Was Deutschland von dem schrecklichen Fehler Großbritanniens lernen kann

September 2024

Das Vereinigte Königreich hat sein Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit zu seinem eigenen Schaden abgeschafft

von Mark Lowcock

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung_Svenja Schulze

In keinem anderen Vierteljahrhundert der Geschichte hat sich das Leben für so viele Menschen so sehr verbessert wie in den vergangenen 25 Jahren. Die Lebenserwartung ist weltweit gestiegen, und weniger Menschen als je zuvor leben unterhalb der von der Weltbank definierten Armutsgrenze. Ermöglicht wurde dieser Wandel durch die weite Verbreitung wissenschaftlicher und technologischer Innovationen, die globale Marktwirtschaft und verbesserte Standards der Regierungsführung in vielen Staaten dieser Welt. Auch die internationale Zusammenarbeit, insbesondere durch die Arbeit globaler Entwicklungsorganisationen, hat dabei eine wichtige Rolle gespielt.

Doch jetzt bedrohen eine Reihe von Krisen und eine zunehmende Polarisierung weltweit die Finanzierung der internationalen Entwicklung. Im Jahr 2020 fügte die britische Regierung von Boris Johnson ihrer langen Liste von mutwilligem politischen Vandalismus die Abschaffung des Ministeriums für internationale Entwicklung (DFID) hinzu, für das ich zuvor als Staatssekretär tätig war. Auch Deutschland ist mit etwas Ähnlichem konfrontiert: der dramatischen Verkleinerung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) infolge von Haushaltskürzungen. Ich möchte hier die Bedeutung eines Ministeriums erläutern, das die Entwicklungszusammenarbeit überwacht, und die Lehren, die Deutschland aus der Abschaffung des DFID ziehen kann.

Die Zusammenlegung des DFID mit dem Foreign Office, dem britischen Auswärtigen Amt, wurde von allen führenden politischen Parteien Großbritanniens, einschließlich der drei noch lebenden früheren konservativen Premierminister des Vereinigten Königreichs, sowie in der ganzen Welt heftig kritisiert. Chinesische Beamte fragten, warum die bisher berechenbaren und rationalen Briten einen solchen Akt der Selbstbeschädigung begangen hätten. Als Johnson 2022 aus dem Amt geworfen wurde, machte man sich daran, aus den Trümmern erneut einen respektablen britischen Beitrag zur globalen Entwicklung aufzubauen. Jetzt gibt die neue Labour-Regierung eine unabhängige Untersuchung in Auftrag, um herauszufinden, wie man diesen Beitrag wieder leisten kann.

In unserem neuen Buch The Rise and Fall of the Department for International Development (Aufstieg und Fall des Ministeriums für internationale Entwicklung)[1] haben Ranil Dissanayake, derzeit Senior Fellow am Centre for Global Development, und ich die Geschichte des DFID untersucht. Denn aus den britischen Erfahrungen können andere lernen, wie sie den Herausforderungen der modernen Welt besser begegnen.

Die Erfolge des britischen Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit

Das DFID wurde 1997 gegründet, am ersten Tag der ersten Labour-Regierung von Tony Blair. Von Anfang an war die neue Ministerin Clare Short fest entschlossen, die internationale Entwicklung nicht nur im Allgemeinen oder im Großen und Ganzen zu unterstützen. Sie hatte einen engeren, schärferen und präziseren Fokus. Short wollte die im Jahr zuvor in der OECD getroffene Vereinbarung umsetzen, sich auf die Unterstützung der Ärmsten zu konzentrieren: Halbierung der extremen Armut, Einschulung aller Kinder, Senkung der Kinder- und Müttersterblichkeit. Gemeinsam mit ihren internationalen Kolleg:innen, darunter die langjährige und weithin angesehene deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, setzte sie sich dafür ein, dass dieser Ansatz weltweit übernommen wurde. Im Jahr 2000 war es so weit, als sich die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen auf die Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs) einigten.

Short und ihre Nachfolger konzentrierten die vom DFID verwalteten Gelder, die von zwei Milliarden Pfund (0,25 % des britischen Nationaleinkommens) im Jahr 1997 auf mehr als zwölf Milliarden Pfund im Jahr 2019 anstiegen (als Großbritannien das UN-Ziel von 0,7 % des Nationaleinkommens für Entwicklungsleistungen erfüllte), auf die Länder, in denen die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, am höchsten war. Das sind nicht alle Entwicklungsländer. Das Ministerium fokussierte seine Bemühungen auf Afrika und Südasien, wo die größte Armut herrschte.

