Der Konfuzianische Staat: Die ideale Regierungsform für China?
Der Westen hat eine falsche Wahrnehmung Chinas, weil er das Wesen des Konfuzianischen Staates nicht versteht. Die Chinesen greifen stark auf diese traditionellen asiatischen Normen zurück. Peking könnte seinen historischen Wandel vollenden, indem es vollständig mit dem Marxismus bricht und den Konfuzianischen Staat als seinen Idealtypus anerkennt.
von Yao Yang
Seit sich das Coronavirus zu einer weltweiten Pandemie entwickelt hat, ist das politische System Chinas zu einem heißdiskutierten Thema in den Zeitungen und sozialen Medien der westlichen Welt geworden. Dass die chinesische Regierung zunächst nur langsam auf das Auftreten des Virus in Wuhan reagierte, wird in den westlichen Ländern als Indiz für die Bemühungen eines autoritären Regimes angeführt, schlechte Nachrichten zu unterdrücken. Die anschließenden strikten Quarantänemaßnahmen werden als Beweis für die Grausamkeit eines solchen Systems interpretiert. Als Einwohner Pekings habe ich Erfahrungen aus erster Hand mit diesen strengen Quarantäneregeln gemacht.
Doch in diesem Artikel möchte ich nicht über ihre Vor- und Nachteile berichten. Erst wenn die Pandemie vorbei ist, können wir diese Maßnahmen abschließend beurteilen. Stattdessen möchte ich einen Schritt zurücktreten und eine Interpretation des politischen Systems Chinas anbieten: Ich vergleiche es mit dem Konfuzianischen Staat als Idealtypus einer Regierungsform, die auf den Lehren des Konfuzius beruht. Diese Lehren sind trotz ihrer Unterschiede zu liberalen Ideen nicht nur mit Chinas langen Traditionen, sondern auch mit psychologischen Neigungen gewöhnlicher Chinesen vereinbar. Ich glaube, dass dieser Vergleich dem Westen dabei helfen wird, das politische System Chinas besser einschätzen zu können. Ich möchte sogar noch einen mutigen Schritt weitergehen: Ich hoffe auch, dass meine Überlegungen den Westen in Lage versetzen, die Stärken und Schwächen der freiheitlichen Demokratie besser zu verstehen.
Die Konfuzianische Welt
Demokratische Staaten überall in der Welt sind auf einer idealtypischen Regierungsform, der „liberalen Demokratie“, aufgebaut. Die Wurzeln dieser Regierungsform lassen sich bis zu den vertragstheoretischen Ansätzen von Thomas Hobbes und John Locke zurückverfolgen. Hobbes ging vom Naturzustand aus, in dem jeder Mensch mit einer Reihe von natürlichen Rechten ausgestattet ist. Das Recht auf Selbstverteidigung ist unter diesen Rechten das unabdingbarste und unveräußerlichste. Aber jeder Mensch strebt auch nach mehr Besitz, weswegen im Naturzustand ein ständiger Kampf „Jeder-gegen-Jeden“ herrscht. Deshalb schließen die Menschen einen sozialen Kontrakt ab, um Frieden zu erreichen. In diesem Sozialvertrag gibt jedes Individuum einen Teil seiner natürlichen Rechte auf und tritt sie an eine omnipotente Regierung ab: den Leviathan. Locke hat das Hobbes‘sche Konzept des Naturzustands ergänzt und jede Person zur Befolgung natürlicher Gesetze verpflichtet. Diese Gesetze erlauben es Individuen über Besitz zu verfügen, begrenzen dieses Besitzrecht aber auch: Der Einzelne besitzt nicht mehr als er braucht, um seinen Lebensunterhalt zu sichern.
Der einzige Nachteil dieses Locke‘schen Naturzustands ist, dass sich kein Mensch sicher sein kann, ob andere Menschen die natürlichen Gesetze befolgen. Das führt dazu, dass sie eine Gesellschaft gründen, zu Bürgern werden und gemeinsam vereinbaren, eine Regierung einzurichten, die von ihnen selbst kontrolliert wird. Das autokratische Regime, das von Hobbes toleriert wird, ist damit keine Option, denn es ist schlimmer als die Anarchie des Naturzustandes. Für Locke ist derjenige, der eine solche Autokratie als Regierung in Erwägung zieht, bereit, sich eher von einem Löwen fressen als sich von Ziegen stören zu lassen. Ich fasse also zusammen: Die liberale Demokratie ist ein von Menschen gemachter Sozialvertrag zwischen Individuen, die ihr Eigeninteresse verfolgen.
