Die Gefahren von sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung verstehen
Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten von Populismus und Polarisierung zu fördern, muss man die vorhandenen Risse verstehen. Zwei Perspektiven verdeutlichen, wie tief Risse um soziale Ungerechtigkeit sitzen.
Von Henry Alt-Haaker und Mike van Graan
Politische Polarisierung und Populismus sind auf dem Vormarsch und bedrohen den sozialen Zusammenhalt und die Demokratien weltweit. Auch Deutschland ist gegen diese Entwicklungen nicht immun. Auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist der soziale Zusammenhalt noch immer schwer zu erreichen. Die Berliner Mauer mag zwar gefallen sein, aber die Risse – und nicht nur die zwischen Ost- und Westdeutschland - sind nach wie vor offensichtlich. Auf einer Studienreise mit unserer Robert Bosch Academy Fellow-Community nach Berlin und Dresden diskutierten wir über aktuelle gesellschaftliche und politische Herausforderungen und die Gründe für den Aufstieg populistischer Parteien. Wir haben unseren Fellow Mike van Graan und Henry Alt-Haaker, Bereichsleitung in der Robert Bosch Stiftung, gebeten, ihre Überlegungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt nach dem diesjährigen Forum mit uns zu teilen.
Henry Alt-Haaker: Wir müssen den sozialen Zusammenhang in (Ost-) Deutschland stärken, um Frieden und Wohlstand zu sichern.
Der soziale Zusammenhalt ist in vielen Weltregionen in Gefahr. Deutschland ist hier keine Ausnahme. Die Ungleichheit nimmt auch in Deutschland zu und populistische Strömungen nutzen dies aus. Dies zeigt sich besonders im Osten des Landes. Respekt vor der Lebensleistung von Menschen mit multiplen Transformationserfahrungen, Inklusion derer Perspektiven in Strukturen der Macht und Empathie für empfundene und reale Schmerzen sind wichtiger Teil der Lösung.
Deutschland ist eines der friedlichsten (Platz 15, Global Peace Index) und wohlhabendsten (Platz 18, Global Wealth Databook) Länder der Welt. Der soziale Zusammenhalt gilt als hoch und die Ungleichheit im internationalen Vergleich als gering. Dieses Bild ändert sich gerade massiv.
In Deutschland verlaufen die Trennlinien nicht nur zwischen arm und reich, migrantisch oder nicht-migrantisch und Stadt oder Land. Sie verlaufen auch zwischen denen, die noch Zuversicht empfinden, und den Desillusionierten. Besonders deutlich wird dies an der Grenze zwischen Ost und West. Wieso sind dies heute noch relevante Kategorien? Was ist eine 20-Jährige, deren Mutter aus Köln und deren Vater aus Erfurt kommt und die in Berlin-Friedrichshain aufgewachsen ist? Wir haben uns in Dresden genauer umgehört und vier Beobachtungen und Empfehlungen möchte ich hier teilen.
Einer unserer Fellows fasste die Eindrücke in Anlehnung an Bruce McCall zusammen mit der „Nostalgie für die Zukunft, die nie stattgefunden hat“.
1. Wir müssen Menschen die Chance geben, an der Gesellschaft zu partizipieren und einen wertvollen Beitrag zu leisten.
Dies gilt zuerst einmal für die Ostdeutschen, die das Gefühl brauchen, als wertvoller und gewollter Teil der gesamtdeutschen Gesellschaft respektiert zu werden. Das Gegenteil hiervon ist oft passiert, wenn ganze Landstriche z.B. ihrer Identität als hart arbeitender und zum Wohlstand des Landes beitragender Bergarbeiter beraubt werden, weil deren Industrie als „unproduktiv“ oder nicht „auf dem Markt bestehend“ abgeschafft wird.
Darüber hinaus gilt dies aber auch für die vielen Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind, und nun hier leben und ebenfalls eine Chance suchen, als wertvoller Teil der Gesellschaft akzeptiert zu sein.
Letzteres würde nicht zuletzt den Migrationsskeptikern zeigen, welche wertvollen Nachbar:innen sie dazu gewonnen haben. „Political and moral beauty can only be achieved when the joy of dignity is at the centre of our politics.“ schreibt unsere Fella Ece Temelkuran sehr richtig.
2. Repräsentation ist wichtig und nicht nur in Sonntagsreden!
Die strukturelle Unterrepräsentation von Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern muss enden. Ostdeutsche machen 20 % der Bevölkerung aus, stellen jedoch nur 2 % der DAX-Vorstände, 1 % der Hochschulpräsidenten, 0 % der Intendanten des Öffentlichen Rundfunks und haben 30 % weniger Wohlstand. Dies sind harte Fakten und nicht „gefühlte Wahrheiten“.
