Putin hat sich für den Krieg entschieden und dabei verrechnet
In den frühen Morgenstunden des 24. Februar begann das russische Militär seine Invasion der Ukraine. Die Ukraine hatte Russland zuvor nicht bedroht. Dieser Krieg begann, weil ein Mann – Wladimir Putin – es so entschieden hat. Doch Putins Krieg hat eine Reihe von Fehleinschätzungen ans Tageslicht gebracht.
Von Steven Pifer
Um es klar zu sagen: Die Ukraine stellte keine Bedrohung für Russland dar. Das russische Militär ist wesentlich größer und finanziell besser ausgestattet als das ukrainische. Außerdem verfügt Russland über 4.400 Atomwaffen in seinem aktiven Arsenal. Die Ukraine hat keine, denn in den 1990er Jahren gab Kiew das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt auf. Zu der Entscheidung das Arsenal aufzugeben trug einen großen Teil bei, dass Russland sich verpflichtete, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren und keine Gewalt gegen die Ukraine anzuwenden.
Einen Monat nach seinem Beginn verläuft der Krieg eindeutig nicht so, wie Putin es sich erhofft haben muss. Der Kreml hat sich verkalkuliert, das ist offensichtlich. Erstens hat die russische Führung das ukrainische Militär offenbar nicht ernst genommen. Die Ukrainer haben bislang mit Geschick, Mut und Entschlossenheit gekämpft. Das scheint das russische Militär überrascht zu haben. Denn ursprünglich hatte Russlands Armee nur relativ kleine Einheiten zur Einnahme von Kiew entsandt, die dann aber von ukrainischen Truppen zurückgeschlagen wurden.
Russlands Unvermögen, die Ukraine zu verstehen
Die Russen hätten ihren Gegner besser einschätzen müssen. Westliche Analysten erwarteten einen entschiedenen Widerstand. (Ich habe Kiew Ende Januar besucht und es war offensichtlich, dass die Ukrainer kämpfen würden.) Diese russische Fehleinschätzung spiegelt möglicherweise ein weit größeres Unvermögen des Kremls wider, wenn es darum geht, die Ukraine zu verstehen. So sagt Putin beispielsweise regelmäßig, dass Russen und Ukrainer ein und dasselbe Volk seien. Dieser Satz macht die Ukrainer mit Sicherheit wütend, denn sie verstehen ihn als Leugnung ihrer Kultur, Geschichte und Sprache.
Der Kreml hat sich auch verkalkuliert, indem er die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte überschätzt hat. Die ersten beiden Kriegswochen legten eklatante Mängel offen: Trotz einer weitaus größeren Luftwaffe gelang es den russischen Kräften nicht, den Luftraum zu beherrschen und die Bodentruppen wirksam aus der Luft zu unterstützen. Sie waren entweder nicht in der Lage oder nicht willens, Bodenoperationen bei Nacht durchzuführen, darüber hinaus es gab zahlreiche logistische Schwachstellen.
Sicherlich kann Russland die Taktik seiner Militäroperationen ändern, vor allem bei dem Angriff auf Kiew. Auch hat es nach wie vor erhebliche Vorteile in Bezug auf die Anzahl und Schlagkraft seiner Truppen. Doch nach vierzehn Tagen Kampf stellt sich nicht nur die Frage, wann die Russen gewinnen werden, sondern ob sie überhaupt gewinnen werden. Eine militärische Pattsituation wird zu einem immer wahrscheinlicheren Szenario.
Selbst wenn die russischen Truppen die ukrainischen besiegen und Kiew besetzen – was passiert anschließend? Vermutlich würde Russland eine pro-russische Regierung einsetzen. Diese Regierung könnte jedoch angesichts einer wütenden, feindseligen und teilweise bewaffneten ukrainischen Zivilbevölkerung nur dann überleben, wenn sie von einer großen militärischen Besatzung und Sicherheitsdiensten unterstützt würde. Russlands Krieg mit der Ukraine würde nicht einfach enden, sondern die Besatzer würden sich einer neuen Phase des Widerstands gegenübersehen.
Putins Aggression hat die NATO wiederbelebt
Die dritte Fehleinschätzung Putins bestand darin, dass er die Stärke der westlichen Reaktion unterschätzt hat. Rund 30 Länder liefern der Ukraine inzwischen Verteidigungshilfe und Waffen. Der Krieg hat die NATO wiederbelebt, die zusätzliche Truppen in die Länder der Ostflanke, einschließlich der baltischen Staaten, entsandt hat. Putin haben die relativ kleinen Truppenkontingente in der Ostsee-Region bisher nicht gefallen; was er nun sieht, wird ihm noch viel weniger gefallen. Vertreter Finnlands und Schwedens nehmen jetzt regelmäßig an den NATO-Konsultationen über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine teil.
Die Vereinigten Staaten, Europa und andere Länder haben rasch umfangreiche Sanktionen gegen Russland verhängt, darunter auch gegen die russische Zentralbank. Die Bank hatte schätzungsweise 50 bis 60 Prozent der russischen Devisenreserven in Höhe von mehr als 600 Milliarden Dollar bei westlichen Finanzinstituten angelegt. Diese Gelder sind nun eingefroren und für Moskau nicht mehr verfügbar. Der Rubel ist auf einem Rekordtief gegenüber anderen Währungen, was auf eine zukünftige, erhebliche Preisinflation in Russland hindeutet.
Nirgendwo war der Wandel in der Haltung gegenüber Russland größer als in Berlin. Innerhalb einer Woche hat die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz fünf Jahrzehnte bisheriger deutscher Politik über den Haufen geworfen. Berlin setzte die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 aus, stimmte zu, russische Banken vom SWIFT-Zahlungssystem auszuschließen, kippte die Politik, keine Waffenlieferungen in Konfliktgebiete zuzulassen, um Waffen an die Ukraine zu liefern, und kündigte eine 30-prozentige Erhöhung der Verteidigungsausgaben sowie zusätzliche 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an. Das ist das Doppelte dessen, was Deutschland im Jahr 2021 für die Verteidigung ausgab.
Eine vierte Fehleinschätzung betrifft die Auswirkungen, die der Krieg auf die russische Bevölkerung haben wird. Bei Anti-Kriegs-Demonstrationen sind Tausende verhaftet worden. Die große Unbekannte ist, wie die breite Öffentlichkeit reagieren wird, wenn sie die schmerzhaften wirtschaftlichen Folgen von Putins Krieg zu spüren bekommt und die Zahl der russischen Opfer steigt.
Der Krieg kann gestoppt werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich um ein Treffen mit Putin bemüht, der Westen lässt die Möglichkeit für Gespräche und Verhandlungen über russische Sicherheitsbelange weiterhin offen. Leider hat der Kreml jedoch bisher kein ernsthaftes Interesse an Verhandlungen gezeigt. Das könnte sich als eine weitere Fehlkalkulation Putins erweisen: Je weiter er die Invasion der Ukraine vorantreibt, desto schwieriger könnte es für ihn werden, wieder herauszukommen.
Steven Pifer ist William J. Perry Research Fellow am Center for International Security and Cooperation an der Stanford University, Non-resident Senior Fellow bei der Brookings Institution sowie Brookings-Robert Bosch Foundation Transatlantic Initiative Fellow der Robert Bosch Academy.
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