Das politische Zentrum Europas hat sich nach Osten verlagert
Das Ergebnis der französischen Parlamentswahlen wird Emmanuel Macron das Regieren zwar erschweren, wird aber kaum Auswirkungen auf seine Außen- und Europapolitik haben. Weil die geopolitische Ordnung Europas im Wandel ist, sind Deutschland und Frankreich nicht die einzigen, die die Zukunft des Kontinents gestalten.
Ein Gespräch mit Sylvie Kauffmann.
Henry Alt-Haaker: Die diesjährigen Wahlen in Frankreich sind nicht nur für die deutsch-französischen Beziehungen entscheidend, sondern – angesichts des Krieges in der Ukraine – auch für die Zukunft der Europäischen Union. Wie interpretieren Sie den jüngsten Verlust der absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung durch Präsident Macron? Das Rassemblement National ist überraschend stark und die Wahlbeteiligung war recht niedrig.
Sylvie Kauffmann: Die Ergebnisse sind schockierend, und es gibt zwei wichtige Punkte. Erstens ist es eine persönliche Niederlage für Emmanuel Macron. In den sechs Wochen zwischen den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen hat er sich entschieden, keinen Wahlkampf zu führen. Das überließ das Feld der radikalen Linken und ihrem Anführer Jean-Luc Mélenchon, der ein Bündnis mit den Grünen, der Kommunistischen Partei und den Resten der Sozialistischen Partei aushandelte. In der Zwischenzeit führte die extreme Rechte eine sehr effektive Kampagne unter dem Radar der nationalen Medien. Ich glaube, Macron ging einfach davon aus, dass die Parlamentswahlen eine Art natürliche Fortsetzung der Präsidentschaftswahlen sein würden, wie es 2017 der Fall war. Außerdem hat er nicht strukturell auf seinem Sieg von 2017 aufgebaut. Seine Bewegung La République en Marche war keine politische Partei, und er hat es nicht vermocht, sie in eine solche zu verwandeln.
Der zweite Punkt ist, dass wir eine demokratische Krise durchmachen; und das nicht nur in Frankreich. Wir werden neue Wege finden müssen, um die Bürger:innen einzubinden, denn die Wahlbeteiligung war mit rund 47 Prozent extrem niedrig. Die Hälfte unserer Wählerinnen und Wähler ist also nicht im Parlament repräsentiert.
Warum war die Wahlbeteiligung so niedrig? Sie sagen, die Hälfte der Wählerinnen und Wähler sei nicht im Parlament vertreten. Doch man könnte es auch so ausdrücken: Die Hälfte der Menschen hat sich dafür entschieden, nicht vertreten zu werden.
Ganz genau. Sie sind den Wahllokalen ferngeblieben. Ich denke, das ist eine klare Enttäuschung. Die Wahlbeteiligung war vor allem bei den jungen Wähler:innen niedrig. Sie sagen, das Angebot sei für sie nicht interessant. Die politischen Parteien sind nicht mehr wirklich politische Parteien, sondern eher eine Art leere Hülle. Sie bringen keine neuen Ideen hervor. Wir müssen also etwas neu erfinden.
Glauben Sie also, dass Jean-Luc Mélonchon Recht hat, wenn er sagt, dass der Macronismus vorbei ist?
Ich glaube nicht, dass er vorbei ist, denn Macron ist noch da. Aber Macron muss dem Macronismus einen ideologischen Inhalt geben, ihn politisch definieren. Man kann sich nicht einfach als „die Mitte“ definieren. Er sagt, die Kluft zwischen links und rechts sei überwunden. Nun, jetzt haben wir eine Kluft zwischen der extremen Rechten und der radikalen Linken im Parlament. Das ist nicht gut. Mit dieser Nationalversammlung wird es für Macron sehr schwierig werden, seine Agenda umzusetzen. Er wird für jeden einzelnen Gesetzesentwurf eine Mehrheit aushandeln müssen. Es sei denn, der Premierministerin gelingt es, eine neue Regierung mit Mitgliedern der Opposition zu bilden. Macron könnte das Parlament in einem Jahr auch wieder auflösen.
Was bedeutet das für die Rolle Frankreichs in der EU und den Krieg in der Ukraine? Wird es ein Problem sein, weil es ein entschlossenes französisches Handeln erschwert?
