Unsere Ernährungssysteme müssen anders subventioniert werden
Um den steigenden Nahrungsmittelbedarf auf der Welt zu decken und die wachsenden Auswirkungen des Klimawandels zu bewältigen, brauchen wir einen Umbau hin zu einer nachhaltigen und klimaschonenden Landnutzung. Ertharin Cousin spricht darüber, wie dieser Wandel erreicht werden kann.
Gerrit Hansen: Ertharin, im Mittelpunkt Ihres Fellowships steht die Frage, wie ein gerechter Übergang in eine klimaneutrale Welt, die ausreichend Nahrung produziert, aussehen kann. Welchen Stellenwert nehmen Ernährung und Landwirtschaft in der Klima-Agenda ein?
Ertharin Cousin: Der Umbau des Ernährungssystems ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, Klimaneutralität zu erreichen. Auch mit Blick auf weitere zentrale Herausforderungen ist dies von entscheidender Bedeutung, insbesondere im Bereich Gesundheit und Ernährung. All diese Themen sind miteinander verknüpft. Bislang haben wir jedoch alle in unseren jeweiligen Silos gearbeitet. Dies ist einer der Gründe, weshalb wir keine grundlegenden Veränderungen herbeiführen konnten. Klimaexpert:innen arbeiten zu Klima, Wasserfachleute zu Wasser, Ernährungs- und Agrarwissenschaftler:innen beschäftigen sich mit Nahrungsmitteln und Hunger. Ich freue mich sehr, dass wir nun gemeinsam Fortschritte in der Zusammenarbeit erzielen.
Sie gehören dem Leitungsteam des diesjährigen UN Food Systems Summit (UNFSS) an. Der UNFSS wurde als „People’s Summit“ konzipiert, bei dem unterschiedliche Dialoge zum Ernährungssystem in verschiedenen Arbeitsbereichen geführt wurden und der vielfältige Möglichkeiten der Beteiligung geboten hat. Hat sich dieser Ansatz bewährt?
Ja. Im Vorfeld des Gipfels haben mehr als 50.000 Menschen an Dialogen über das Ernährungssystem teilgenommen. Insgesamt fanden etwa 145 nationale Dialoge statt, einer davon auch hier in Deutschland. Die beteiligten Organisationen vertreten mehr als 100 Millionen Erzeuger:innen aus Ländern in aller Welt. Mit dieser außergewöhnlichen und breiten Beteiligung sollte die Schaffung eines echten „People’s Summit“ innerhalb des multilateralen Systems der Vereinten Nationen sichergestellt werden. Denn die UNO ist mit ihren Repräsentativorganen nicht darauf ausgerichtet, alle Menschen direkt zu beteiligen und einzubinden.
Zugegeben, es liegt noch ein weiter Weg vor uns. Das Auswahlverfahren ist alles andere als optimal, und die anhaltende Kritik ist mir weder entgangen, noch bin ich taub dafür. Viele innerhalb und außerhalb des Systems vertreten die Auffassung, dass es keine oder nur eine eingeschränkte Rolle für einen multi-sektoralen Gipfel geben darf, weil die UNO eine Organisation von Mitgliedstaaten ist. Ein Bündnis aus Vertreter:innen der Zivilgesellschaft plädiert lautstark dafür, internationalen Unternehmen keinen Einfluss auf die Ergebnisse des Gipfels einzuräumen. Sie sind fest davon überzeugt, dass Privatunternehmen für einen Großteil der Probleme verantwortlich sind, die das Ernährungssystem heute belasten. Noch nie habe ich politische Aktionen erlebt oder kennengelernt, die sich, wenn sie wirklich breit angelegt und demokratisch sind, keine Kritik gefallen lassen mussten. Um Fortschritte zu erzielen, muss diese Kritik angenommen und, wenn begründet, auch darauf eingegangen werden. Gleichzeitig müssen alle Stimmen und berechtigten Bedenken in die Gespräche einfließen.
Sie waren einige Monate in Deutschland und haben die politische Landschaft im Vorfeld der Bundestagswahlen beobachtet. Was ist Ihre zentrale Erkenntnis?
Noch fällt es mir schwer, ein abschließendes Fazit zu formulieren. Doch ich habe einige interessante Dinge gelernt. Erstens, Covid-19 hat nicht dazu geführt, dass sich Akteure in Deutschland – der Privatsektor, die Regierung, NGOs – weniger engagiert haben für nachhaltigen Klimaschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Ganz im Gegenteil hat sich mit der Pandemie die Bedeutung einer sektorübergreifenden und globalen Auseinandersetzung mit vielen Themen noch deutlicher gezeigt.
