Social Distancing wird die Situation verschlimmern
In Zeiten der Corona-Pandemie sind soziale Kontakte wichtiger denn je. Wir müssen das vereinende Potential der digitalen Welt nutzen, um den unerwünschten Folgen des Social Distancing entgegenzuwirken.
von Henry Alt-Haaker und Daniel S. Hamilton
In den unsicheren Zeiten von COVID-19 sind wir alle zu „Social Distancing“ angehalten. Die Idee dahinter leuchtet ein: Wir möchten die Infektionskette durch Abstand zu anderen Menschen unterbrechen. Doch der eigentliche Gedanke hinter diesen Maßnahmen ist „Spatial Distancing“, also „räumliche Distanzierung“, und nicht „soziale Distanzierung“. Der Unterschied in diesem einen Wort kann unsere Haltung und unser Vorgehen in dieser Krise maßgeblich beeinflussen. Physische Distanz, ja; soziale Distanz, nein.
Soziale Kontakte zu unterlassen, kann psychische Probleme weiter verstärken: Es könnte zu höheren Depressions- und Suizidraten führen. Die Einsamkeit, welche ältere und gebrechliche Menschen ohnehin öfters verspüren, würde verschlimmert. Stresssituationen auf engem Raum führen eventuell zu einer Zunahme häuslicher Gewalt. Soziale Spannungen können zunehmen: Belastung durch soziale Distanzierung trifft einkommensschwache Familien tendenziell härter, die auf weniger Platz leben oder schlecht Zuhause arbeiten können. Alleinerziehende Eltern müssen die Kinderbetreuung parallel zur Arbeit leisten. Und Personen im Niedriglohnsektor, die etwa Waren sicherheitshalber kontaktlos an die Türschwellen der Wohlhabenden liefern, verlieren die Wertschätzung eines freundlichen Danks der Kunden.
Wir müssen diese Leerstellen füllen
Lassen Sie uns in Zeiten, in denen wir aufgerufen werden, Distanz zu wahren, aufeinander zugehen! Sportvereine, Nachbarschaftsinitiativen, Kirchen, Moscheen und Tempel – all diese Pfeiler sozialer Stabilität sind vorübergehend nicht mehr zugänglich. Diese Leerstellen müssen wir füllen. Jetzt gilt mehr denn je, das „Soziale“ durch aufbauende, heilsame und innovative Wege der gegenseitigen Fürsorge zu stärken. Es betrifft uns alle – im Lokalen, Nationalen wie Internationalen.
Nutzen wir die Krise und stärken wir unsere sozialen Beziehungen unter diesen besonderen Umständen. Das fängt mit Selbstfürsorge an – sich Zeit für unser eigenes seelisches und körperliches Wohlbefinden zu nehmen – und geht mit Fürsorge für andere weiter – sich bei Freunden und Familie zu melden; sich isolierten Älteren zu widmen; Respekt und Anerkennung denen zu zollen, die unser Gesundheitssystem aufrechterhalten, unsere Supermärkte befüllen und unsere öffentlichen Verkehrsmittel betreiben. Es mündet letztendlich darin, Empathie in all ihren Facetten für die schwierigen Herausforderungen zum Ausdruck zu bringen, mit denen wir alle derzeit konfrontiert sind.
Das vereinende Potential der digitalen Welt nutzen
Vieles davon kann auch virtuell erfolgen: Videokonferenzen, mobiles Arbeiten, Kulturangebote digital genießen, gemeinsam online spielen, an Yoga-Kursen oder Gottesdienste digital teilnehmen. Wir haben jetzt die Chance, uns das vereinende Potential der digitalen Welt wieder zunutze zu machen. In Zeiten von Hatespeech, Desinformation und politischen Filterblasen wurde das Internet zusehends zu einer Quelle von Polarisierung und gesellschaftlicher Spaltung. Es ist an der Zeit, unsere Verbindungen zu schützen und zu stärken und sie nicht zu schwächen oder gar zu hinterfragen.
Doch selbst modernste Technologie kann den sozialen Umgang nicht gänzlich ersetzen. Analoge Lösungen bleiben vor allem für diejenigen wichtig, welche wenig oder keinen Zugang zur digitalen Welt haben. Umso mehr sind Bedürftige nun auf hilfsbereite Mitmenschen angewiesen, die über eine Erledigung des Notwendigen hinaus, zuhören und Trost spenden. Menschen in häuslicher Isolation sind nun noch mehr von denjenigen abhängig, die sich um sie sorgen. Die gute Nachricht ist, dass das schon passiert. Für hilfsbedürftige Nachbarn kaufen wir ein. Unseren Pflegekräften und Ärzten applaudieren wir. Wir singen sogar von unseren Balkonen.
Haltet Sie bitte Abstand. Aber bleiben Sie sozial!
COVID-19 hat verheerende Auswirkungen auf unser Leben, unsere Wirtschaft, unsere Zukunftsaussichten. Was wird bleiben, wenn sich der Sturm gelegt hat? Werden wir öfter mit globalen Pandemien konfrontiert sein? Wie sieht das angemessene Verhältnis zwischen individuellen Freiheiten und sozialer Verantwortung aus? Wie werden wir in Zukunft arbeiten? Werden wir nach der Krise mehr oder weniger Vertrauen in die Wissenschaft, die Medien, die internationale Gemeinschaft, in unsere politischen und wirtschaftlichen Eliten haben? In uns selbst?
Diesen Fragen lässt sich am besten über räumliche Distanz hinweg begegnen. Wir werden ihnen begegnen, indem wir zusammenarbeiten, unsere Perspektiven rege austauschen, und indem wir uns rückbesinnen auf unsere kollektive Menschlichkeit.
Haltet Sie bitte Abstand. Aber bleiben Sie sozial!
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Henry Alt-Haaker ist Bereichsleiter in der Robert Bosch Stiftung. Daniel S. Hamilton ist Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy und Professor an der Johns Hopkins Universität.
Quarterly Perspectives
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