Ich glaube nicht, dass dies ein allzu großes Problem für Macrons Europa- und Außenpolitik darstellen wird. In Frankreich hat der Präsident ziemlich viel Macht in der Außenpolitik. Außerdem ist die öffentliche Meinung in Frankreich ziemlich stark pro-europäisch geprägt. Daher haben EU-feindliche Parteien wie das Rassemblement National von Marine Le Pen ihre Ansichten zu diesen Themen im Wahlkampf nicht geäußert oder abgeschwächt. Und in Mélenchons Bündnis aus vier linken Parteien sind zwei von ihnen, die Sozialistische Partei und die Grünen, gegen die Anti-EU-Agenda der radikalen Linken. Außerdem besteht in Frankreich ein Konsens darüber, dass die Sanktionen gegen die Ukraine aufrechterhalten werden sollten und dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss.
Wie Sie sagen, hat der französische Präsident eine große Exekutivgewalt in der Außen- und Sicherheitspolitik. Im Fall von Macron macht ihn das nicht unbedingt weniger umstritten. Manche kritisieren, dass Macron nach dem Ausscheiden von Angela Merkel aus dem Amt versucht hat, die Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Er sagte auch öffentlich, dass wir Wladimir Putin nicht „demütigen“ sollten, wenn wir eine Lösung wollen, und rühmte sich gewissermaßen damit, „mehr als 100 Stunden mit Putin gesprochen zu haben.“ Vor allem die osteuropäischen Länder stellen Macron in dieser Hinsicht in Frage. Sie fragen sich, was die Ergebnisse dieser Bemühungen sind.
Das ist eine Frage, die Frankreich gemeinsam mit Deutschland beantworten muss – und nicht nur allein mit Deutschland, sondern auch mit anderen europäischen Ländern. Macron muss seine Position zu Putin neu ausrichten, zumindest die Art und Weise, wie er kommuniziert. Es scheint, dass Olaf Scholz und Macron diese Neuausrichtung vorgenommen haben und nun eine gemeinsame Botschaft kommunizieren: Die Unterstützung der Ukraine ist das Hauptziel. Frankreich sagt ganz deutlich: Wir wollen, dass die Ukraine gewinnt. Doch wir werden nicht sagen, „wir wollen, dass Russland besiegt wird.“ Was bedeutet „gewinnen“? Macron hat bei seinem Besuch in Kiew gefordert, dass die Ukraine ihre Grenzen von 2014 zurückerhält, einschließlich der Krim. Das würde also ein Sieg bedeuten. Aber es wäre an den Ukrainern, irgendwann zu entscheiden, ob sie aufhören wollen zu kämpfen.
Ihre erste Reaktion auf meine Frage war, dass Deutschland und Frankreich über die Ukraine-Krise sprechen müssen. Sehr oft gehen Deutsche und Franzosen davon aus, dass der Wandel in Europa mit dem deutsch-französischen Motor beginnt. Im Falle der Russlandpolitik kritisieren viele mittel- und osteuropäische Länder, dass die deutsch-französische Herangehensweise an Russland in der Vergangenheit zu dem aktuellen Desaster geführt hat. Wäre es also nicht besser, wenn die Russland- und Ukraine-Politik der EU nicht von dem deutsch-französischen Paar, sondern von Polen, Litauen oder anderen inspiriert würde?
Ja, dieses deutsch-französische Tandem ist überholt, zumindest was die Ukraine und Russland betrifft. Der Schwerpunkt Europas hat sich nach Osten verlagert. Und die Tatsache, dass Macron, Scholz und der italienische Ministerpräsident Mario Draghi einen Führer aus Mitteleuropa nach Kiew mitbringen mussten, nämlich den rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis, zeigt dies. Das war eine gute Wahl. Es war eine Botschaft, um zu zeigen, dass die großen westeuropäischen Länder in der EU das nicht allein schaffen. Die EU will auch diesen anderen Teil Europas einbeziehen. Sie muss anerkennen, dass Polen durch die Art und Weise, wie es ukrainische Geflüchtete aufgenommen hat, oder durch seine militärische und logistische Unterstützung für die Ukraine eine große Rolle gespielt hat. Die Dynamik bewegt sich nach Osten, und das wird so bleiben. Frankreich und Deutschland werden sich darauf einstellen müssen.
Was halten Sie davon, der Ukraine den Status eines EU-Kandidaten zu geben? Es gibt eine Reihe von Ländern, die bereits seit langem auf den Kandidatenstatus warten. Viele sind frustriert, und ihre Bevölkerungen sind im Laufe der Zeit immer EU-skeptischer geworden. Wir alle wissen, dass die Ukraine aus Gründen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben, weit davon entfernt ist, Mitglied der EU zu werden. Der Krieg hat den Weg in die EU noch schwieriger gemacht. Ist dies also einfach ein Auslöser von Frustration auf ukrainischer Seite?
