Vorgestellt: Fiona Hill
Fiona Hill ist Senior Fellow am Center on the United States and Europe im Außenpolitikprogramm der Brookings Institution. Sie hat umfangreiche Forschungen über Russland, den Kaukasus, Zentralasien, regionale Konflikte, Energie und strategische Fragen betrieben.
Woran arbeiten Sie als Fellow der Robert Bosch Academy?
Ich werde meine vergleichende Forschung über den Niedergang der Großindustrie in den USA und Europa am Ende des 20. Jahrhunderts fortsetzen und untersuchen, welche Rolle die Deindustrialisierung bei der Förderung populistischer Politik in den 2000er Jahren gespielt hat. Mein Ziel ist es, verschiedene Initiativen zur Unterstützung des Strukturwandels zu untersuchen. Ich möchte auswerten, inwiefern sie zu einer Verringerung der politischen Polarisierung beigetragen haben, und feststellen, welche Lehren wir für den gegenwärtigen raschen technologischen und demografischen Wandel, die sozioökonomische Transformation und den sich verstärkenden Klimawandel ziehen können.
Die Überwindung der Auswirkungen von Deindustrialisierung und politischer Polarisierung sind die zentralen Themen meines neuesten Buches There's Nothing for You Here: Finding Opportunity in the 21st Century, das am 16. Mai 2023 als Taschenbuch erscheinen wird. In dem Buch habe ich die Ursachen und das Zusammenspiel der Krisen der Demokratien in den USA, Großbritannien und Russland untersucht. Ursprünglich hatte ich gehofft, vor dem Schreiben des Buches nach Berlin zu kommen, um denselben Themenkomplex aus deutscher Sicht zu betrachten, musste dies aber wegen der Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie verschieben.
In dem Buch zeige ich die Zusammenhänge auf, die im Vereinigten Königreich und in den USA zwischen der politischen Fragmentierung – einschließlich des schwindenden Vertrauens der Öffentlichkeit in staatliche, nationale und zivilgesellschaftliche Institutionen – und der geografischen Polarisierung bestehen. Das Buch hebt die extremen Gegensätze hervor, die sich sowohl in Großbritannien als auch in den USA über mehrere Jahrzehnte hinweg zwischen den Zentren der Innovation und des wirtschaftlichen Wohlstands und den „vergessenen“ oder „zurückgelassenen Regionen“ entwickelt haben, die vom postindustriellen Niedergang gezeichnet sind. Im Falle Russlands denke ich darüber nach, wie der industrielle Zusammenbruch und die Wirtschaftskrise die Reformbemühungen des Landes in den 1980er und 1990er Jahren geschwächt haben. Als warnendes Beispiel dafür, wie Deindustrialisierung nicht nur Populismus, sondern schließlich auch Autoritarismus schüren kann, erörtere ich, wie der russische Präsident Wladimir Putin die Sorgen der Menschen und gesellschaftliche Missstände ausnutzte, um die demokratischen Errungenschaften Russlands wieder rückgängig zu machen, nachdem er 1999/2000 an die Macht kam.
Was sind die wichtigsten Themen in Ihrem Bereich?
Die wichtigste Veränderung in meinem Fachgebiet ist der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022. Der Einmarsch zeigt, wie schnell sich innenpolitische und globale Ereignisse verschlechtern können. Er hat alle bisherigen Annahmen umgestoßen, die den langfristigen Kurs Russlands, die europäische Sicherheit und damit auch die längerfristige Entwicklung der USA und Europas betreffen. Die Kosten des Krieges und die Aussichten für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg und die europäische Integration insgesamt sind nun die Hauptthemen und überschatten die westlichen Debatten über die Ungleichheit in den eigenen Ländern.
Im vergangenen Jahr hat Russland gezielt die zivile und wirtschaftliche Infrastruktur der Ukraine sowie den Agrar- und Industriesektor des Landes zerstört. Die Unterstützung der USA und Europas für die Bemühungen der Ukraine, Russland auf dem Schlachtfeld zurückzuschlagen, hat die militärischen Vorräte erschöpft und die Strategen unter Druck gesetzt, rasch neue Pläne zu entwickeln und die Ausgaben zu erhöhen. Der Krieg in der Ukraine hat die Initiativen der USA, des Vereinigten Königreichs und Europas zur Schaffung von neuen Entwicklungschancen in den „vergessenen Regionen“ in Gefahr gebracht. Westliche Sanktionen, russische Blockaden und andere Folgen des Krieges haben die pandemiebedingten Versorgungslücken und Disruptionen für Wirtschaft und Unternehmen verschärft. Steigende Heizungs-, Strom-, Kraftstoff- und Lebensmittelpreise in ganz Europa haben die ohnehin wirtschaftlich schwächsten Bevölkerungsgruppen getroffen und politische Missstände verschärft. All dies erhöht den Druck, kreative Lösungen für die anhaltenden sozioökonomischen Dilemmata der USA und Europas zu finden, bevor der Wiederaufbau der Ukraine beginnt, der zu einer monumentalen Herausforderung werden wird.
