Vorgestellt: Huang Jing
Huang Jing ist Experte für Außen- und Sicherheitspolitik und befasst sich schwerpunktmäßig mit der Außenpolitik Chinas, dem Militär, den Beziehungen zwischen den USA und China sowie Sicherheitsfragen im asiatisch-pazifischen Raum.
Woran arbeiten Sie als Fellow der Robert Bosch Academy?
Es ist zwar ungewiss, wann und wie der russisch-ukrainische Krieg enden wird, aber es ist sicher, dass Russland unser Leben weiterhin stark beeinflussen wird. Das liegt nicht nur an dem enormen Atomwaffenarsenal, über das Russland verfügt, sondern auch daran, dass die zentralen Herausforderungen, vor denen Russland steht, bestehen bleiben – egal, wie dieser Krieg endet.
Ich bin also an der Robert Bosch Academy, um ein Feld zu erforschen, das eigentlich nicht zu meinem Fachgebiet gehört. Aber als Intellektueller übt es eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich aus. Es geht um die Art und Weise, wie sich Russland nach Putin entwickeln wird, angesichts der Herausforderungen, denen sich die Russ:innen seit Jahrzehnten stellen müssen. Die grundlegendsten Herausforderungen für Russland bestehen in drei extremen Ungleichgewichten: in der Verteilung und Nutzung der Ressourcen; in der wirtschaftlichen Entwicklung bzw. der Struktur der Wirtschaft; und in der Bevölkerungsverteilung und Migration.
Ich behaupte nicht, dass ich Lösungen für diese Herausforderungen finden werde. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass diese Probleme, wenn sie nicht rechtzeitig angegangen werden, letztendlich einen katastrophalen Tribut in Russland und darüber hinaus fordern werden. Mein Bestreben ist es, die Wurzeln dieser Herausforderungen ausfindig zu machen und herauszufinden, wie sie sich im wirtschaftlichen und politischen Leben Russlands im Detail abbilden. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, bedarf es sinnvoller internationaler Kooperation und nicht der Konfliktaustragung. Der Schwerpunkt sollte eher darauf liegen, die Grundlagen für ein stabiles, wohlhabendes und zivilisiertes Russland zu schaffen, als sich auf seine "Niederlage" zu konzentrieren. Schließlich ist ein stabiles Russland eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung von Frieden und Stabilität in Europa und darüber hinaus.
Was sind die wichtigsten Themen in Ihrem Bereich?
Mein Fachgebiet konzentriert sich auf die Beziehungen zwischen Großmächten, insbesondere auf die Beziehungen zwischen den USA und China. Heutzutage ist die wichtigste Frage in diesem Bereich, wie es den beiden Großmächten gelingen kann, eine stabile oder zumindest handhabbare Beziehung aufrechtzuerhalten. Es stimmt, dass sowohl Präsident Biden als auch Präsident Xi versprochen haben, dass beide Länder nicht in einen kalten Krieg oder einen heißen Konflikt geraten werden. Die Realität sieht jedoch so aus, dass die Biden-Regierung China als den „größten Herausforderer“ der USA und der von den USA geführten internationalen Ordnung betrachtet. Sie hat daher versprochen, dass die USA China mit der Unterstützung ihrer Verbündeten und Partner „überflügeln“ werden.
Um dieses Ziel zu erreichen, haben sich die USA bemüht, sich wirtschaftlich von China abzukoppeln (zumindest in den High-Tech-Bereichen), China politisch einzudämmen und China mit überlegenen militärischen Kräften einzukreisen. Unterdessen tritt China in internationalen Angelegenheiten, insbesondere im asiatisch-pazifischen Raum, immer selbstbewusster auf und setzt alles daran, seine Initiative „Neue Seidenstraße“ voranzutreiben, die Washington als Mittel zur Ausweitung des chinesischen Einflusses einerseits und als Mittel zur Revision der regelbasierten internationalen Ordnung andererseits betrachtet.
Im Grunde genommen ist dieser Wettstreit zwischen den USA und China eine Fassade, hinter der sich ein Rennen zwischen den beiden Großmächten abspielt, um ihr jeweils eigenes Haus in Ordnung zu bringen. Schließlich kommen die größten Herausforderungen sowohl für Washington als auch für Peking von innen. Diese Faktoren sind die bestimmenden Kräfte für das Policymaking in beiden Ländern. Daher kann es sich keine der beiden politischen Führungsriegen leisten, in diesem Wettstreit Kompromisse einzugehen.
Die gute Nachricht ist, dass sowohl die US-amerikanische als auch die chinesische Führung erkannt haben, wo die wahren Herausforderungen liegen. Während die Regierung Biden „Investitionen“ im eigenen Land den Vorrang gibt, um die USA zu stärken, hat auch Präsident Xi wiederholt betont, dass China in erster Linie „unsere eigenen Dinge gut machen“ müsse. Besorgniserregend ist jedoch die Möglichkeit, dass sich der Wettbewerb zwischen den USA und China zu einer Nullsummenrivalität entwickelt. Das Aufkommen nationalistischer Gefühle in China und die politische Unsicherheit in den USA, die durch eine tiefe gesellschaftspolitische Spaltung und eine halsbrecherische Parteipolitik verursacht wird, sind in dieser Hinsicht in keiner Weise hilfreich.