Der Konfuzianische Staat hat einen anderen Ausgangspunkt. Für Konfuzius (551-479 v. Chr.) sind Menschen mit unterschiedlichen naturgegebenen Eigenschaften geboren. Einige sind klug und andere sind dumm. Die klügsten und die dümmsten Menschen kann man nicht ändern, aber die dazwischen können sich durch Lernen und Übung verändern. Als Konsequenz besteht die Gesellschaft aus „ehrenwerten Männern“ (junzi) und „kleinen Männern“ (xiaoren). Den Ehrenmännern sind Dinge wichtig, die über ihr eigenes Wohlergehen hinausgehen, die kleinen Männer kümmern sich dagegen nur um sich selbst. In heutige Worte übersetzt heißt das: Konfuzius glaubte, dass die menschliche Natur aus einer komplexen Kombination von Eigenschaften besteht, die von reinen Eigeninteressen bis hin zu noblen Beweggründen reichen. Diese Sicht ist mit wissenschaftlichen Beobachtungen von zwei Artenverwandten des Homo sapiens vereinbar, den Schimpansen und den Bonobos, so wie sie Frans de Waal in seinem berühmten Buch Chimpanzee Politics (deutsch: Unsere haarigen Vettern) beschrieben hat. Und diese Auffassung deckt sich auch mit dem, was wir in unserem Alltag beobachten. Für Konfuzius ist die menschliche Natur die Summe von Beobachtungen und deswegen ist sie im Ergebnis komplex. Für Hobbes und Locke ist die menschliche Natur ein Konstrukt, das nur von der Rationalität des Individuums definiert wird. Was sind die impliziten Folgen dieses Unterschieds? In jedem Fall sind sie immens.
Konfuzianischer Staat vs. liberale Demokratie
Zuallererst glauben freiheitliche Demokratien, dass alle Menschen gleich geschaffen sind; ein Konfuzianischer Staat glaubt das nicht. Diese konfuzianische Gegenthese muss sich für viele Menschen alarmierend anhören. Aber die Aussage „alle Menschen sind gleich geschaffen“ ist eine normative Einschätzung, nicht eine positivistische Beschreibung der Realität. Der konfuzianische Einwand erkennt also nur die Realität an. Das bedeutet aber nicht, dass ein Konfuzianer notwendigerweise das Streben nach Gleichheit ablehnt. In der Tat verteidigen viele moderne Konfuzianer vehement die Gleichheit und die persönliche Freiheit. Aus diesem Grund ist Konfuzianismus eine Art positiver Realismus: Konfuzianer erkennen an, dass die die Welt nicht perfekt ist, aber sie bekennen sich dazu, sie besser zu machen.
Zweitens sollte nach Konfuzius Lehren eine Gesellschaft hierarchisch organisiert sein, wobei die Hierarchie von relevanten Qualifikationen bestimmt wird. Diese Vorstellung wird nicht allein von Konfuzianern vertreten, die amerikanischen Gründerväter hatten vergleichbare Gedanken. In seinen berühmten Federalist Papers verfocht Alexander Hamilton schonungslos die Meinung, dass das Präsidentenamt nicht für eine Person ohne herausragende Qualitäten geeignet sei. Und die amerikanische Verfassung übertrug das Recht, den Präsidenten zu wählen an das electoral college, ein Gremium von elitären Wahlmännern, die von ihrer lokalen Gemeinschaft empfohlen wurden. Der zeitgenössische konfuzianische Philosoph Daniel Bell unterscheidet zwischen guten und schlechten Hierarchien. Schlechte Hierarchien wie das Kastensystem zementieren soziale Unterschiede und sind unterdrückerisch. Gute Hierarchien ermöglichen den sozialen Aufstieg und ermutigen Menschen dazu, sich zu verbessern. Während gute Hierarchien anerkennen, dass Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten geboren werden, ermutigen sie sie auch, sich durch Genügsamkeit und eigenes Lernen zu verbessern. Tatsächlich war das historische China mit seinem landesweiten einheitlichen Prüfungssystem (keju) im Altertum eine der Gesellschaften mit der größten sozialen Mobilität.