Wie werden die sozioökonomische Ungleichheit und die Ungleichheit zwischen verschiedenen Regionen sowie der Aufstieg populistischer Politik die Gesellschaften prägen? Und welche Lösungen sind möglich?
Teile des Vereinigten Königreichs und der USA stehen vor eigenen Herausforderungen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Aufgrund der raschen Deindustrialisierung, des schlechten Bildungsniveaus und anderer Armuts- und Ungleichheitsindizes haben die strukturschwachen Regionen beider Länder den gleichen Bedarf an ökonomischer Erneuerung und Weiterentwicklung wie die ehemaligen Ostblock-Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen am Ende des Kalten Krieges. Es wird Zeit brauchen, sicherlich eine Generation oder mehr, um messbare Ergebnisse zu erzielen, die die Chancen in diesen Regionen verbessern und so die politische Polarisierung verringern.
Auf nationaler Ebene wird dies eine große politische Anstrengung erfordern, um umfassende Programme zur Armutsbekämpfung, zur Bildungsreform und zur regionalen Erneuerung und Schaffung von Arbeitsplätzen zu entwickeln. Doch wie ich in meinem Buch beschreibe, können Chancen – in Form von Zugang zu Bildung und Beschäftigung und damit zu sozioökonomischer Mobilität – sowohl durch persönliche Umstände als auch durch strukturelle Hindernisse blockiert werden. Die nationale Regierung, die einzelnen Bundesstaaten oder Regionen, lokale Gemeinschaften, Schulen, Hochschulen, Unternehmen, Qualifizierungsprogramme, Familien sowie persönliche und berufliche Netzwerke bilden gemeinsam eine Infrastruktur der Chancen. Wenn die Ungleichheit zunimmt, liegt das daran, dass Teile dieser Infrastruktur geschwächt sind oder sogar versagt haben.
In den letzten Abschnitten des Buches habe ich untersucht, wie im Vereinigten Königreich und in den USA individuelle, gruppenbezogene, basisdemokratische, philanthropische und privatwirtschaftliche Maßnahmen neben staatlichen Interventionen und groß angelegten Geldtransfers dazu beitragen können, die sozioökonomische Mobilität zu fördern und zurückgelassene Gemeinschaften auf einen neuen Weg zu bringen. Ich möchte nun untersuchen, wie solche Akteur:innen aus Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland parallel zu und gemeinsam mit der Bundesregierung und den Landesregierungen arbeiten und wie sie die sozioökonomischen Ergebnisse gestalten.
Welche Erkenntnisse für Ihre Arbeit erhoffen Sie sich von Ihrem Fellowship?
In Berlin suche ich nach zusätzlichen Vergleichsmöglichkeiten mit Großbritannien und den USA sowie nach Beispielen für konkrete Projekte, die die Infrastruktur wiederherstellen und Menschen und Regionen Chancen eröffnen. Deutschland ist aufgrund seiner industriellen Geschichte, seiner föderalen Struktur, dem Fokus auf regionale und lokale Entwicklung und seiner langen Tradition der Ausweitung des Zugangs zu allen Formen der Bildung, einschließlich hochwertiger Berufs- und Ausbildungsprogramme, ein häufiger Bezugspunkt für die USA und das Vereinigte Königreich. Natürlich sind auch die deutschen Erfahrungen mit der Wiedereingliederung nach 1990 von besonderer Bedeutung, wenn man bedenkt, welch gewaltige Anstrengungen unternommen wurden, um die Regionen der ehemaligen DDR zu sanieren, und wie stark populistische Politik im letzten Jahrzehnt angewachsen ist. Ich möchte insbesondere das Spektrum der in Deutschland verfolgten Politik der letzten Jahrzehnte und deren Ergebnisse bewerten.
