Schleichende Gesundheitskrise: Im Vereinigten Königreich geschieht etwas Ungewöhnliches
von Jennifer Dixon
Im Vereinigten Königreich geschieht etwas Ungewöhnliches mit der Gesundheit der Menschen: In den vergangenen 15 Jahren hat sich der Anstieg der Lebenserwartung für die Gesamtbevölkerung schneller verlangsamt als in den meisten anderen Ländern mit Ausnahme der USA. In einigen Teilen des Vereinigten Königreichs steigt die Lebenserwartung nicht mehr, im Gegenteil – sie nimmt sogar ab.
Darüber hinaus gibt es zwei weitere, im internationalen Vergleich ungewöhnliche Trends. Ein deutlicher Anstieg der Sterblichkeitsrate, insbesondere bei Männern im Haupterwerbsalter von 25 bis 49 Jahren, in Form von Todesfällen durch Drogen, Alkohol, Selbstmord und Gewalt. Und ein deutlicher Anstieg der Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, die angeben, dass sie aufgrund einer chronischen Erkrankung nicht arbeiten; inzwischen sind das 2,7 Millionen Menschen. Ein Großteil dieses Anstiegs ist seit der Pandemie zu verzeichnen, und die Nichterwerbsquote (Menschen im erwerbsfähigen Alter, die nicht auf Arbeitssuche sind) ist nicht wie in den meisten anderen europäischen Ländern rückläufig. Angesichts des Arbeitskräftemangels im Vereinigten Königreich und der Notwendigkeit, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, wird diesem Ausmaß an vermeidbaren Gesundheitsproblemen nun von den Politiker:innen mehr Aufmerksamkeit geschenkt.
Was ist hier los?
Ein genauerer Blick auf diese Trends in England zeigt, dass sich ein Großteil der Todesfälle und Erkrankungen auf sozioökonomisch benachteiligte Gebiete konzentriert, die im Laufe des 20. Jahrhunderts deindustrialisiert wurden, insbesondere im Norden des Landes. Überall auf der Welt gibt es solche „zurückgelassenen“ Orte. Einst blühten sie auf, jetzt verkümmern sie, ausgesaugt von den wirtschaftlichen Kräften, die sie einst erblühen ließen, und geschwächt vom sozialen Wandel, der sie ratlos, vergessen und wütend zurücklässt. Städte, deren Hauptstraßen leer sind, deren Geschäfte zugenagelt sind und in denen es nur wenige Orte gibt, wo sich die Gemeinschaft versammeln kann. Der Rückgang der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften und der Niedergang der Branchen, die sie einst unterstützten, hat zu einem Mangel an kollektivem Identitätsgefühl, Sicherheit, Unterstützung und gegenseitiger Verpflichtung geführt. Das Gefühl des Verlustes dessen, was einmal war, gepaart mit dem Mangel an Möglichkeiten im Vergleich zu anderen Teilen des Land, zwingt einige Bewohner dieser Gegenden zu einer schwierigen Entscheidung: Soll ich weggehen und mir anderswo ein neues Leben aufbauen oder soll ich bleiben und die Folgen akzeptieren, einschließlich größerer Gesundheitsrisiken?
Das anschaulichste Beispiel in England ist der Nordosten. Dieses Gebiet hat sich über weite Strecken des 20. Jahrhunderts deindustrialisiert, wobei vor allem im Bergbau, in den Schiffswerften und in der Stahlindustrie Arbeitsplätze abgebaut wurden. Die Arbeitsplätze sowie die wirtschaftliche Sicherheit und der Lebensstil, die sie mit sich brachten, sind nicht zurückgekehrt, und die Erinnerung an den erbitterten Kampf zwischen der Regierung Thatcher und der National Union of Miners in den Jahren 1984/85 ist immer noch sehr präsent. Obwohl der größte Teil der wirtschaftlichen Schäden in der Region bereits in den 1980er Jahren – also vor vier Jahrzehnten – entstanden ist, sind die Auswirkungen auf Menschen, Orte und die gesellschaftlichen Entwicklungen auch heute noch deutlich sichtbar.