Wie hat der aktuelle Krieg in der Ukraine Chinas Politik gegenüber dem sogenannten Westen beeinflusst?
Die von Russland sogenannte „militärische Spezial-Operation" in der Ukraine ist im Wesentlichen ein Angriff auf die bestehende internationale Ordnung – oder, wie Moskau es ausdrückt, die „internationale Ordnung des Westens“. Dies hat China in eine unangenehme Situation gebracht, in der sich die chinesische Führung drei Fragen stellen muss. Die erste Frage lautet, ob das Land Teil der bestehenden internationalen Ordnung bleiben soll. Aus der Sicht Chinas stützt sich die bestehende internationale Ordnung auf drei Säulen:
- Die politische Ordnung, die in den Vereinten Nationen institutionalisiert ist,
- die Wirtschafts- und Handelsordnung, die auf der Welthandelsorganisation (WTO), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dem Freihandelsabkommen in der Region Asien-Pazifik (RECP), und der Transpazifischen Partnerschaft (CPTPP) sowie weiteren Verträgen und Institutionen beruht, und
- die Finanzordnung, die von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IMF) geregelt wird.
Diese drei Säulen fußen alle auf multilateralen Vereinbarungen, deshalb hält China den Multilateralismus in internationalen Angelegenheiten hoch. Die USA und ihre Verbündeten spielen eine wichtige und unersetzliche Rolle bei der Schaffung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung.
Dies führt zur zweiten Frage: Ob der Niedergang der USA, insbesondere ein ungeordneter Niedergang, Chinas Interesse dient. Und damit ist die dritte Frage verbunden: Ob China eine stabile oder zumindest steuerbare Beziehung zu den USA aufrechterhalten muss.
Ein genauer Blick auf die Regierungsdokumente und die Reden der chinesischen Führung, insbesondere auf den politischen Bericht, den Xi auf dem jüngsten 20. Nationalen Kongress der Kommunistischen Partei Chinas gegeben hat, zeigt, dass China Teil der internationalen Ordnung bleiben und darüber hinaus dazu beitragen will, diese zu verbessern. (Manche behaupten, China wolle diese Ordnung in seinem Interesse revidieren. Revisionismus jedoch erfordert eher den Kompromiss als den Konflikt und ist weit entfernt von einer Revolution, die zunächst Bestehendes zerstören will.) In diesem Sinne ist ein schneller Niedergang der USA für China unerwünscht, und deshalb möchte China eine stabile oder zumindest steuerbare Beziehung mit den USA aufrechterhalten.
Daher hat China im Ukraine-Krieg sorgfältig eine „neutrale Position“ (oder in Putins Worten: „eine ausgewogene Beziehung“) gewahrt. Im Allgemeinen ist China bemüht, den Westen und insbesondere die USA einzubinden. Es strebt danach, sich weiter in die Weltmarktwirtschaft zu integrieren, und befürwortet die „kooperative Sicherheit“, um ein günstiges Sicherheitsumfeld zu schaffen, insbesondere in den an China angrenzenden Regionen.
Welche Erkenntnisse für Ihre Arbeit erhoffen Sie sich von Ihrem Fellowship?
Ich erhoffe mir, die Wurzeln der Herausforderungen, vor denen Russland steht, zu ergründen und herauszufinden, wie genau sie sich im wirtschaftspolitischen Leben Russlands zeigen. Insbesondere möchte ich herausfinden, warum alle Bemühungen, diese Probleme anzugehen, insbesondere die höchst unausgewogene Entwicklung der Wirtschaft, trotz des außerordentlichen Reichtums an natürlichen Ressourcen und des Fleißes der russischen Bevölkerung gescheitert sind.
Was macht Berlin und Deutschland so wichtig für Ihre Arbeit?
Angesichts der Tatsache, dass die Geschehnisse in Russland schon immer einen tiefgreifenden Einfluss auf das politische, wirtschaftliche und soziale Leben in Deutschland hatten, ist Berlin nach der Wiedervereinigung Deutschlands zum Zentrum des diplomatischen, wirtschaftlichen, sozialen, bildungspolitischen und humanitären Austauschs zwischen Russland und Deutschland und zwischen Russland und Europa im Allgemeinen geworden. In Berlin gibt es nicht nur hochkarätige Wissenschaftler und Experten für Russlandstudien, sondern auch ein reichhaltiges Angebot an Literatur und Veranstaltungen mit Russlandbezug. Darüber hinaus bietet Berlin Forschern ein offenes, freies und kollegiales Umfeld, das sowohl Inspiration als auch Besonnenheit vermittelt.
Quarterly Perspectives
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