Drittens sind die Qualifikationen der Kandidaten das wichtigste Kriterium für die Auswahl politischer Führer – und nicht ihre politische Plattform oder ihre politische Agenda. Für einen Konfuzianer ist das wichtigste Ziel einer Führungspersönlichkeit das tugendhafte Regieren (ren). Diese Tugendhaftigkeit hängt nicht von seiner Pflicht zu Rechenschaft gegenüber dem Volk ab, wie es liberale Demokratien fordern. Sie hängt vielmehr von den persönlichen Qualitäten des tugendhaften Herrschers selbst ab.
Vom tugendhaften Herrscher
Wie wird man zum tugendhaften Herrscher oder Politiker? Durch Lernen und Bildung. Seit Kaiser Hanwu (156-87 v. Chr., siebter Kaiser der Han-Dynastie) den Konfuzianismus als einzige Staatsideologie annahm, hat jeder chinesische Kaiser sein Leben lang den Konfuzianismus studiert. Ihm wurde bereits in der Jugend ein konfuzianischer Lehrer zur Seite gestellt. Außerdem bekam er auch nachdem er sein Amt angetreten hatte, regelmäßig Unterricht (jingyan) von konfuzianischen Lehrern. Diese Anforderungen beschränkten sich nicht allein auf den Kaiser. Auch Regierungsbeamte mussten ihre eigene Perfektionierung durch das Studium der konfuzianischen Lehren anstreben. Das Keju-Prüfungssystem wurde geschaffen, um die Talentierten unter den jungen Menschen zu finden. Vor der Ming-Dynastie (1368-1644) war der Premierminister der Kopf der Regierung. Ein konfuzianischer Lehrer der Song-Dynastie drückte es so aus: Ein Premierminister sollte danach beurteilt werden, wie gut es ihm gelingt, den Frieden im Land zu bewahren und ein Kaiser danach, wie erfolgreich er bei seinem Studium des Konfuzianismus ist.
Um es auf den Punkt zu bringen: In der konfuzianischen Welt sind die persönliche Tugend und persönliche Verdienste das Ein und Alles. Chinesen sind sich schon lange bewusst, dass sie auf sich selbst vertrauen müssen, wenn sie ihr Leben verbessern wollen, nicht auf die Regierung. Deswegen sind Jack Ma und Pony Ma, die beiden reichsten Männer im heutigen China, die Helden der jungen Chinesen. Chinesen glauben nicht so stark an das Kollektiv wie sie selbst und auch das Ausland lange geglaubt haben. Sie überlassen die öffentliche Sphäre den Machthabern und gehorchen ihnen. Deshalb wirken die Chinesen stärker am Kollektiv orientiert als die Völker des Westens. Im Gegenzug wird von denen, die an der Macht sind, erwartet, dass sie ihre öffentliche Rolle dazu nutzen, das Wohl des Kollektivs zu verbessern. Verantwortung und nicht die Rechenschaftspflicht ist die treibende Kraft hinter der Macht in China.
Die Auswahl des politischen Personals
In der konfuzianischen Welt wird der Staat von Amtsträgern geführt, die wegen ihrer Tugendhaftigkeit und ihren Fähigkeiten ausgewählt werden. Aber wer ist dazu qualifiziert, diese Auswahl zu treffen? In einer Demokratie wird das politische Personal vom Volk gewählt. Das basiert auf der Einschätzung, dass die Weisheit des Kollektivs sich in den aggregierten Stimmen aller Bürger ausdrückt. Hamilton hat diese Einschätzung zurückgewiesen, weil Wähler leicht von opportunistischen Politikern beeinflusst werden können. Der Konfuzianismus weist die Theorie von der Weisheit der Vielen aus ähnlichen Gründen zurück: Menschen sind auf dem Weg zur tugendhaften Person unterschiedlich weit gekommen, einige Menschen haben also ein besseres Urteilsvermögen als andere. Deswegen sollten die Amtsträger von denen gewählt werden, die selbst bereits über große Tugend und wertvolle Fähigkeiten verfügen. Im alten China übernahmen hochrangige Beamte und in letzter Konsequenz der Kaiser selbst diese Aufgabe. Im heutigen China übernimmt die Kommunistische Partei die Auswahl. Der Konfuzianische Staat braucht ein zentrales Gremium mit der Macht, die Staatsbeamten zu wählen.
