben nach Gerechtigkeit

Wie beim IGH-Fall und den Forderungen nach einer UN-Reform ist auch in der Außenpolitik dieser Mächte gegenüber dem Westen häufig ein Streben nach Gerechtigkeit zu beobachten. Dieses Streben kann verschiedene Formen annehmen und reicht von Ansprüchen auf die angemessene Anerkennung, Repräsentation und Umverteilung als Wiedergutmachung bis hin zur Anerkennung der eigenen Geschichte und der Forderung nach der Aufhebung epistemischer Ungerechtigkeit. Entsprechende Streitfragen und Forderungen werden sowohl im Diskurs als auch durch außenpolitische Entscheidungen ausgetragen[4]. Diese rechtlichen Forderungen nach Gerechtigkeit sind sehr oft mit dem Vorwurf der Heuchelei gegenüber den westlichen Mächten verbunden. Er stützt sich darauf, wie der Westen in den eigenen Ländern agiert und wie er sich im Gegensatz dazu mit dem Rest der Welt auseinandersetzt. Als solche zielen die Rufe nach Gerechtigkeit auf die Legitimität der bestehenden Ordnung ab und greifen sie dort an, wo sie nicht so handeln, wie sie es von anderen fordern.

Nirgendwo ist dieser Vorwurf der Heuchelei deutlicher als in der Kluft zwischen dem Diskurs der westlichen Länder über politische Werte und der Verletzung dieser Werte in ihren Außenbeziehungen. In jüngster Zeit spiegelt sich dieser Vorwurf in den Debatten über Migration wider, wo die Auslagerung der Migrationspolitik durch die EU-Mitgliedstaaten und das Vereinigte Königreich weltweit nicht unbemerkt bleibt. Die dominante Reaktion des Westens auf den jüngsten Krieg zwischen Israel und Gaza wird in vielen Teilen der Welt mit seiner Haltung im Russland-Ukraine-Krieg verglichen. Die Diskrepanz zwischen der Rhetorik der EU als selbsternannte Vorhut der liberalen internationalen Ordnung und ihrer tatsächlichen Praxis macht sie anfällig für diskursive Anfechtungen durch Dritte, die versuchen, die Legitimität der EU als internationaler Akteur zu schwächen, um ihre eigenen Interessen besser verfolgen zu können.

Doch in den meisten Fällen ist die Anfechtung der internationalen Ordnung durch die neuen Mittelmächte eng mit deren Innenpolitik verbunden. Im Falle der Türkei beispielsweise wird die Anfechtung, wenn sie stattfindet, häufig durch die Dynamik der Sicherung des eigenen Regimes untermauert , das heißt, es besteht eine Beziehung zwischen den Überlebenschancen der Regierung und den konstitutiven Säulen des derzeitigen Regierungssystems.[5] Dies legt nahe, dass das Verstehen der grundlegenden Ursachen der Streitfragen ein tieferes Verständnis der individuellen Regimedynamik dieser Staaten erfordert, insbesondere derjenigen, die demokratische Rückschritte erleben, wie Mexiko, Südafrika, Indonesien und Indien.

Gegenbewegung zu westlich geprägten Institutionen

Während der Westen noch dabei ist, das Warum und das Wie der Auseinandersetzung mit diesen diese Ländern zu verarbeiten, stehen antiwestliche globale Mächte bereit, um die Kritik und Forderungen dieser Akteure zu nutzen. Für Russland ist es die perfekte Bühne für kurzfristige Allianzen, nicht nur, um die vom Westen geführten Institutionen zu schwächen, sondern auch, um westliche Sanktionen zu umgehen und seine Kriegsindustrie zu finanzieren. Die Tatsache, dass Russland die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) und die BRICS als Instrumente zur Bekämpfung westlich geführter Institutionen betrachtet, findet bei  den Mittelmächten Anklang. Auf diese Weise versucht Russland auch, den Fokus von seinem eigenen Expansionismus auf seine Rolle als Beschützer vor westlicher Dominanz zu verlagern und nutzt normenbasierte Argumente, um das westliche Branding Russlands als Normverletzer zu unterlaufen.

Russland instrumentalisiert auch das antikoloniale Narrativ, um sich die koloniale Vergangenheit der Länder des Globalen Südens zunutze zu machen. China ist eine weitere Großmacht, die die Lücke füllt, insbesondere in Asien, wenn es darum geht, Geschäfte ohne politische Bedingungen zu machen. China versorgt aufstrebende Mächte mit Ressourcen wie Kohle, die der Westen nur ungern liefert. Ein Faktor, der den Handlungsspielraum dieser Akteure erweitert, ist die Spaltung innerhalb des Westens, insbesondere zwischen der EU und den USA.

In diesem Sinne werden die Präsidentschaftswahlen in den USA im November 2024 ein entscheidender Moment dafür sein, ob sich diese Spaltung weiter vergrößert; unter Umständen sogar so weit, dass Europa endlich eine konkrete langfristige Strategie für den Umgang mit den aufstrebenden Mittelmächten entwickeln muss, während es gleichzeitig mit den Großmächten und anderen Konkurrenten zu tun hat.

 

[1] Gramsci, Antonio, Selections from the Prison Notebooks, herausgegeben und übersetzt von Quintin Hoare und Geoffrey Nowell Smith (London: Lawrence & Wishart, 1971), S. 276.
[2]Eduard Jordaan, „The concept of a middle power in international relations: distinguishing between emerging
and traditional middle powers“, Politikon: South African Journal of Political Studies 30: 1, 2003, S. 165
[3] Umut Aydın, „Emerging middle powers and the liberal international order“, International Affairs 97: 5, 2021, S. 1377–94.
[4]Christian Reus-Smit and Ayşe Zarakol, „Polymorphic justice and the crisis of international order”, International
Affairs 99: 1, 2023, S. 1–22.
[5] Senem Aydın-Düzgit, “Authoritarian Middle Powers and the Liberal Order: Turkey’s Contestation of the EU,” International Affairs 99:6 (2023) 2319–2337.

Senem Aydin-Düzgit rund grau

Senem Aydın-Düzgit ist leitende Wissenschaftlerin und Koordinatorin für Forschung und akademische Angelegenheiten am Istanbul Policy Center sowie Professorin für Internationale Beziehungen an der Sabancı-Universität. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die europäische und türkische Außenpolitik.  Sie ist Richard von Weizsäcker Fellow.

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