Seit ich mein Buch im Jahr 2021/2022 beendet habe, hat die Biden-Regierung in den USA unter dem Motto „Build Back Better“ eine Reihe von Gesetzen zum Ausbau des amerikanischen Wohlfahrtssystems und zur Verringerung der sozioökonomischen Ungleichheit zwischen den Regionen erlassen. Der American Rescue Plan Act, der Infrastructure Investment and Jobs Act und der Inflation ReductionAct stellen die größte Investition von Bundesmitteln in die Sanierung und Wirtschaftsentwicklung in der amerikanischen Geschichte dar. Sie sollen speziell den am stärksten benachteiligten, marginalisierten und politisch polarisierten Gemeinden Amerikas zugutekommen, unter anderem durch Mittel für den Wiederaufbau von Verkehrswegen, den Ausbau von Hochgeschwindigkeits-Internetzugängen und die Förderung der Entwicklung neuer „grüner“ Technologien und Industrien in alten Industrieregionen. In ähnlicher Weise hat die britische Regierung im Jahr 2022 ein Levelling Up White Paper vorgelegt. Dieser Bericht ist die erste umfassende Analyse der sozioökonomischen und geografischen Unterschiede innerhalb des Landes, die einen ehrgeizigen Zehnjahresplan zur Förderung von Investitionen und Beschäftigung außerhalb Londons und Südenglands enthält.
Ich beobachte mit besonderem Interesse, wie die Bemühungen des Vereinigten Königreichs im Vergleich zu denen Deutschlands in den neuen Bundesländern und im Ruhrgebiet aussehen. Meine Heimatregion County Durham, die einst eines der weltweit wichtigsten Zentren des Kohlebergbaus war, ist seit langem mit dem Ruhrgebiet verbunden. Doch hat letzteres schon vor Jahrzehnten mit der Abkehr von der Kohle und dem Strukturwandel begonnen, während die Grafschaft Durham und der Nordosten Englands wirtschaftlich weit hinter dem Rest Englands zurückliegen. Der Bericht Levelling Up des Vereinigten Königreichs erkennt dies an und schlägt nicht nur die Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur vor, sondern betont auch die Bedeutung einer qualitativ hochwertigen Berufsausbildung nach dem Vorbild Deutschlands. Der britische Bericht hebt außerdem hervor, wie wichtig es ist, das subjektive Wohlbefinden der Menschen zu verbessern, den „Stolz“ auf ihre Heimat zu fördern und die Zufriedenheit der kommunalen Gemeinschaften zu erhöhen. All dies waren Merkmale der deutschen kommunalen und regionalen Entwicklungsprojekte im Ruhrgebiet. Ich hoffe, dass die deutsche Politik im Ruhrgebiet und anderswo weitere Ideen und Lehren für das Vereinigte Königreich und die USA bereithält.
Was macht Berlin und Deutschland für Ihre Arbeit relevant?
Die Geschichte Berlins im Kalten Krieg als eine vom Westen abgeschnittene Insel und geteilte Stadt ist für meine Arbeit besonders wichtig. In vielerlei Hinsicht war Berlin 40 Jahre lang der ultimative „zurückgelassene Ort“. Die Erfahrungen des Kalten Krieges haben die Wirtschaft und die Politik der Stadt verzerrt, Menschen und Unternehmen sind geflohen und die westdeutsche politische Hauptstadt wurde in Bonn und nicht in der westlichen Hälfte Berlins angesiedelt. Die westdeutsche Regierung subventionierte die westliche Hälfte der Stadt stark, um sie am Leben zu erhalten, während die östliche Hälfte der Stadt in die Planwirtschaft der DDR integriert wurde und als Hauptstadt erhalten blieb. Berlin ist ein Mikrokosmos für die kolossale Aufgabe der Wiedervereinigung von Ost und West, die Überwindung wirtschaftlicher und politischer Verwerfungen und das Knüpfen des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland nach dem Fall der Mauer im Jahr 1989. Wir verfügen nun über mehr als dreißig Jahre an Daten und Analysen darüber, was in Bezug auf die Wiedereingliederung und den Wiederaufbau funktioniert hat – und was nicht. Angesichts des Verlaufs des Krieges in der Ukraine und der drohenden territorialen Teilung – sollte es Russland gelingen, seinen Griff auf die illegal annektierten ukrainischen Gebiete zu festigen – können wir aus Berlin auch Lehren für eine zukünftige wirtschaftliche Erholung und den Wiederaufbau der Ukraine ziehen.
Quarterly Perspectives
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