Dieses zentralisierte Auswahlsystem hat Vor- und Nachteile. Der wichtigste Vorteil liegt darin, die Staatsdiener vor den Ansprüchen und Wünschen der Allgemeinheit zu schützen, die in vielen Fällen kurzsichtig sein können. In einem großen Land wie China bekommt ein zentrales Gremium durch dieses Verfahren auch ein wirkungsvolles Instrument, um lokale Beamte zu kontrollieren. Seit der Zeit von Kaiser Qin Shihuang (259-210 v. Chr.), der China das erste Mal vereinte, hat die Zentralregierung lokalen Beamten erhebliche Autonomien gegeben. Um sie aber daran zu hindern, eine eigene politische Machtbasis aufzubauen, wurden diese lokalen Beamten in einer Art Rotationssystem alle paar Jahre ausgetauscht. Diese Praxis gibt es noch heute. Indem die Zentrale die Besetzung der Posten bestimmt, kann sie effektive Kontrolle über Beamte und das politische Führungspersonal im ganzen Land ausüben. Aber diese Machtkonzentration bringt auch Nachteile mit sich. Das System kann schnell verkrusten, weil jeder Beamte nur auf einen Befehl von oben wartet. Zusätzlich ist der Weg an die Spitze so lang, dass nach vielen Auswahlrunden fast alle Beamten dieselben Merkmale aufweisen. Obwohl die Ausbildung auf dem Weg nach oben die Qualität des Führungspersonals verbessert, übersieht die Bürokratie vielleicht Talente außerhalb des Systems, die gute Fähigkeiten für die Lösung der Probleme des Landes haben.
Die größte Herausforderung für den Konfuzianischen Staat ist die mangelnde Rechenschaft, zu der die Zentralmacht verpflichtet ist. Diese Pflicht ist ein integraler Bestandteil jeder liberalen Demokratie. Kann diese Rechenschaftspflicht aus der Theorie des Konfuzianischen Staates abgeleitet werden? Ich sehe zwei Argumente, um diese Frage positiv zu beantworten. Erstens ist es das oberste Ziel eines Konfuzianischen Staates ren, also tugendhaftes Regieren, zu verwirklichen. Der Herrscher – in diesem Fall das zentrale Machtgremium – sollte deshalb bereit sein, die letztendliche Beurteilung seiner Politik dem Volk zu überlassen. Denn schließlich glaubt die regierende Instanz daran, dass das, was sie tut, gut für das Volk und gut für die Menschen, ist. Zweitens können die Regierenden das Misstrauen des Volkes nicht lediglich durch Versprechungen beseitigen. Wenn die Herrschenden ihre Macht mit dem Volk teilen, ist das eine gegenseitige Versicherung von Herrschern und Beherrschten: Das Volk kann sich sicher sein, dass die Regierenden die tugendhafte Machtausübung anstrebt und die Regierenden können annehmen, dass das Volk nicht gegen ihn aufbegehrt. Deshalb sollte der Konfuzianische Staat in seiner modernen Ausprägung die Souveränität auf das Volk übertragen.
Die Leistungsfähigkeit von Chinas heutigem politischen System
Chinas ökonomischer Erfolg seit 1978 wurde möglich, weil sich die Kommunistische Partei auf chinesische Traditionen besonnen hat, in der der Konfuzianische Staat eine zentrale Rolle spielt. Wenn es nur um wirtschaftliche Aspekte geht, kann der chinesische Erfolg mit der Übernahme der Lehren der neoklassischen Wirtschaftstheorie erklärt werden. Für einen Ökonomen, der sich mit politischer Ökonomie beschäftigt, ist es eine weitaus faszinierendere Frage, warum es der chinesischen Regierung und der Kommunistischen Partei gelungen ist, diese Lehren für sich anzunehmen.
