Neu nachdenken über den Wert der Kultur und die Kultur der Werte
Das Fehlen kultureller Strategien kann die sozialen und internationalen Beziehungen schwächen. Der folgende Essay wirft einen Blick auf die Kultur und ihre Auswirkungen auf Ungleichheiten, Menschenrechte und Entwicklung.
Von Mike van Graan
Zwei der wichtigsten Bruchlinien in der heutigen Welt sind Ungleichheit und Kultur. Mehrere aktuelle Ereignisse veranschaulichen dies in sehr plastischer Weise. Im November einigte sich die UN-Klimakonferenz in Sharm el Sheikh (COP27) auf einen Ausgleichsfonds, der die ärmeren Länder für die negativen Auswirkungen des Klimawandels entschädigen soll. Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass der Klimawandel weitgehend das Ergebnis der Industrialisierung ist, die einige wenige Länder reich gemacht hat. In der Zwischenzeit sind viele weniger wohlhabende Länder stärker von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen, für die sie weit weniger verantwortlich sind als reichere Länder. Gleichzeitig haben ärmere Staaten weniger Mittel, diese negativen Folgen abzumildern. Wirtschaftliche Ungleichheiten, die in der Geschichte verwurzelt sind, werden so durch die existenziellen Krisen des Klimawandels noch deutlicher und dringlicher.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine spiegelt auch die Straffreiheit wider, mit der Länder mit militärischer Überlegenheit in ihrem eigenen Interesse handeln. Die russische Aggression ist sehr wohl vergleichbar mit der illegalen Invasion des Irak im Jahr 2003, als US-amerikanische, britische und andere verbündete Streitkräfte gegen die UN-Charta verstießen.
Die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel und Russlands Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen machen die Gefahren der militärischen Ungleichheit deutlich. Nur wenige Länder sind in der Lage, die Menschheit mit ihren Atomwaffenarsenalen auszulöschen, lange bevor der Klimawandel dies tut.
Der UN-Sicherheitsrat
Fünf Länder haben im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Vetorecht, das ihnen die Möglichkeit gibt, alle Sicherheitsratsresolutionen zu verhindern, die ihren Interessen zuwiderlaufen. Gegen mehr als 300 Resolutionen wurde im UN-Sicherheitsrat ein Veto eingelegt: Mehr als 120 Vetos kamen von Russland, mehr als 80 von den USA. Zusammen entspricht das fast zwei Drittel aller Vetos. Mit anderen Worten: Politische Ungleichheit ist in einer multilateralen Organisation verankert, in diesem Fall den Vereinten Nationen. Einer Organisation, die geschaffen wurde, um den Frieden zu fördern und die internationale Ordnung zu erhalten. Dennoch erlaubt die UN fünf Ländern nicht nur, diese Ordnung zu untergraben und Kriege anzufangen – sie ermöglicht es ihnen sogar.
Während die oben genannten Beispiele die globalen wirtschaftlichen, politischen und militärischen strukturellen Ungleichheiten widerspiegeln, verdeutlicht die FIFA-Fußballweltmeisterschaft in Katar etwas anderes: die Ungleichheiten hinsichtlich der kulturellen Macht und damit die zweite große Verwerfungslinie, nämlich die Kultur selbst. Westliche Medien mit ihrer globalen Reichweite betonen die Menschenrechtsdefizite Katars in Bezug auf Frauen und die LGBTQI+-Community. Dabei treffen vermeintlich „universelle“ Konzepte auf die Überzeugungen, Werte und kulturellen Praktiken eines mehrheitlich muslimischen Landes und stellen diese in Frage.
Europäische Länder haben auch, und das zu Recht, den Tod von Wanderarbeitern in Katar lautstark verurteilt. In einem Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2022 heißt es jedoch, dass bei dem Versuch, das Mittelmeer oder den Atlantik zu überqueren, um nach Europa zu gelangen, über 3.000 Menschen gestorben oder verschwunden sind. Das waren mehr als die 1.776 Menschen, die im Jahr zuvor ums Leben gekommen waren. Viele Arbeitsmigranten landeten in Katar, weil die Freizügigkeit dieser Arbeitnehmer aus dem globalen Süden nach Europa stark eingeschränkt ist. Von denjenigen, die das Land erreichen, sind viele einer harten Behandlung ausgesetzt, die gegen die Menschenrechte verstößt.
