Polarisiert euch!

März 2021

Die gegenwärtige Diskussion über die Krise der liberalen Demokratie konzentriert sich auf das Phänomen der politischen Polarisierung. In Europa sind es aber eher die wachsenden Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien, die zu einem Verfall der Demokratie und zum Aufkommen des Populismus geführt haben. In der europäischen Politik muss kontroverser diskutiert werden, besonders über Wirtschaftsthemen.

Von Hans Kundnani

Polarization Polarisation Kundnani
Joe Brusky / Flickr

Seit Jahren wird über die Krise der liberalen Demokratie heiß diskutiert. Doch obwohl breite Einigkeit darüber herrscht, dass solch eine Krise existiert, gibt es nur wenig Übereinstimmung darüber, wie diese zu verstehen ist. Die Debatte konzentriert sich stark auf den Aufstieg des „Populismus“ und der „Polarisierung“ als eine Bedrohung für die Demokratie. Gleichzeitig gibt es einen Zwist, ob diese beiden Phänomene Ursachen der Krise sind oder Symptome einer Krise, deren tatsächliche Ursachen tiefer liegen. Jedenfalls wurde und wird unser Denken über die Demokratie in Europa stark von den Erfahrungen in den USA geprägt. In Wahrheit jedoch unterscheidet sich die Situation in Europa fundamental von der in den Vereinigten Staaten – in vielen Gesichtspunkten sind es sogar gegensätzliche politische Situationen.

Die Gleichförmigkeit europäischer Parteien verursacht Populismus

Polarisierung ist sicherlich ein Problem in den USA. Seit den 1960er Jahren organisieren sich die Amerikaner mehr und mehr in zwei gegensätzlichen politischen Lagern: Liberale und Konservative. Diese beiden Lager decken sich immer stärker mit den beiden großen politischen US-Parteien – den Demokraten und den Republikanern. Die beiden Parteien stellen jetzt das dar, was Lilliana Mason „mega-identities“ nennt. Eine Politik der „Hyper-Parteilichkeit“ hat politische Kompromisse unmöglich gemacht und auch unabhängige Institutionen wie den Supreme Court gelähmt.

Viele Analysten der Krise der liberalen Demokratie in Europa haben die Vorstellung, dass etwas Ähnliches in Europa passiert – doch das ist nicht der Fall. Tatsächlich ist die Situation in Europa ganz anders, wie Sheri Berman und ich in einem Artikel für das Journal of Democracy aufzeigen. In Europa sind es nicht so sehr die Polarisierung und die Gegensätze zwischen den Parteien, die zu den Problemen im demokratischen System geführt haben, sondern die zunehmende Gleichförmigkeit der Parteien und die abnehmende Parteilichkeit. Die Situation in Europa ist zu der in den USA also genau entgegengesetzt.

Im selben Zeitraum, in dem sich die Politik in den Vereinigten Staaten stärker polarisiert hat, haben die politischen Gegensätze in Europa abgenommen. Parteien links der Mitte und Parteien rechts der Mitte sind einander ideologisch nähergekommen und es ist immer schwieriger geworden, sie voneinander zu unterscheiden. Deutschland bietet ein gutes Beispiel für diese Dynamik: Die Sozialdemokraten haben sich in Wirtschaftsfragen nach rechts bewegt, während sich die Christdemokraten in Fragen von Kultur und Identität nach links bewegt haben. Auf Basis dieses „Konsenses der Mitte“ haben die beiden Parteien in einer großen Koalition über drei der letzten vier Wahlperioden regiert, geführt von Kanzlerin Angela Merkel.

Breite Übereinstimmung führt zu fehlender Repräsentation

Auf den ersten Blick scheint diese breite politische Übereinstimmung unter demokratischen Gesichtspunkten etwas Positives zu sein, vor allem wenn man die dysfunktionale, hyper-parteiische Politik in den USA im Hinterkopf hat. Die Gleichförmigkeit kann aber auch eine Bedrohung für die Demokratie sein – ganz besonders wenn sich die Parteien von den Präferenzen der Wähler entfernen und dadurch eine „Repräsentationslücke“ entsteht. In dieser politischen Umgebung können extremistische Parteien wachsen und gedeihen. Genau das ist in Europa passiert. Diese Parteien, die die Parteien der Mitte als einen Block oder ein Kartell sehen, haben im vergangenen Jahrzehnt einen Aufschwung erlebt. Das hat die Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien gezwungen, noch enger zusammenzurücken, und das wiederum hat das Problem noch verschärft. Davon haben insbesondere rechtsradikale Parteien profitiert.

Wählerwanderungsmuster in Europa veranschaulichen, dass eine Verbundenheit zu den Parteien nicht so stark verwurzelt ist wie in den USA. Im Gegenteil: In Europa sind die Parteiidentitäten schwächer geworden, nicht stärker. Insbesondere haben sich Wähler aus dem Arbeitermilieu von sozialdemokratischen Parteien abgewendet, als diese ihre linken wirtschaftspolitischen Positionen verließen und eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgten. Diese Wähler sind besonders zu rechtsradikalen Parteien wie der Rassemblement National (ehemals Front National) in Frankreich und der Alternative für Deutschland abgewandert. Das entspricht eben nicht der politischen Polarisierung in den USA, sondern ist ein viel fließenderer und dynamischerer Prozess.