Dabei ist es wertvoll, sich daran zu erinnern, dass die Kommunistische Partei vor 1978 in erster Linie Klassenkampf betrieb. Klassenkampf wie er von Karl Marx als notwendiger nächster Schritt beim Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft beschrieben wurde. Schließlich wurde die chinesische Kommunistische Partei 1921 gegründet, weil sich der Marxismus in China ausbreitete. Von ihrer Gründung bis ins Jahr 1978 bezog die Partei einen klaren Standpunkt gegen chinesische Traditionen, weil sie diese für reaktionär und rückwärtsgewandt hielt. 1978 beendete Deng Xiaoping den Klassenkampf und nutzte seine Instinkte als pragmatischer Chinese, um die Partei zu chinesischen Traditionen zurückzuführen. Die Kommunistische Partei durchlief unter seiner Führung einen Prozess der Sinisierung.
Die beiden wichtigsten Veränderungen in der Kommunistischen Partei
Die erste entscheidende Veränderung war, Marxistische Dogmen durch die chinesische Philosophie des Pragmatismus zu ersetzen. China verfügt über keine im eigenen Land gewachsene Religionen. Das säkulare Leben steht seit langem im Fokus der chinesischen Zivilisation. Freude, Liebe, Angst, Leid usw. – alle Erfahrungen, die der Mensch im Leben macht – waren immer Themen von Gedichten, Versen und Volksliedern. Also wurden die Menschen in China zu bodenständigen Pragmatikern. In seiner heutigen Version hat der chinesische Pragmatismus zwei spezifische Ausprägungen. Erstens gibt es keine allgemeingültigen Wahrheiten. Deshalb muss jeder Anspruch auf Wahrheit an der Praxis überprüft werden. Ohne diesen Gedanken wäre es nicht vorstellbar, dass die Kommunistische Partei alle diese Reformen in Angriff genommen hätte, die dem orthodoxen Marxismus zuwiderliefen. Ein Marxismus, der vor allem in der Sowjetunion geschaffen und vertreten wurde. Das zweite Merkmal: Die Legitimität der Mittel kann im Sinne der Vernunft durch die Erwünschtheit der Ergebnisse gerechtfertigt werden. In den Worten von Deng hört sich das so an: Es ist nicht wichtig, ob eine Katze weiß oder schwarz ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse. Für Deng repräsentierten die „Mäuse“ die große Erneuerung Chinas und die „Katze“ stand für was auch immer nötig war, um dieses Ziel der Erneuerung zu erreichen. Ein Beispiel dafür war die Einführung der Marktwirtschaft. Weil der Markt Ressourcen effizienter verteilt als Planung, sollte China auf Marktwirtschaft setzen. Dabei war es egal, dass der Markt eine Erfindung des Kapitalismus ist.
Als zweite Veränderung wurde ein innerparteiliches politisches Leistungssystem wiedereingeführt: eine Meritokratie für die Kommunistische Partei. Deng führte Regeln zur Pensionierung von Parteigenossen ein und machte so den Weg frei, damit junge Mitglieder in der Hierarchie aufsteigen konnten. In den frühen 80er Jahren formulierte er vier Kriterien für die Beförderung in der Partei: Das Führungspersonal musste revolutionär, jung, kenntnisreich und professionell sein. Eine der wichtigsten Beförderungen dieser Zeit war die von Zhao Ziyang zum Premierminister. Zhao war, bevor er diesen Posten bekam, lediglich Parteisekretär in der Provinz Sichuan. Er wurde nur deshalb zum Premier ernannt, weil er eine Führungsrolle bei der Boden- und Landreform übernommen hatte. Die Tradition der auf Leistung basierten Beförderung wurde auch nach Deng von der zentralen Führung fortgesetzt. In den 90er Jahren und den Nullerjahren war die Wirtschaftsleistung ein wesentliches Kriterium für den Aufstieg in der Parteihierarchie.