Rechte für die Minderheit
Obwohl die Sklaverei verboten ist, lebt ihr Erbe weiter. Die Länder, deren Wirtschaft auf billigen schwarzen Arbeitskräften aufbaute, die aus Afrika entführt worden waren, suchen sich nun die Afrikaner:innen aus, die sie am dringendsten brauchen – Krankenpfleger:innen und Ärzt:innen zum Beispiel. Währenddessen unterliegt die große Mehrheit, die ihre Arbeitskraft freiwillig auf dem internationalen Markt verkaufen möchte, Visabestimmungen, die ihre Würde, Freiheit und Menschenrechte untergraben.
Die Mobilität, das heißt die Frage, wer relativ frei durch die Welt reisen kann, ist stark reglementiert, wobei die Bürger:innen der reichen und mehrheitlich weißen Länder in zahlreiche Länder ohne Visum reisen können. Zwei Drittel der Weltbevölkerung, meist Menschen mit dunkler Hautfarbe, müssen jedoch Visa beantragen, was historische Ungerechtigkeiten widerspiegelt, die heutzutage in strukturelle Ungleichheiten eingebettet sind.
Die europäischen Länder haben das patriarchalische Katar für die Unterdrückung der Frauenrechte kritisiert und die Verweigerung von LGBTQI+-Rechten, die als Menschenrechte im Sinne der europäischen Werte verstanden werden, offen angesprochen. Doch auch kulturelle Rechte – das Recht, die Kultur seiner Wahl zu praktizieren, Überzeugungen und Werte zu haben, die mit dem eigenen Gewissen übereinstimmen, und die eigene Sprache zu sprechen – sind Menschenrechte, wie das Mandat des UN-Sonderberichterstatters für kulturelle Rechte bekräftigt. Damit soll nicht die Unterdrückung von Frauen oder Homosexuellen im Namen der „Kultur“ gerechtfertigt werden, sondern es geht vielmehr darum, die kulturellen Rechte den Menschenrechten gegenüberzustellen. Kulturelle Rechte erfordern dann mehr Hinterfragung und respektvolle Auseinandersetzung, anstatt einfach durch eine kulturelle Brille zu urteilen.
Die Ungereimtheiten und die Heuchelei bei der Anwendung „europäischer Werte“ und der Menschenrechte lassen sich auch an der weitgehend unkritischen Teilnahme europäischer Delegationen an der COP27-Klimakonferenz in Ägypten ablesen. Dieses Land respektiert die Rechte von LGTBQI+ kaum. Ägypten ist in der Tat eine Autokratie, die ihren eigenen Bürgern sogar grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung verweigert und nach Angaben des Fund for Peace eine schlechtere Menschenrechts- und Rechtsstaatlichkeitsbilanz aufweist als Nordkorea, China, Syrien, Iran und Jemen.
Die kulturelle Dimension der Menschenrechte, der Entwicklung, der demokratischen Praxis, der Konflikte, der internationalen Beziehungen und vieler anderer Aspekte des menschlichen Daseins wird stark unterschätzt. Die kulturelle Dimension wird nur unzureichend hinterfragt, was dazu führt, dass gesellschaftliche Strategien und internationale Beziehungen oft an Wirkung einbüßen, weil es keine Analysen gibt, die die Kultur berücksichtigen.
Rechte, die nur für Wenige gelten
In der Welt herrscht strukturelle Ungleichheit und damit ist die Welt ungerecht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist nicht universell, sondern eher ein hehres Dokument, dessen erklärte Rechte und Freiheiten einigen wenigen vorbehalten sind.
Die Brundtland-Kommission, ehemals Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, definierte 1987 nachhaltige Entwicklung als „einen Prozess, der die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“. Dies führte dazu, dass die Umweltdimensionen der Entwicklung in ein Verständnis von nachhaltiger Entwicklung integriert wurden.
Vor dem Hintergrund der Millenniums-Entwicklungsziele und der bevorstehenden Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) setzten sich globale Kultureinrichtungen und -netzwerke dafür ein, dass die Kultur als vierte Säule der nachhaltigen Entwicklung anerkannt wird – neben Wirtschaftswachstum, sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz. Die Kampagne stieß auf taube Ohren, obwohl beispielsweise das SDG-Ziel 5 für die Gleichstellung der Geschlechter eintritt. Diese Gleichstellung kann nicht verwirklicht werden, ohne sich mit den tief verwurzelten patriarchalischen Kulturen in zahlreichen Ländern der Welt zu befassen.