Ich denke, man ist sich bewusst, dass wir diese Falle vermeiden sollten. Deshalb haben der italienische Politiker Enrico Letta und nach ihm Macron die Idee einer Art GROSSEN Konföderation vorangetrieben. Leider erinnert dies an eine gescheiterte Idee. Im Jahr 1989 propagierte der französische Präsident François Mitterrand die Idee einer europäischen Konföderation, die alle Länder des europäischen Kontinents, einschließlich der Sowjetunion, zusammenführen sollte. Aber einige Länder wurden unruhig, weil die USA nicht dabei waren, die Sowjetunion aber schon. Letztendlich war die Konföderation eine Totgeburt.
Jetzt scheint diese Idee wieder aufzuleben. Macron nennt sie „Europäische Politische Gemeinschaft“. Sie würde die EU-Mitgliedsstaaten plus die Beitrittskandidaten plus das Vereinigte Königreich, die Schweiz und Norwegen einschließen, wenn sie dazugehören wollen. Die Botschaft würde lauten: „Wir sind eine europäische Familie, auch wenn die Kandidaten (noch) nicht Mitglied der EU sind.“ Da es Jahre und Jahrzehnte dauern könnte, bis aus Beitrittskandidaten Vollmitglieder werden, soll verhindert werden, dass ein politisches Vakuum entsteht, das China und Russland füllen können, wie es in Serbien der Fall ist.
Nun ist dies wieder umstritten. Einige argumentieren, dass dies ein schrittweiser Weg zur EU-Mitgliedschaft sei, ohne dass es zu Enttäuschungen kommt und man sich während der Wartezeit anderen Mächten zuwendet. Andere kritisieren es als politische Vorhölle: als Spielwiese derer, die nie EU-Mitglieder werden. Ich denke, wir befinden uns mitten in einer Diskussion über die zukünftige Architektur Europas. Was wir definitiv sehen, ist, dass Assoziierungsabkommen wie das mit der Ukraine nicht mehr funktionieren. Es hat sie nicht geschützt.
Bundeskanzler Scholz sagte, wir befänden uns in einer Zeitenwende, und meinte dies als visionäre Antwort auf den Einmarsch Russlands in der Ukraine. Wie wird dieser gigantische Paradigmenwechsel und die zusätzlichen 100 Milliarden, die in das Militär fließen, von der französischen Öffentlichkeit und den französischen Politiker:innen wahrgenommen?
Im Grunde ist Frankreich froh, dass auch die Deutschen dies als eine völlig neue Situation sehen und mehr in die Verteidigung investieren. Hier werde ich manchmal gefragt: „Aber sind die Menschen in Frankreich nicht besorgt über die Tatsache, dass Deutschland so viel Geld in die Verteidigung investiert?“ Man hatte das Gefühl, dass Deutschland zwar wirtschaftlich viel stärker ist, aber wir, Frankreich, sind eine Militärmacht. Das ist eine andere Art der Machtprojektion, wenn Sie so wollen. Deutschland projiziert wirtschaftliche Macht und wir können diese harte Macht projizieren. Und natürlich stellt sich die Frage: Wenn Deutschland auch militärische Macht ausstrahlt, wer sind dann wir?
Aber ich habe in Frankreich nicht wirklich eine solche Besorgnis wahrgenommen. Im Gegenteil, französische politische Kreise und das außenpolitische Establishment fragen: Deutschland gibt jetzt so viel Geld aus, was sehr beeindruckend ist, aber es gilt nur für vier Jahre, richtig? Was passiert nach 2026? Und in vier Jahren gibt es dann vielleicht eine andere Koalition. Ich denke also, die französische Politik wartet ab, um zu sehen, ob dies wirklich ein langfristiger Politikwechsel ist. Handelt es sich um eine echte Zeitenwende oder bleibt es eine einmalige Ausnahme? Die andere Frage ist, wie wird Deutschland dieses Geld ausgeben? Wird die Bundesregierung einfach militärische Ausrüstung kaufen, Rüstungstechnik von der Stange? Oder wird sie versuchen, in eine echte europäische Verteidigungsindustrie mit innovativer Technologie zu investieren?
Sylvie Kauffmann ist eine französische Journalistin und Expertin für Geopolitik und internationale Beziehung. Sie ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Henry Alt-Haaker leitet den Bereich Strategische Partnerschaften und Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung.
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