An der Theoriefront der Partei kamen Veränderungen jedoch langsamer voran. Die Parteiführer bemerkten in den 80er und 90er Jahren zwar mehr und mehr, dass sich die Entscheidungen und Aktionen der Partei nicht mehr vollständig mit den Begriffen des Marxismus beschreiben ließen. Vor allem die Wirtschaftsreformen widersprachen den Praktiken des dogmatischen Marxismus, die ökonomische Planung und den Gemeinbesitz von Produktionsmitteln postulierten. Auf dem Papier musste der Marxismus eine orthodoxe Ideologie sein, weil er die Ideologie der Kommunistischen Partei Chinas rechtfertigte. Aber in der Realität verpasste die Parteiführung dem Marxismus einen neuen Anstrich und definierte die Partei jetzt als „Volkspartei für alle“. Von nun an sollte die Partei nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch andere Bevölkerungsgruppen in China repräsentieren. Dadurch wurde die Partei zu einer neutralen Machtzentrale, die nicht die Interessen einzelner sozialer Gruppen verteidigt. So vermied die Partei ein Problem, das viele Entwicklungsländer plagt: Der Staat wurde nicht zum Gefangenen von verschiedenen Interessengruppen und die chinesische Wirtschaft konnte wachsen, ohne dass Interessengruppen für eine Fehlallokation von Ressourcen sorgten. Das ist die Essenz der politischen Ökonomie, die hinter Chinas wirtschaftlichem Erfolg steht.
Warum der internationale Diskurs über China grob vereinfacht ist
Der herrschende Diskurs in der internationalen Öffentlichkeit beschreibt Chinas politisch-ökonomisches System als eines der politischen und ökonomischen Exklusion, in dem der Staat alles mit fester Hand kontrolliert. Tatsächlich ist es im Moment eine übliche Praxis Chinas System als diametralen Gegensatz zum westlichen System der freien Marktwirtschaft und der demokratischen Regierung zu sehen. Das ist jedoch eine grob vereinfachende und irreführende Charakterisierung des chinesischen Systems.
Zuallererst ist die Kommunistische Partei keine geschlossene politische Einheit. Sie steht allen offen, die an Chinas große Erneuerung glauben und zu ihr beitragen können und wollen. Der Partei beizutreten setzt Disziplin voraus. Diese Hürde erlaubt es, Opportunisten zu entdecken und auszusortieren. Die Partei übernimmt so die Rolle der zentralen Autorität im Konfuzianischen Staat, inklusive von Aufgaben wie der Auswahl des politischen und bürokratischen Führungspersonals im gesamten Land. Auf allen Ebenen befindet sich dieses Führungspersonal im Wettbewerb um den Aufstieg. Obwohl persönliche Verbindungen eine Rolle spielen, zeigen Studien, dass Leistung der Schlüsselfaktor für eine Beförderung ist. Der Eindruck, dass Chinas politisches System geschlossen ist, ist entstanden, weil China durch die Brille des demokratischen Parteienwettbewerbs gesehen wird. Die Argumentation lautet: Im chinesischen politischen System gibt es keine Parteien, die mit der Kommunistischen Partei konkurrieren, also handelt es sich um ein geschlossenes politisches System. Aber die Kommunistische Partei ist keine politische Partei im westlichen Sinne. Sie ist vielmehr die zentrale Machtinstanz in einem Konfuzianischen Staat.
Was den wirtschaftlichen Aspekt des politisch-ökonomischen Systems angeht, wird die chinesische Wirtschaft nicht vom staatlichen Sektor dominiert. Innerhalb Chinas wird der Beitrag des Privatsektors mit der einfachen Zahlenreihe „56789“ beschrieben: Der Privatsektor
- zahlt 50 Prozent der Steuern,
- erarbeitet 60 Prozent des Bruttosozialprodukts,
- ist für 70 Prozent der Innovationen verantwortlich,
- beschäftigt 80 Prozent der Arbeitenden und
- steht für 90 Prozent der Unternehmen.
Der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg Chinas ist nicht der Staatskapitalismus, sondern das Wachstum im privaten Sektor. Der Staatskapitalismus selbst ist ein Mythos. Obwohl die Regierung selbst den Markt beeinflusst, ist es weit hergeholt zu behaupten, dass die Regierung alles in der chinesischen Wirtschaft kontrolliert. Ernsthafte Wissenschaftler müssen sich darüber klar sein, dass die Behauptung China verfolge ein Wirtschaftsmodell des Staatskapitalismus, auch eine Strategie sein könnte, um Chinas wirtschaftliche Erfolge zu diskreditieren.
