Großbritanniens lange Suche nach einer Rolle in der Weltpolitik
Der Brexit ist ein Fehler, den das Vereinigte Königreich noch bereuen wird. Schon vor 65 Jahren gab sich das Land Illusionen bezüglich seiner Bedeutung auf der Weltbühne hin, als es sich weigerte, zu den Gründungsmitgliedern der EU zu gehören. Nun hat es denselben Fehler wiederholt. Der Brexit ist das leere Versprechen, die Zukunft in Gestalt der Vergangenheit neu zu erschaffen.
Von Philip Stephens
Das Motto heißt wohl „Zurück in die Zukunft“. Vor fast sechs Jahrzehnten, im Jahr 1962, machte Dean Acheson, US-amerikanischer Außenminister unter Präsident Harry S. Truman und einflussreicher Berater späterer Präsidenten, eine scharfzüngige Beobachtung der britischen Schwierigkeiten, eine neue Identität in der Weltpolitik für sich zu definieren: Großbritannien habe ein Empire verloren, aber keine neue Rolle in der Welt gefunden, spottete Acheson damals. Diese Rüge tat London weh, denn sie bezog sich auf die Weigerung des Königreichs, auf der Konferenz von Messina von 1955, zu den Gründungsländern der Europäischen Gemeinschaft zu gehören. Großbritannien ging von der Prämisse aus, dass ihm die Verbindungen innerhalb des Commonwealth und seine enge Anbindung an Washington auch künftig eine herausgehobene Stellung in Weltangelegenheiten sichern würden. Achesons Worte waren deshalb so schmerzhaft, weil der damalige britische Premierminister Harold Macmillan wusste, dass sie die Wahrheit wiedergaben.
Ein Jahrzehnt später unterzeichnete das VereinigteKönigreich die Römischen Verträge. Von da an hielten die Briten die Balance zwischen einer engen Sicherheitspartnerschaft mit Washington und ihrem Engagement für das europäische Projekt. Und heute? Heute hat der Brexit die europäische Säule der britischen Außenpolitik eingerissen. Damit befindet sich das Land, um es mit Acheson auszudrücken, erneut auf der Suche nach einer Rolle in der Welt.
Die Gefahr des Populismus
Das britische Votum, die EU zu verlassen, war in erheblichem Maße Teil eines viel umfassenderen populistischen Aufstandes, der die Eliten in vielen entwickelten Demokratien herausfordert. Sechs Monate nach dem Referendum von 2016 spülte diese Welle Donald Trump ins Weiße Haus. Die Unterstützer des Brexits und Trumps hatten vieles gemeinsam. Viele kamen aus Kleinstädten und ländlichen Gebieten und empfanden sich als Verlierer der Globalisierung und des technologischen Wandels. Sie sahen sich mit Arbeitslosigkeit und stagnierenden Löhnen konfrontiert und waren empfänglich für die Botschaften der Populisten, die der Einwanderung die Schuld dafür gaben. Ihre Probleme lassen sich leicht dem wachsenden Reichtum großstädtischer „Eliten“ gegenüberstellen, die im Großen und Ganzen von digitalen Innovationen und offenen, liberalen Märkten profitiert haben.
Boris Johnson und der frühere britische Justizminister Michael Gove sprachen spezifisch britische Emotionen an, die mit dem Übergang von einer Großmacht zu einer immer noch einflussreichen, aber doch zweitrangigen Nation zu tun hatten. Das Brexit-Referendum ist die jüngste Schlacht in einem langen Kampf um die nationale Identität, der seine Wurzeln im Ausgang des Zweiten Weltkriegs und dem darauffolgenden Verlust des Empire hatte. In diesem Kampf wurde der englische Exzeptionalismus wiederholt mit der Realität des ökonomischen Niedergangs einer Nation konfrontiert, die einen großen Teil des Globus beherrscht hatte und nun dazu gezwungen war, einen neuen Platz in einer Welt zu finden, in der andere Staaten die Führungsrolle übernahmen. Während der Referendumskampagne von 2016 definierten die Brexit-Anhänger die Mitgliedschaft der Briten „in Europa“ als das Eingeständnis einer Niederlage und einen Rückzug. Der Brexit dagegen verspreche eine „Befreiung“ und die Rückkehr zu einer viel einflussreicheren politischen Rolle, zu einem „globalen Großbritannien“. Wie Trumps Slogan „Make America Great Again“ war dies ein Appell an die Nostalgie. Das Versprechen der Brexit-Anhänger, das Schicksal des Vereinigten Königreichs wieder selbst in die Hand zu nehmen, war ein Echo aus vergangenen Tagen, als die Briten ein Kanonenboot losschicken konnten, um ihren Willen durchzusetzen.
Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Wie der französische Diplomat Jean Monnet einst so scharfsinnig bemerkte, war die Weigerung des Vereinigten Königreichs, gemeinsam mit Paris und Bonn einem vereinten Europa beizutreten, „der Preis des Sieges“. Der Zweite Weltkrieg lieferte Frankreich, Deutschland und den anderen Kontinentaleuropäern einen zwingenden Grund, sich der Aussöhnung durch supranationale Kooperation zu verpflichten. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der gemeinsame europäische Markt waren Projekte, die sowohl ein politisches als auch ein wirtschaftliches Ziel verfolgten. Die Briten konnten nicht vergessen, dass ihr Land 1940 völlig allein den Nazis getrotzt hatte, während diese den Kontinent überrannten. Für zu lange Zeit hatten sich Churchill und seine Nachfolger deshalb den anderen europäischen Ländern überlegen gefühlt – Großbritannien als einer der sogenannten „Großen Drei“ auf Augenhöhe mit den USA und der Sowjetunion.