Auch das SDG-Ziel 12, das auf einen verantwortungsvollen Konsum und eine verantwortungsvolle Produktion abzielt, erfordert einen grundlegenden Wertewandel in den wohlhabenden Ländern. Diese Länder leben zum einen vom materiellen Konsum und zum anderen von einer kostengünstigen Produktion zur Maximierung der Aktionärsgewinne – auf Kosten der Umwelt oder der Menschenrechte. In einer globalisierten Wirtschaft wurde die Sklaverei modernisiert: Die Produktion wird in ärmere, oft weit entfernte Länder ausgelagert, deren Arbeitnehmer:innen nur minimalen Schutz genießen, die aber hochwertige Waren zu billigeren Preisen herstellen. Das kurbelt die Wirtschaft der reicheren Länder an und unterstützt den Lebensstil ihrer Bürgerinnern und Bürger.
Die kulturelle Dimension der Entwicklung
In der postkolonialen Welt wurde die kulturelle Dimension der Entwicklung von der UNESCO in ihrer Weltdekade für kulturelle Entwicklung (1988-1997) bekräftigt. Sie erkannte die Grenzen einer primär materiell definierten Entwicklung an, wenn die Werte, Überzeugungen, Traditionen und sozialen Strukturen der vermeintlichen Nutznießer dieser Entwicklung oft gegen gut gemeinte, aber fremde, aus dem Ausland kommende Praktiken der Entwicklungsarbeit sprechen. Befürworter der kulturellen Dimension der Entwicklung schlugen vor, dass Entwicklungsstrategien im Kontext der Kulturen der vermeintlichen Nutznießer:innen dieser Entwicklungsstrategien verstanden, geplant, entworfen und ausgeführt werden müssen. Entwicklung selbst wird je nach Kontext unterschiedlich definiert und praktiziert und ist von lokalen Werten, Überzeugungen und der Geschichte geprägt. Wird die Dialektik zwischen Entwicklung und Kultur ignoriert, sind die SDGs gefährdet.
Die Aussage des FIFA-Präsidenten Gianni Infantino, Europa müsse sich für die nächsten 3000 Jahre für seine Missstände entschuldigen, bevor es in der Lage sei, Katar moralische Belehrungen zu erteilen, mag zwar von einigen als eigennützig angesehen werden, würde aber bei Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt Anklang finden. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass europäische Demokratie, Menschenrechte, Entwicklung und Freiheit weitgehend den Europäerinnen und Europäern und ihren Partner:innen im globalen Norden vorbehalten sind. Der Rest der Welt und seine Bürgerinnen und Bürger sind im schlimmsten Fall entbehrlich und im besten Fall nützliche Rädchen in der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Maschinerie, die den europäischen Lebensstil aufrechterhält und sichert – für die Menschen in Europa.
Eine Perspektive des globalen Südens
Während Europa Menschenrechte, Freiheit und Demokratie als europäische Grundwerte sieht, sind sich viele im globalen Süden darüber im Klaren, dass diese „Werte“ den wirtschaftlichen, geopolitischen und sicherheitspolitischen Interessen Europas und seiner Verbündeten im Globalen Norden untergeordnet sind – zumindest was die Bürger:innen des Globalen Südens betrifft.
Aufgrund dieser historischen und aktuellen Erfahrungen zögern viele Länder des Globalen Südens, westliche Kritik an Menschenrechtsverletzungen und kulturellen Paradigmen, die nicht mit der westlichen Hegemonie vereinbar sind, zu akzeptieren, z. B. an China und Russland.
Mit dem neuen Entschädigungsfonds hat die COP27 versucht, die Ungleichheit im Zusammenhang mit dem Klimawandel anzugehen. Um den Klimawandel und weitere große Herausforderungen, denen die Menschheit gegenübersteht, wirklich bewältigen zu können, ist es jedoch ebenso wichtig, sich mit den kulturellen Verwerfungen zu beschäftigen.
Mike van Graan ist Kulturaktivist und einer der führenden zeitgenössischen Dramatiker Südafrikas. Er ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
Quarterly Perspectives
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