Taiwan ist nicht die Ukraine, aber ein möglicher Krisenherd
Seitdem Mitglieder des US-Repräsentantenhauses im August Taiwan besucht haben, haben die Spannungen zwischen Washington und Peking eine neue Intensität erreicht. Das hat viele dazu verleitet, einen Vergleich zwischen Taiwan und der Ukraine zu ziehen. Evan A. Feigenbaum erklärt, warum das nicht zutrifft, und zeigt auf, wie komplex die Situation Taiwans ist.
Von Evan A. Feigenbaum
Viele Beobachter:innen vergleichen die Ukraine beiläufig mit Taiwan und argumentieren, dass die tragische Gegenwart Europas sehr bald die Zukunft Asiens sein könnte. Manche meinen sogar, Peking werde sich nun am russischen Präsidenten Wladimir Putin orientieren und so handeln, wie er es in Osteuropa getan hat, weil die Welt „abgelenkt“ ist.
Aber Taiwan ist nicht die Ukraine. Zum einen wird Putins Entscheidung, am 24. Februar 2022 in sein Nachbarland einzumarschieren, nicht automatisch die chinesische Entscheidungsfindung beeinflussen. Pekings Entscheidungen, die Taiwan und den Zeitplan für die Ausübung von Druck auf die Insel betreffen, sind davon unabhängig und könnten sich über mehrere Jahre hinziehen. Zum anderen hat sich Moskau sehr stark auf ein einziges Zwangsmittel gestützt – das stumpfe Instrument der militärischen Macht. China hingegen hat jahrzehntelang ein mehrdimensionales Arsenal an verschiedenen Druckmitteln entwickelt, nicht nur militärische, sondern auch wirtschaftliche, finanzielle und informationelle. Um sich dem chinesischen Zwang zu widersetzen und sein eigenes Schicksal mitzubestimmen, muss sich Taiwan daher auf ein viel breiteres Spektrum von Eventualitäten vorbereiten als die Ukraine es getan hat.
Natürlich kann es zu einer Krise kommen, auch wenn Peking seinen eigenen Zeitplan verfolgt. Taiwan ist in der Tat die schlummernde Krise in Ostasien, insbesondere in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und China. Anders als in der Ukraine könnten sich die beiden globalen Großmächte in einem Konflikt um die Zukunft Taiwans direkt bekämpfen. Das liegt daran, dass das gegenseitige Verständnis, die militärischen Faktoren und die zweideutigen diplomatischen Positionen beider Länder, die jahrzehntelang Frieden, Wohlstand und Demokratie in Ostasien ermöglicht haben, momentan rasch ihre Grundlage verlieren.
Politische Erosion der Dreiecksbeziehung Peking-Taipei-Washington
Für diese politische Erosion gibt es drei Gründe, von denen jeder alle drei Aspekte der Dreiecksbeziehung zwischen Peking, Taipei und Washington berührt:
In Peking hat das rasante Wachstum der chinesischen Wirtschafts- und Militärmacht das Verlangen geweckt, Taiwan unter massiven Druck zu setzen und Taiwans Zukunft zu Pekings Gunsten zu regeln. Das könnte durch die von vielen in Taipeh und Washington befürchtete direkte Invasion geschehen – doch es ist ebenso wahrscheinlich, dass auch vielfältigere Instrumente des militärischen, wirtschaftlichen und psychologischen Drucks zum Einsatz kommen, um Taiwan zu zwingen, unter Pekings Bedingungen zu verhandeln.
In Taipeh hat die gefestigte Demokratie, die jetzt von der chinafeindlichen Demokratischen Fortschrittspartei geführt wird, jede Form einer politischen Union mit Peking unmöglich gemacht. Darüber hinaus werden die wirtschaftlichen Beziehungen über die Meerenge zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland hinweg, anders als in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten, von den meisten Menschen in Taiwan nicht als Chance für die eigene Wirtschaft, sondern als Schwachstelle für weitere chinesische Nötigungen angesehen.
In Washington sind insbesondere unter den sicherheitspolitischen Falken viele entschlossen, die Vereinbarungen der politischen Normalisierung mit Peking aus den Jahren 1972 (Nixon-Administration), 1979 (Carter-Administration) und 1982 (Reagan-Administration) neu zu verhandeln. Diese Vereinbarungen waren die drei Schlüsseldokumente, die den bestimmenden Rahmen für die Beziehungen zwischen den USA und China darstellten. In einigen Kreisen der US-Politik besteht auch ein Interesse daran, Taiwan als Partner und Hebel in der strategischen Rivalität zwischen den USA und China zu nutzen.