Darüber hinaus müssen wir aber auch die emotionalen und individuellen Verletzungen ansprechen, die Handeln beeinflussen. Hier fehlen der politischen und gesellschaftlichen Elite die Übung und das Feingefühl – vor allem aber fehlt an entscheidenden Stellen gelebte ostdeutsche Erfahrung und deren spezifische Transformationskompetenz.
3. Es ist Zeit, auch über Positives zu sprechen.
Menschen möchten eine aktive Rolle spielen, sich beteiligen und gebraucht werden. Hierzu gehört, dass man sie fragt, wie sie selbst ihre Situation verbessern möchten, und ihre spezifischen Erfahrungen und Beiträge wertschätzt. Die Resilienz der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern, die sie in den letzten 30 Jahren gezeigt haben, ist in einer zunehmend volatilen Welt ein großer Mehrwert für ein Land.
Wenn man 1989 in einer Kleinstadt in Sachsen wohnte, hat man in den darauffolgenden 30 Jahren sein Land „verloren“ - inklusive sämtlicher Werte und sozialen Normen. In einigen Gegenden Sachsens verloren 80 % der Anwohner in der ersten Hälfte der 90er ihren Arbeitsplatz. Gefolgt wurde dies von dem baldigen Verlust der neuen westdeutschen Währung mit anschließender Eurokrise, der internationalen Finanzkrise und der Flüchtlingssituation um 2015. Dies führte zu einem substanziellen Verlust von Vertrauen in die Demokratie sowie in etablierte politische Parteien und Institutionen (54 % haben kein oder wenig Vertrauen in die deutsche Demokratie, Körber Stiftung). Einige Menschen sind „transformationsmüde“, was eine Lücke für Populismus und leichte und polarisierende Antworten in einer zunehmend komplexen Welt eröffnet.
4. Zuhören und nicht predigen!
Der Satz „Wer redet, sät - und wer hört, erntet.“ gilt besonders auch für gesellschaftliche Diskussionsprozesse. Und wirkliches Zuhören heißt, sich zu öffnen für andere Perspektiven und Denkweisen und seine eigenen Annahmen in Frage zu stellen. Nur wenn wir dies schaffen, können wir gesellschaftlicher Polarisierung entgegenwirken und die lokalen Bedürfnisse der Menschen – mit ihnen! - erfüllen.
So weit so einleuchtend. Allerdings wird dies Zeit brauchen. Vertrauen und Selbstwertgefühl sind deutlich schneller verspielt als wieder aufgebaut. Und die beschriebenen Verhaltensänderungen werden nur glaubwürdig sein, wenn sie nicht als reine Verhinderung eines Wahlerfolgs populistischer Parteien bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg 2024 angesehen werden.
Henry Alt-Haaker leitet den Bereich Strategische Partnerschaften und Robert Bosch Academy der Robert Bosch Stiftung.
Mike van Graan: Strukturelle Ungleichheiten als Auslöser für Spaltung und soziale Konflikte
Die Studienreise der Robert Bosch Academy Fellows in die neuen Bundesländer im Oktober war aus zwei Gründen sehr aufschlussreich. Erstens erfuhren wir, dass sich die Menschen in der ehemaligen DDR auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer immer noch ausgegrenzt fühlen. Zweitens schienen sich alle Politiker:innen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, in ihrer Unterstützung für Israel einig zu sein, das als Reaktion auf den Angriff der Hamas am 7. Oktober den Gazastreifen unerbittlich bombardierte.
Die Ostdeutschen sind über viele Dinge verärgert, unter anderem über den Einkommensunterschied zwischen ihnen und den Bürger:innen im Westen, in den sogenannten „alten Bundesländern“. Aber auch über das Fehlen von Ostdeutschen in Machtpositionen in Unternehmen, darüber, dass nur wenige große Unternehmen in den sogenannten „neuen Bundesländern“ angesiedelt sind, und darüber, dass Ostdeutsche sich umschulen lassen müssen, um ihren westdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gleichgestellt zu sein.
Im Grunde genommen fühlen sich die Ostdeutschen nach Jahren der Teilung und dem Zusammenleben in einem vereinten Land als Opfer von Ungerechtigkeit und Diskriminierung, als minderwertig betrachtet durch das hegemoniale, kulturell und wirtschaftlich mächtigere Westdeutschland.