In den folgenden 25 Jahren stiegen die Einkommen in diesen Ländern, die Armutsquote sank, die Kinder- und Müttersterblichkeit ging zurück, die Grundbildung wurde massiv ausgebaut, und mehr Menschen erhielten Zugang zu sauberem Wasser und angemessenen sanitären Einrichtungen. Vor allem aber lebten die Menschen viel länger: In Malawi, wo ich Mitte der 1990er Jahre arbeitete, lag die Lebenserwartung bei nur 43 Jahren; bis 2020 war sie auf 63 Jahre gestiegen. In den Jahren 1997 bis 2020 wurden dramatische Fortschritte bei der Verringerung der weltweiten Armut erzielt.

Der Ansatz des DFID bestand darin, sich entschlossen auf die Ursachen der Armut zu konzentrieren und diese durch entsprechende Maßnahmen zu bekämpfen. Die Hauptursache für die Kindersterblichkeit waren zum Beispiel Krankheiten, die durch Impfungen verhindert werden konnten. Dementsprechend wurde das britische Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit zum größten internationalen Finanzier von Impfprogrammen. Als man feststellte, dass Kinder vor allem deshalb nicht zur Schule gingen, weil ihre Eltern sich die Schulgebühren nicht leisten konnten, half das DFID den Regierungen bei der Abschaffung der Schulgebühren.

Die Lehren

Die erste Lehre betrifft die Bedeutung einer klaren, glaubwürdigen und ehrgeizigen langfristigen Vision. Die Millenniums-Entwicklungsziele – Erhöhung der Einkommen, Verringerung der Kindersterblichkeit, mehr Kinder in die Schule bringen – waren leicht zu vermitteln und für viele Menschen attraktiv.

Zweitens war der Aufbau einer Organisation, die sich über einen längeren Zeitraum ausschließlich der Verwirklichung der MDGs widmet, von entscheidender Bedeutung. Das DFID profitierte enorm davon, dass es in den ersten 20 Jahren Minister:innen hatte, sowohl von der Labour-Partei als auch von den Konservativen, die die Konzentration der Bemühungen auf die extreme Armut unterstützten. Über diesen Zeitraum arbeiteten Tausende von Expert:innen aus der ganzen Welt für das Ministerium, meist in ihren Büros vor Ort in den Entwicklungsländern, und alle waren durch das Mantra der Armutsbekämpfung motiviert.

Genauso wichtig waren die Schaffung, die ständige Aktualisierung und die Anpassung von Systemen und Prozessen sowie eine Arbeitsweise, die das Erreichen der Ziele des Ministeriums unterstützte. Fundiertes Fachwissen, evidenzbasiertes Handeln, Analysen und Kenntnisse wurden geschätzt und es wurde in sie investiert. Mit guten Systemen - der Projektbeurteilung, Überwachung, Risikomanagement, Überprüfung und Wirkungsmessung – wurde sichergestellt, dass das Geld sinnvoll für die Erreichung der Ziele ausgegeben wurde.

Drittens hätten eine glaubwürdige, ansprechende Vision und eine fähige Organisation ohne großzügige Mittelausstattung wenig erreichen können. Ein kontinuierlich wachsendes und nach der Anfangsphase über mehr als 20 Jahre hinweg beträchtliches Budget war sowohl für den direkten Beitrag des DFID zur Armutsbekämpfung als auch für seinen internationalen Einfluss unerlässlich.

Eine vierte Lektion lässt sich aus den Partnerschaften ableiten. Das Ministerium verstand, dass es seine Ziele nur durch die Zusammenarbeit mit anderen Instanzen innerhalb der Regierung, mit weiteren Gebern und mit Entscheidungsträgern in den Entwicklungsländern erreichen konnte. Es investierte in internationale Partnerschaften mit anderen Geldgebern, einflussreichen Stiftungen, multilateralen Gremien, führenden Persönlichkeiten in Entwicklungsländern und Meinungsbildner:innen.