Zweitens habe ich gelernt, dass den Menschen in Deutschland die immer schädlicheren Auswirkungen des Klimawandels viel bewusster sind als den Menschen in den USA. Diese Einsicht ermöglicht eine andere Art von Austausch darüber, was zu tun ist. Doch wie lässt sich dieses Bewusstsein in politische Strategien übertragen? Ich denke, wir werden erst nach den Wahlen richtig verstehen, welchen Weg Deutschland künftig einschlagen wird. Umfragen zeigen, und das deckt sich auch mit meinen eigenen Beobachtungen: Trotz des ausgeprägten Bewusstseins und Engagements gegen den Klimawandel scheint sich die Erkenntnis, dass mehr getan werden muss, bisher nicht in den Lebens- und Konsumgewohnheiten vieler Menschen in Deutschland widerzuspiegeln – insbesondere wenn es um Lebensmittel geht. Ich frage mich deshalb, wie sich dieser Widerspruch zwischen Denken und Handeln auf die Bereitschaft der gewählten Volksvertreter:innen auswirken wird, die notwendigen, breit angelegten und einschneidenden regulatorischen Änderungen einzuleiten.
Derartige Änderungen könnten unter anderem durch eine Reform von öffentlichen Investitionen und Steuersystemen wirksamer gestaltet werden. Beispielsweise ließen sich Einnahmen aus der CO2-Bepreisung zugunsten einkommensschwacher Haushalte umverteilen.
Richtig. Und wenn wir hier unterscheiden zwischen wohlhabenden Menschen und jenen, die potentiell auf finanzielle Förderung angewiesenen sind, schwingt in vielen Fällen der Gegensatz zwischen städtischen und ländlichen Gebieten mit. In Deutschland gibt es, wie in den meisten Teilen der Welt, ein Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land. Weniger einkommensstarke Bevölkerungsgruppen finden sich eher in ländlichen Gemeinden. Eine Förderung des öffentlichen Nahverkehrs – durch finanzielle Anreize einerseits und Verteuerung der Nutzung des Autos andererseits – mag in der Stadt funktionieren, aber nicht auf dem Land. In ländlichen Gebieten führt die begrenzte Verfügbarkeit des öffentlichen Nahverkehrs zu Mobilitätsproblemen, die bislang durch privaten Autobesitz gelöst werden. Ein System der CO2-Bepreisung, das auf Steuererhöhungen und finanzielle Nachteile für den Besitz und die Nutzung von Kraftfahrzeugen basiert und diese Einnahmen anschließend an einkommensschwache Haushalte umverteilt, könnte absurderweise einkommensschwache Stadtbewohner belohnen, ärmere Autofahrer:innnen in ländlichen Gebieten aber benachteiligen.
Auch andere Vorschläge zur Senkung der Treibhausgasemissionen, wie kostspielige Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktion und die Senkung des Energiebedarfs von Wohngebäuden, würden überproportional jene betreffen, die in ländlichen Gebieten leben und arbeiten. Meine Gespräche und Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Themen zu den blinden Flecken und schwierigen Herausforderungen gehören, denen sich viele politische Entscheidungsträger:innen in Deutschland bisher noch nicht stellen.
Weltweit wird das derzeitige Ernährungssystem jährlich mit etwa 600 bis 700 Milliarden US-Dollar gefördert. Wäre es möglich, diese Subventionen umzuwidmen und umzuverteilen, um die von uns allen vereinbarten globalen Ziele zu erreichen?
Die Art, wie wir Ernährungssysteme subventionieren, muss sich ändern. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit, die Datenlage und die politischen Machtverhältnisse machen deutlich, dass wir eher einen schrittweisen als einen revolutionären Wandel erwarten sollten. Wer sich näher mit den weltweiten Subventionszahlungen auseinandersetzt, wird erkennen, dass die umfangreichsten Subventionen heute direkt an mächtige konventionelle landwirtschaftliche Großbetriebe und Landeigentümer gehen. Deshalb wäre es meines Erachtens naiv, hier kurzfristig ein grundlegendes Umsteuern zu erwarten.
Nach meinen Gesprächen der vergangenen Monate bleibe ich bei meiner festen, aber nicht blauäugigen Überzeugung, dass wir die Subventionsflüsse durch unermüdliches Engagement und Aufklärungsarbeit ändern können. Weltweit setzen sich Gesetzgeber mit einer Vielzahl von Interessengruppen auseinander, darunter Landwirt:innen, Umweltschützer:innen, Verbraucher:innen sowie Akteur:innen im Gesundheitsbereich, die sich mit der Rolle von Subventionen im heutigen Ernährungssystem und mit dessen möglichen Umbau befassen. Meine Untersuchungen haben ergeben, dass sich die verschiedenen Akteur:innen und Interessenvertreter:innen nicht auf ein konkretes regulatorisches Vorgehen einigen können. Allerdings bemühen sich die Regierungen in vielen Ländern ebenso wie die deutsche Regierung darum, ihre inkongruenten Subventionsstrategien anzupassen und diverse landwirtschaftliche Praktiken finanziell zu fördern, insbesondere im Bereich der ökologischen und regenerativen Landwirtschaft.