Würden sie dies auf den israelisch-palästinensischen Konflikt übertragen und hätten sie weniger „historische Verantwortung“ oder nationale Schuld am Holocaust, wären die Ostdeutschen vielleicht weniger geneigt, sich automatisch auf die Seite Israels – der dominierenden Kraft in diesem Konflikt – zu stellen und würden sich stattdessen eher mit dem Groll, der Wut und der Rebellion der Palästinenser identifizieren. Schließlich streben auch die Palästinenser danach, gleich behandelt zu werden – im Vergleich zu ihren jüdischen Mitbürger:innen, die im selben Land leben, aber unendlich mehr Rechte und Freiheiten genießen als sie selbst.
Die Wurzel vieler sozialer Konflikte ist Ungerechtigkeit, ob real oder gefühlt. Als Südafrikaner, der die Apartheid miterlebt hat und dessen Land sich den Beinamen „Regenbogennation“ verdiente, weil es seine strukturell geteilte Vergangenheit, die auf „Rasse“ beruhte, scheinbar überwunden hat, war ich von der Bitterkeit und Verstimmung der Ostdeutschen beeindruckt. Und das in einem Land, das sie mit Menschen teilen, die wie sie aussehen, dieselbe Sprache sprechen wie sie und im Allgemeinen ein ähnliches Glaubens- und Wertesystem haben. Wenn sich die Ostdeutschen so fühlen, wie fühlen sich dann die türkischstämmigen Bürger:innen in Deutschland? Oder neue Einwanderer:innen in Deutschland?
In der südafrikanischen Verfassung sind zwar die gleichen Rechte für alle Bürger verankert, doch die Geschichte der Apartheid bedingt, dass die Menschen nicht alle auf dem gleichen Startlevel beginnen. Wenn es eine Regenbogennation gibt, dann besteht sie aus einer kleinen Minderheit der Bevölkerung, in der einige Schwarze in die ehemals von Weißen dominierten Bildungs-, Unternehmens- und Sozialstrukturen integriert wurden, während die überwältigende Mehrheit der Schwarzen an den Rand gedrängt bleibt und durch schlechte Bildung, Arbeitslosigkeit, zunehmende Armut und eingeschränkte soziale Mobilität von den Versprechen der Verfassung ausgeschlossen ist.
Während der Reise der Fellows wurde in Frankreich die Rugby-Weltmeisterschaft ausgetragen. Südafrika war der amtierende Weltmeister, der die Trophäe vor vier Jahren in Japan gewonnen hatte, und trotz vieler Widrigkeiten schafften sie es in Frankreich erneut! Das Team repräsentiert die Demografie des Landes mit einem beliebten schwarzen Kapitän, und die Feierlichkeiten im Land nach dem Endspiel zeigten, wie sehr der Sieg dazu diente, die Südafrikaner:innen über alle großen sozialen Gräben hinweg zu vereinen.
Solche sportlichen Siege mögen zwar den Eindruck nationaler Einheit und sozialen Zusammenhalts vermitteln – ähnlich wie ein deutscher Fußballsieg in einem großen Turnier die Ost- und Westdeutschen eint –, doch an der Wurzel sozialer Spaltungen und anhaltender sozialer Konflikte liegen tiefe Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten. Diejenigen, die in den Stadien oder auf den Siegesparaden vereint sind, kehren aus der vorübergehenden Euphorie des Sieges in die Realität ihrer sozialen Verhältnisse zurück, die von struktureller Diskriminierung und Ausgrenzung geprägt sind.
Oft sind es diejenigen, die sich diskriminiert fühlen, die sich als Opfer sozialer Ungerechtigkeiten sehen, die sich weniger gegen diejenigen wenden, die die Macht innehaben und möglicherweise für ihre Position verantwortlich sind, als gegen diejenigen, die noch verletzlicher sind als sie selbst, zum Beispiel Migrant:innen und Geflüchtete. Dies gilt für Deutschland mit seiner zunehmenden Fremdenfeindlichkeit ebenso wie für Südafrika mit seiner ausgeprägten Afrophobie – dem Hass auf und/oder der Viktimisierung von Menschen aus Afrika, die nach Südafrika einwandern.
Sozialer Zusammenhalt, sei es auf nationaler oder globaler Ebene, muss durch eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden strukturellen Ungleichheiten, die die Wurzel von Ressentiments, Wut und Rebellion sind, angestrebt werden – und nicht durch Symbolismus und oberflächliche Strategien, die einen bloßen Eindruck von Einheit schaffen.
Mike van Graan ist Kulturaktivist und einer der führenden zeitgenössischen Dramatiker Südafrikas. Er ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Quarterly Perspectives
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