Die internationale Entwicklungshilfe ernst nehmen

Es gibt eine fünfte und entscheidende Lektion, die letztlich alle anderen überlagert. Eine eigene Institution für internationale Entwicklung ist nur dann sinnvoll, wenn man überzeugt ist, dass internationale Entwicklung ein wertvolles Ziel sei. Johnsons Regierung glaubte nicht daran, weshalb sie das DFID abschaffte. Sie gab den Konsens auf, dass die Unterstützung ärmerer Länder nicht nur eine moralische Verpflichtung ist, sondern auch eine Welt schafft, von der auch alle anderen profitieren: eine reichere, gerechtere und sicherere Welt für alle. Wenn Großbritannien unter der Johnson-Regierung überhaupt ein Programm für Entwicklungszusammenarbeit aufrechterhalten wollte, dann vor allem, um andere, kurzfristige nationale Interessen – politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische – zu unterstützen. Großbritannien hatte diesen Ansatz bereits in den 1980er und 1990er Jahren ausprobiert. Er führte zu einer Reihe von Skandalen, oft im Zusammenhang mit Waffenverkäufen, die sowohl die diplomatischen als auch die entwicklungspolitischen Ziele untergruben.

Es ist immer noch so, dass diejenigen, die für den größten Teil der offiziellen Entwicklungshilfe der Welt verantwortlich sind (die USA, Japan, die EU, Frankreich und Deutschland, die zusammen 70 Prozent der Gesamtsumme aufbringen), getrennte Institutionen für ihre diplomatischen Ziele und ihre Entwicklungsziele haben. Sie sind sich bewusst, dass beide Bereiche, Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit, Hand in Hand arbeiten können, dass aber jeder Bereich für sich genommen wichtig ist. Sie wissen, dass für einen erstklassigen diplomatischen Dienst andere Fähigkeiten, Verfahren, Haltungen und Konzepte erforderlich sind als für ein gutes Entwicklungsprogramm. In der Diplomatie geht es um Beziehungen, sprachliche Nuancen, Kompromisse und das Finden einer gemeinsamen Basis. Diplomatie ist oft zwangsläufig kurzfristig und reaktiv. In der Entwicklungspolitik geht es um langfristige Ziele, Geld, Evidenz, Analysen und systematisches Arbeiten zur Erzielung von Ergebnissen über einen Zeitraum von Jahren.

Es ist klar, dass einige einflussreiche Personen in Deutschland den Fehler Großbritanniens erkannt haben. Svenja Schulze, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sagt, dass ein eigenes Ministerium notwendig sei: „Wir haben das in Großbritannien gesehen. Als sie ihr eigenes Ministerium abgeschafft haben, waren sie auf der internationalen Bühne nicht mehr präsent“, sagte sie. Schulze ist sich auch der besonderen Fähigkeiten und des besonderen Ansatzes bewusst, die für die Entwicklung erforderlich sind: „Dazu braucht man kompetente Leute, und man muss auch Präsenz zeigen. All diese Aufgaben können nicht einfach in einem Wirtschaftsministerium, einem Außenministerium oder einem Finanzministerium untergebracht werden.“

Oft lernen wir im Leben mehr aus Fehlern als aus Erfolgen. Das Vereinigte Königreich versucht nun, seine eigenen Fehler zu beheben; andere können profitieren, indem sie solche Fehler nicht wiederholen.


[1] https://www.amazon.co.uk/Rise-Fall-Department-International-Development/dp/1944691138

Das könnte Sie auch interessieren

Die schwerwiegenden Konsequenzen „pragmatischer“ Energieinteressen

Der Westen hat lange Zeit die Mitverantwortung für die Konsequenzen seiner interessengeleiteten und „pragmatischer“ Politik ignoriert. Die heutige dringende Notwendigkeit, sich mit drastischen Mitteln der Hard-Power-Politik von...

Weiterlesen

Polens Regierungspartei beschädigt sich selbst

Der polnische Soziologe und politische Kommentator Sławomir Sierakowski verbringt seit März 2018 einen Aufenthalt als Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy. Knapp sechseinhalb Zugstunden von Warschau entfernt, beschäftigt er sich...

Weiterlesen

Über das Leben und Blackness in Berlin

Von Berlin wird gesagt, dass die Stadt international, kosmopolitisch, vielfältig ist. Aber wer hat ein Recht auf die Stadt? Ein Meinungsbeitrag von Akwugo Emejulu.

Weiterlesen