Neben dem schlechten Gesundheitszustand sind viele wirtschaftliche und soziale Indikatoren in der Region, einschließlich Kinderarmut, Bildungsniveau, Produktivität und Nichterwerbsquoten, die schlechtesten in England. Es überrascht nicht, dass dies mit Frustration und Wut auf „das Establishment“ einhergeht: So gab es im Nordosten die meisten Brexit-Stimmen, die Unterstützung für die rechtsgerichtete Partei „Reform UK“ nahm bei den letzten Parlamentswahlen zu, und wie andere benachteiligte und „zurückgebliebene“ Gebiete in England war die Region im Sommer 2024 Schauplatz hässlicher gesellschaftlicher Unruhen.
Trotz allen Problemen: Starkes soziales Gefüge im Nordosten
Doch der Nordosten Englands verfügt auch über ungewöhnlich starke gemeinsame Werte und ein starkes soziales Gefüge. Dazu gehören nach Zahlen des "Office for National Statistics" ein größerer Stolz auf die Region, ein stärkeres Zugehörigkeitsgefühl einschließlich der Verbundenheit unter Nachbarn und ein höheres Maß an informeller Freiwilligenarbeit als fast überall sonst in England. Die Region verfügt über einen gesunden ehrenamtlichen und kommunalen Sektor, eine reiche natürliche Umwelt mit vielen Gebieten von herausragender Schönheit und ein Ökosystem, das einzigartig positioniert ist, um die grüne Energierevolution voranzutreiben, mit reichlich Windenergie und Potenzial für Kohlenstoffabscheidung und Wasserstoffspeicherung.
Doch was können wir tun, um die Region wieder auf Vordermann zu bringen, wenn die wichtigsten gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren auf Rot stehen und die Wirtschaftsleistung des Vereinigten Königreichs in absehbarer Zeit kaum die notwendigen öffentlichen Investitionen zur Verbesserung der Situation hervorbringen wird? Welchen Stellenwert haben die Menschen, die jetzt im Nordosten leben oder bald dort geboren werden, für die politischen Entscheidungsträger:innen angesichts des historischen Beitrags der Region zur britischen Wirtschaft und des derzeitigen Niveaus von Ungleichheit, schlechter Gesundheit und geringem Wohlstand?
Die Saat des Aufschwungs für einige dieser langfristigen Grundkräfte ist hauptsächlich wirtschaftlicher Natur. Insbesondere geht es darum, das Land, das politisch und wirtschaftlich hyperzentralisiert ist, irgendwie wieder ins Gleichgewicht zu bringen, wobei das Gros an Wirtschaftswachstum und Produktivität in London und im Südosten konzentriert sind. Dies wird von Torsten Bell in seinem jüngsten Buch „Great Britain? How we get our future back “ beschrieben. In den letzten zehn Jahren wurde versucht, das Land durch öffentliche und private Investitionen in den Aufbau von beruflichen Kompetenzen, Arbeitsplätze und unterstützende Infrastrukturen auf ein höheres Niveau zu bringen, jeweils durch verschiedene Versionen von Industriestrategien. Neue Arbeitsplätze im Bereich der grünen Energie können helfen. Der Nordosten beispielsweise verfügt über reichlich Wind für erneuerbare Energien. Aber ohne eine gute Planung des Übergangs, eine stabile langfristige Politik und echte Partnerschaften zur Entwicklung von Qualifikationen und Möglichkeiten für lokale Communities werden diese Arbeitsplätze wahrscheinlich nur einen Bruchteil des lokalen Arbeitskräftepools absorbieren. Außen vor bleiben die Menschen ohne formale Qualifikationen oder Kompetenzen, die folglich der größten wirtschaftlichen Unsicherheit ausgesetzt sind.
Kulturelle Entfremdung und wachsende wirtschaftliche Kluft
Andere sehen die wachsende kulturelle Entfremdung in Gebieten wie dem Nordosten als größere Herausforderung - eine Entfremdung, die lokale Identitäten untergräbt und Ressentiments und aggressive Gegenreaktionen schürt. Wir haben es hier mit dem Kohorteneffekt der sich ändernden gesellschaftlichen Einstellungen zu tun, insbesondere der nachfolgenden Generationen zu „postmaterialistischen“ progressiven Themen wie Identität, Geschlecht, Sexualität, Vielfalt und Einwanderung – hervorragend beschrieben und dargestellt in „Cultural Backlash“ von Pippa Norris und Ron Igelhart. Wie sie und viele andere beobachtet haben, fühlen sich ältere, traditionelle Wähler eher entfremdet und wenden sich zunehmend den Populisten zu, die für sie eintreten und so etwas wie eine vertraute Vergangenheit wiederherstellen sollen.