Warum die aktuellen Entwicklungen destabilisierend wirken
Alle drei Trendlinien laufen gerade in einer Weise zusammen, die destabilisierend ist. Vor allem Peking und Washington reden aneinander vorbei. China seinerseits betrachtet die jüngsten Schritte der USA, die Interaktionen mit Taiwan zu verstärken, als eine Verletzung von Pekings Interpretation der amerikanisch-chinesischen Übereinkünfte. Das ist sicherlich nicht die Sichtweise der USA, die behaupten, dass ihre spezifische Ein-China-Politik seit 1979 immer verschiedene Formen der Interaktion mit Taiwan vorausgesetzt hat. Mit dieser Logik haben viele in den USA die Argumente Chinas beiseite gewischt. In einer wichtigen Rede über die Taiwan-Politik im August 2020 bekräftigte David Stilwell, der damalige stellvertretende Außenminister für ostasiatische und pazifische Angelegenheiten, die Grundzüge der US-Politik, beschuldigte aber zugleich Peking, die einzige Partei zu sein, die den Status quo destabilisiert habe und von früheren Absprachen abrücke.
Nochmals deutlich gesagt: Peking und Washington reden aneinander vorbei, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, an dem Taipeh sich zunehmend Sorgen über den chinesischen Druck macht und seine Interaktion mit China, einschließlich der wirtschaftlichen Beziehungen, als einen großen Schwachpunkt betrachtet. Aus diesen Gründen könnte es in den kommenden Jahren zu einer Krise in oder um Taiwan kommen.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese genau so aussehen wird wie der russische Einmarsch in die Ukraine. Schließlich hat Peking viele unterschiedliche Karten im Spiel. Einfach ausgedrückt: China verfolgt eine vielfältigere und facettenreichere Strategie als Russland in der Ukraine.
China hat eine komplexe Gesamtstrategie
Amerikanische und andere internationale Beobachter:innen sehen Chinas Optionen oft auf das Gegensatzpaar „Frieden“ oder „Krieg“ beschränkt – doch das ist zu einfach gedacht. Peking verfolgt vielmehr eine Gesamtstrategie, die eine breite Palette von Instrumenten des Zwangs und der Überzeugung umfasst. Da aber die Überzeugungsinstrumente an Wirksamkeit verloren haben, hat Peking begonnen, sich stärker auf die Zwangsmittel zu stützen.
Eine Invasion scheint das am wenigsten wahrscheinliche dieser Mittel zu sein. Und selbst in einem Invasionsszenario ist ein Angriff auf die Küsten Taiwans im Stile der D-Day-Invasion unwahrscheinlich, da die chinesische Armee ihre Luftangriffsfähigkeiten verbessert und sich damit ein breiteres Spektrum an militärischen Optionen verschafft hat. Pekings strategisches Hauptziel ist es, das gewünschte Ergebnis zu den geringstmöglichen Kosten zu erreichen. Eine Invasion und Besetzung Taiwans sind das genaue Gegenteil davon, da sie mit unglaublich hohen Kosten verbunden wären.
Pekings Instrumentarium umfasst daher eine Vielzahl von Maßnahmen, die darauf abzielen, dass Taiwan seinen Widerstandswillen aufgibt. Taiwan zu zwingen, wird also nicht unbedingt durch ein „Ereignis“ geschehen – wie in der Ukraine am 24. Februar 2022 –, sondern der Zwang wird in einem Prozess über einen längeren Zeitraum ausgeübt. Zur Anwendung kommen dabei verschiedene Instrumente mit wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen zweiter und dritter Ordnung.
Es wird also nicht die eine Entscheidung geben, eine Invasion zu starten und dann jahrelang einen taiwanesischen Gegenaufstand zu bekämpfen. Stattdessen könnte Peking die Entscheidung treffen, vom „Frieden“ zur „Konfrontation“ überzugehen und dann schrittweise und über Wochen, Monate und sogar Jahre hinweg die Kosten für alle Beteiligten in die Höhe zu treiben. Peking würde die ihm zur Verfügung stehenden Instrumente variabel nutzen und immer wieder anpassen. Es würde verschiedene Elemente der nationalen Macht einsetzen – militärische, wirtschaftliche, diplomatische und informationelle. Und es könnte sogar versuchen, diese Strategie für eine sehr lange Zeit aufrechtzuerhalten.
Taiwan ist also nicht die Ukraine. Aber die Herausforderung, stumpfem Zwang zu widerstehen und dafür zu sorgen, dass Taiwan eine starke Stimme bei der Bestimmung seiner eigenen Zukunft hat, ist noch komplexer.
Evan A. Feigenbaum ist Vizepräsident für Studien beim Carnegie Endowment for International Peace und leitet bei Carnegie den gesamten Asienbereich.
Quarterly Perspectives
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