Welche Rolle können große Agrarunternehmen dabei einnehmen, das Ernährungssystem gerechter, umweltfreundlicher und gesünder zu gestalten? Lässt sich in der Unternehmenswelt ein echtes Umdenken beobachten?
Ich denke, wir benötigen viele verschiedene Lösungen. Große Agrarbetriebe und global agierende Lebensmittelkonzerne sind ein Teil dieser Lösungen Ein Blick auf die aktuellen Websites und in die Jahresberichte großer Agrarunternehmen macht deutlich, dass sie alle sich mit Blick auf Umwelt und Gesundheit zu Nachhaltigkeit bekennen und verpflichten. All diesen Unternehmen ist bewusst, dass ihre künftige Finanzkraft unmittelbar davon ihrem Beitrag, zum Umbau des Ernährungssystems und der Umsetzung der Klimaziele abhängt. Ich gehöre nicht zu denen, für die Großkonzerne der Feind sind. Das sind sie nicht. Es ist eine der Kernaufgaben des Managements von Aktiengesellschaften, einen Wert für die Aktionäre zu erwirtschaften. Allerdings sind die Entscheidungsträger und Führungskräfte großer Agrar- und Lebensmittelkonzerne zugleich auch Weltbürger:innen sowie Eltern oder Großeltern. Die Menschen, die diese Unternehmen führen, sind sich der Gefahren der Klimakrise ebenso bewusst wie diejenigen unter uns, die sich für den Umbau hin zu einem gerechten Ernährungssystem einsetzen. Für die Entwicklung nachhaltiger und dauerhafter Lösungen ist es von entscheidender Bedeutung, auch Akteure des Ernährungssystems aus dem Privatsektor an den Gesprächen und Maßnahmen zu beteiligen.
Sie engagieren sich auch in Ruanda. Subsahara-Afrika steht angesichts einer wachsenden Bevölkerung, geringer Ernteerträge und zunehmender Auswirkungen des Klimawandels vor besonderen Herausforderungen im Bereich der Ernährungssicherheit.
Bevor wir landwirtschaftliche Aktivitäten in Afrika untersuchen und diskutieren, müssen wir uns zunächst vor Augen führen, dass es auf dem afrikanischen Kontinent 52 Länder gibt, die sehr unterschiedlich sind - in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht sowie bei den Praktiken ihrer Agrar- und Ernährungssysteme. Alle Regierungschefs in Afrika sind sich der Bedeutung wirksamer nationaler und regionaler landwirtschaftlicher Entwicklungsprogramme bewusst. Diese Programme müssen eine optimale landwirtschaftliche Produktion im vom Klimawandel betroffenen Afrika ermöglichen und zu einem ressourcenschonenden Umbau des Ernährungssystems beitragen, das eine Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln und wirtschaftliches Wachstum ermöglicht. Dies ist eine große Aufgabe, die nicht nur politischen Willen, sondern auch nationale und internationale Investitionen erfordert.
Zwar hat sich die Weltgemeinschaft im Rahmen des Pariser Klimaabkommens darauf geeinigt, in die Anpassung und Widerstandsfähigkeit von Ländern zu investieren, die keine Verantwortung für die klimapolitischen Herausforderungen der heutigen Zeit tragen. Dies wurde erst kürzlich von den G7 bestätigt. Doch bisher sind nur wenige der wohlhabenderen Unterzeichnerstaaten ihren finanziellen Verpflichtungen nachgekommen. Der Klimawandel erfordert einen gerechten Umbau des Ernährungssystems, nicht nur Investitionen in humanitäre Hilfe oder Maßnahmen im Rahmen traditioneller Entwicklungsprogramme. Um diese notwendige Transformation zu erreichen, müssen auf dem gesamten afrikanischen Kontinent unternehmerische Chancen und wirtschaftliche Möglichkeiten für ländliche Gemeinschaften innerhalb der Agrar- und Ernährungssektors geschaffen werden. Dies umfasst auch die finanzielle Förderung und Stärkung der marktbasierten Unternehmensentwicklung. Wenn wir diese kühn anmutenden, doch in Wirklichkeit ganz praktischen Ziele verwirklichen können, dann geht es voran.
Ertharin Cousin ist die ehemalige Direktorin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, Distinguished Fellow am Chicago Council on Global Affairs und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Gerrit Hansen leitet das Team Klimawandel im Fördergebiet Globale Fragen bei der Robert Bosch Stiftung.
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