Ein weiterer langfristiger Trend, der damit zusammenhängt, ist die wachsende Kluft bei den wirtschaftlichen und sonstigen Lebensaussichten, die sich zwischen Menschen mit und ohne Hochschulbildung auftut. Dabei handelt es sich nicht nur um eine zunehmende wirtschaftliche Kluft, die sich in der Auseinanderentwicklung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse dieser Gruppen in den letzten 30 Jahren zeigt, sondern auch um eine Kluft, die sich darin äußert, dass der Wert und die Würde derjenigen, die über keine formalen akademischen Qualifikationen verfügen, immer stärker in Frage gestellt werden, wie Michael Sandel in seinem Buch „The Tyranny of Merit“ untersucht hat.
Der erste Ansatzpunkt, nämlich das Wachstum der lokalen Wirtschaft – wie schwierig es auch zu bewerkstelligen sein mag –, bietet wahrscheinlich den besten Hebel. Eine intelligente Industriestrategie mit öffentlichen Investitionen, die private Investor:innen anziehen, würde dabei zweifellos helfen. Investitionen in Gebiete, die bereits über eine bedeutende Infrastruktur und andere lokale Vorteile verfügen, wären ein kluger erster Schritt. Angesichts der begrenzten Mittel wird es wichtig sein, die „Marmelade nicht zu dünn zu verteilen“ und so die Chancen auf schnelle Fortschritte zu erhöhen. Investitionen in Qualifikationen, Infrastruktur und Arbeitsplätze werden für jede Strategie von zentraler Bedeutung sein, ebenso wie die Stabilität der Politikgestaltung über einen längeren Zeitraum als zwei bis drei Jahre. Kurzsichtigkeit, abrupte Politikwechsel und Kehrtwenden, zusammen mit einer Verweildauer von Kabinettsminister:innen im Amt von nur etwa zwei Jahren, sind jedoch leider sehr charakteristische Merkmale der britischen Politik.
Mehr Macht für die Regionen als politische Strategie
Damit verbunden ist die Absicht der Politik, mehr politische Macht von London auf die englischen Regionen zu verlagern. Die derzeitige Regierung hat sich dazu verpflichtet, und noch vor Weihnachten soll ein „Weißbuch“ (Vorläufer einer Gesetzesvorlage für das Parlament) vorgelegt werden, in dem dies erläutert wird. Mit mehr Befugnissen sollen die Regionen in die Lage versetzt werden, bessere Entscheidungen für die lokalen Communities zu treffen, da diese den Kontext besser kennen als die Beamt:innen in Westminster. Diese Verlagerung von Macht scheint der richtige Weg zu sein, sofern sie von Investitionen begleitet wird, auch wenn regionale Befugnisse allein, wie sie bereits für Schottland, Wales und Nordirland gelten, kein Allheilmittel für Verbesserungen sind.
Wirtschaftswachstum und Entwicklung werden Zeit brauchen, um Wirkung zu zeigen. In der Zwischenzeit stellt sich die Frage, wie der kulturellen Entfremdung begegnet werden kann, die im vornehmen, zentristischen Politikbetrieb kaum Berücksichtigung findet, dafür aber in zunehmendem Maße von populistischen Parteien vereinnahmt wird, die in abschätziger, abwertender und übergriffiger Sprache zu schwelgen scheinen, um Wähler anzusprechen. Die Frage, wie man dieser Entwicklung entgegenwirken kann, ist ebenso groß wie die nach der Abhilfe für das schwache Wirtschaftswachstum. Und bisher gibt es in der politischen Debatte nur wenige Antworten.
Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist ein geeigneter Gradmesser für das Wohlergehen einer Gesellschaft. Nimmt man ihn als Ausgangspunkt, liegt im Vereinigten Königreich noch ein langer Weg vor uns. Es wird viel Intelligenz und Engagement erfordern, um Fortschritte zu erzielen. Ich hoffe, wir sind der Herausforderung gewachsen.
Dr. Jennifer Dixon ist die Geschäftsführerin der Health Foundation.
Quarterly Perspectives
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