Der Krieg hatte das Vereinigte Königreich in den Bankrott getrieben, ohne jedoch dessen globale Ambitionen zu mindern. Ein kluger Beamter, Henry Tizard, unterstrich diese Gefahr mit vorausschauenden Worten: „Wir sind keine Großmacht und werden es auch nie wieder sein. Wir sind eine große Nation, aber wenn wir uns weiter wie eine Großmacht benehmen, werden wir bald keine große Nation mehr sein.“ Doch die herrschende Klasse hörte nicht zu. Winston Churchill, der gemeinsam mit dem US-Präsidenten Harry Truman und dem sowjetischen Führer Josef Stalin auf der Potsdamer Konferenz über die Zukunft Europas verhandelte, unterstützte die europäische Einheit, solange jeder sich darüber im Klaren war, dass das Vereinigte Königreich weiterhin eine herausgehobene Stellung innehatte.
Das Debakel am Suez-Kanal im Jahr 1956 wurde die letzte Fanfare für das Empire. Der Balanceakt, der daraus in den 1970er Jahren hervorging, funktionierte auf seine Weise: Es entstand parallel zur Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft eine enge bilaterale Beziehung zu den USA, in der London gleichsam danach strebte, das Griechenland an der Seite eines amerikanischen Roms zu sein. Dabei war der Weg auch steinig – nicht zuletzt in den 1980er Jahren, als Premierministerin Margaret Thatcher mit den europäischen Partnern um einen geringeren Beitrag der Briten zum Gemeinschaftsbudget kämpfte. Doch die USA stärkten die Sicherheit des Vereinigten Königreichs, und Europa eröffnete wirtschaftliche Chancen. Der Einfluss in Washington machte die britische Stimme in Brüssel stärker, während der Platz am Tisch in Brüssel den Briten wiederum mehr Gewicht in Washington verlieh. In den 1980er und 1990er Jahren bestimmte Großbritannien weite Teile der europäischen Agenda.
Monnet konnte damals nicht voraussehen, dass die Briten denselben Fehler zweimal machen würden: Nämlich die Europäische Union mehr als 40 Jahre nachdem sie ihr aus Einsicht in die Realität beigetreten waren, wieder zu verlassen.
Der Brexit ist ein leeres Versprechen
Es ist traurig, dass die Regierungen in London keinerlei psychologische Anpassung an die Realität vollzogen haben. Nur selten haben britische Regierungen ihre eigenen Erfolge in Brüssel gefeiert. Deutschland, Frankreich, Italien und andere haben die Vorteile der europäischen Integration für ihre eigenen Nationen erkannt. Die Briten traten dem europäischen Club nur bei, weil sie Angst hatten, zurückgelassen zu werden. Aus der ursprünglichen Unsicherheit der Tory-Partei ist offene Ablehnung geworden, umso mehr seit der proeuropäische Teil der Partei den Fenstersturz Thatchers initiierte. Als das Projekt einer einheitlichen europäischen Währung in Maastricht ins Leben gerufen wurde, sahen viele dieser Euroskeptiker die EU als eine Verschwörung gegen Großbritannien. Diese Tendenz wurde vom Medienmogul Rupert Murdoch und der nationalgesinnten Presse des rechten Flügels noch verstärkt. Als Johnson die Brexit-Anhänger dann in die Schlacht führte, vereinten sich die vorherrschenden Gefühle von Überlegenheit und Unsicherheit zu einem Ruf nach „Befreiung“. Der Brexit mit der Wiederherstellung der nationalen „Souveränität“ war das leere Versprechen, die Zukunft in Gestalt der Vergangenheit neu zu erschaffen.
Johnsons „Global Britain“ ist nichts als eine rhetorische Figur. Der Brexit hat die grundlegenden Interessen Großbritanniens nicht verändert: die Bewahrung einer offenen, sicheren internationalen Ordnung, die auf Rechtsstaatlichkeit fußt und von demokratischen Prinzipien gestützt wird. Die Entscheidung, sich von Brüssel zu lösen, hat weder die geographische Lage des Landes verändert noch seine Geschichte neu geschrieben. Großbritanniens Sicherheitsinteressen sind dieselben wie die Europas. Fast die Hälfte seines Handels betreibt Großbritannien mit der EU. Deshalb spricht der ökonomische Imperativ enger Beziehungen für sich selbst.
Dies sind jedoch Wahrheiten, die die gegenwärtige Regierung nicht anerkennen kann. Johnson hat geschworen, den Brexit „zum Erfolg zu machen“, auch wenn schon jetzt offensichtlich ist, dass die wirtschaftlichen Kosten hoch sein werden. Natürlich verfügt Großbritannien über beachtliche Stärken. Es bleibt die sechst- oder siebtgrößte Wirtschaftsmacht. Es verfügt über ein vergleichsweise starkes Militär sowie ein exzellentes diplomatisches Korps und hervorragende Geheimdienste. Außerdem ist es Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Im Laufe der Zeit wird die Realpolitik einen größeren Raum einnehmen. Wenn die Erinnerungen an den Brexit verblassen, werden zukünftige Regierungen wieder engere Beziehungen zur EU anstreben. Bis dahin wird Großbritannien mit Achesons spöttischer Prophezeiung leben müssen.
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Philip Stephens ist Chefkommentator der Financial Times und Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy. Er ist Autor des im Januar 2021 veröffentlichten Buches „Britain Alone: The Path from Suez to Brexit”.
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