Wenn man also die Entwicklungen in Europa genau betrachtet und sie in ihren historischen Kontext einordnet, wird deutlich, dass dieses politische Phänomen eine ganz andere Entstehungsgeschichte hat als in den USA. Tatsächlich ähnelt die im Übermaß von Parteiengegensätzen getriebene Politik in Amerika nicht dem Europa von heute, sondern dem Europa bis in die 1960er Jahre. Diese Ära wurde von sogenannten „Milieuparteien“ bestimmt und wird heute manchmal als Blütezeit der Demokratie in Europa angesehen. Doch um die Dinge noch komplizierter zu machen, gibt es weitere wichtige Unterschiede. Die Polarisierung in dieser Zeit konzentrierte sich vor allem auf ökonomische Themen (auch, wenn Fragen der Kultur und Identität natürlich eine Rolle spielten).

Europa braucht eine stärkere Polarisierung in Wirtschaftsfragen

Das zeigt, dass sogar extreme Polarisierung nicht notwendigerweise die Demokratie bedroht, sondern es insbesondere darauf ankommt, ob die Polarisierung um kulturelle oder ökonomische Themen kreist. Wie Claus Offe gezeigt hat, ist Polarisierung bei Wirtschaftsthemen weniger bedrohlich, weil hier eher Verhandlungen und Kompromisse möglich sind als bei Fragen nach Identität und Kultur. Ob Polarisierung eine Bedrohung für die Demokratie ist, hängt auch davon ab, ob die Wähler die Legitimität anderer Parteien akzeptieren. Die britische Politik in der Ära von Margaret Thatcher in den 1980er Jahren war sehr stark polarisiert, aber die Wahlergebnisse wurden nie so infrage gestellt, wie das heute in den USA der Fall ist.

Die Analyse der Demokratie in Europa nach europäischen Maßstäben (und nicht durch die US-amerikanische Brille gesehen) führt zu zwei Schlussfolgerungen. Die erste befasst sich mit der Polarisierung. Zentristen wollen die Polarisierung weiter abschwächen, doch das würde die Krise der liberalen Demokratien noch verstärken. Es wäre besser, wenn die Mitte-Links-Parteien wieder nach links rückten, besonders bei Wirtschaftsthemen. Gleichzeitig sollten sich die Mitte-Rechts-Parteien wieder nach rechts bewegen. Mit anderen Worten: Wir brauchen mehr Polarisierung. Dadurch würden in der ideologischen Mitte der europäischen Politik wieder echte Alternativen geschaffen. Wenn es echte Alternativen in der Wirtschaftspolitik gäbe, würde das auch die Wichtigkeit von Fragen der kulturellen Identität abschwächen.

Zentrismus ist ebenso ein Krisenfaktor wie Populismus

Die zweite Schlussfolgerung lautet, dass der Zentrismus ebenso ein Teil der Krise der liberalen Demokratien ist wie der „Populismus“. Es ist notwendig zu erkennen, dass es eine weitere Bedrohung für die Demokratie gibt, die quasi aus der entgegengesetzten Richtung kommt. Diese Gefahr ist die „Technokratie“ oder „Post-Demokratie“, auf die der Populismus eine Gegenreaktion darstellt. Die Technokratie ist ein spezielles Problem in Europa, weil die EU die ultimative Form einer technokratischen Regierung ist, die einen euroskeptischen Populismus produziert. Obwohl der Populismus in Europa sehr heterogen ist, wie Philip Manow gezeigt hat, sind alle Populisten Euroskeptiker – wenn auch in unterschiedlicher Weise.

Es ist mit anderen Worten unmöglich, über die Krise der liberalen Demokratie in Europa zu sprechen, ohne über die EU zu sprechen. Viele Zentristen beschreiben die EU in ziemlich simplen Begriffen als eine „Gemeinschaft von Demokratien“, die in Gefahr ist und deshalb verteidigt werden muss. Sie übersehen dabei, dass es immer eine Aufgabe der EU war, die Demokratie durch ein Regelsystem zu zügeln. In diesem Sinne ist die EU – im Gegensatz zu ihren Mitgliedstaaten – eher liberal als demokratisch. Zentristen, die es mit dem Wert der Demokratie in Europa ernst meinen und nicht bloß den Kampf gegen den „Populismus“ gewinnen wollen, müssen sich mit diesen schwierigen Fragen auseinandersetzen.

Hans Kundnani

Hans Kundnani ist Senior Research Fellow im Europe Programme des Chatham House. Chatham House und die Robert Bosch Stiftung arbeiten im Rahmen einer strategischen Partnerschaft zusammen.

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