Auch im gesellschaftlichen Bereich wird die Kontrolle überzeichnet, die die Partei ausübt. Sicherlich gibt es Zensur im Land, aber das Regime ist definitiv weit entfernt von einer Diktatur wie sie George Orwell in seinem dystopischen Roman 1984 beschreibt. Nehmen wir das Beispiel des Social Credit Systems. Die meisten westlichen Kommentatoren sehen es als Beweis für Chinas digitalen Despotismus. Diese Einschätzung verkennt die Realität: Schwindel und Betrug sind ernsthafte Bedrohungen für ehrbare Geschäftspraktiken und den Alltag. China ist ein Land, das im Moment eine rasante Transformation durchläuft von einer traditionellen, von persönlichen Beziehungen geprägten Gesellschaft hin zu einer modernen Gesellschaft von Fremden. Das Social Credit System zielt darauf ab, Betrug zu bestrafen und Ehrlichkeit zu belohnen. Es ist auch für ehrliche Menschen unbequem, aber das sind vielleicht notwendige Unannehmlichkeiten, damit sich China schnell zu einer regelbasierten, modernen Gesellschaft verändern kann.
Die Quarantänemaßnahmen, die China vorgenommen hat, um das Coronavirus zu bekämpfen, wurden von westlichen Journalisten und in den Sozialen Medien als weiterer Beleg für die chinesische Despotie angeführt. Einige haben sogar gefordert, auf Quarantänemaßnahmen in ihren Heimatländern zu verzichten, weil sie dezidiert vermeiden wollten, dem Beispiel der ihrer Meinung nach despotischen Methode Chinas zu folgen. Aber diese Argumentation ignoriert die Tatsache, dass auch andere Länder und Regionen in Ostasien entweder strenge Quarantänemaßnahmen oder digitales Tracking angewendet haben, um die Ausbreitung von Infektionen zu verhindern. Ostasien hat das nicht getan, weil es dasselbe politische System aufweist, sondern weil China und diese Länder und Regionen dieselbe kollektive Kultur teilen.
„Checks and Balances“ in Chinas politisches System einführen
Sicherlich ist Chinas politisches System nicht perfekt, selbst im Vergleich mit dem Konfuzianischen Staat. Aber das sollte niemand überraschen. Schließlich erreicht auch keine Demokratie auf Erden die Standards einer idealen liberalen Demokratie. Jedes politische System befindet sich erst auf dem Weg zur Perfektion.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem chinesischen politischen System und dem Konfuzianischen Staat ist die mangelnde Rechenschaftspflicht der zentralen Staatsgewalt. Trotzdem ist es nicht empfehlenswert, diese Lücke durch einen Wettbewerb der Parteien in einem herkömmlichen Wahlsystem zu füllen. Stattdessen sollte ein Verfahren der Checks and Balances Teil des politischen Systems werden. Der Grundsatz einer verfassungsgemäßen politischen Herrschaft ist die Gewaltenteilung. Aus ihr heraus sollte sich das Prinzip der Checks and Balances entwickeln. Denn die Gewaltenteilung sollte nicht ein exklusives Merkmal von freiheitlichen Demokratien bleiben. Jede rationale politische Ordnung braucht die Gewaltenteilung, weil ohne sie rationales Regieren in einer modernen Gesellschaft, deren Wesensmerkmal Komplexität ist, unmöglich wird. Unglücklicherweise ist inzwischen das Instrument der Checks and Balances selbst – im Westen wie im Osten – so stark ideologisch aufgeladen, dass eine rationale Diskussion über dieses Instrument zur Kontrolle der Regierung mittlerweile unmöglich geworden ist, ohne zuvor über das politische System selbst zu urteilen.
Ist es möglich, das Prinzip der Checks and Balances in China einzuführen, angesichts der Tatsache, dass die Kommunistische Partei die einzige politische Macht in der Gesellschaft ist? In dieser Hinsicht gibt der Eid der Kaiser der nördlichen Song-Dynastie (960-1127) ein erhellendes Beispiel: Der erste Kaiser der Dynastie fertige eine geheime Steintafel mit einem Eid als Inschrift an, der künftige Herrscher verpflichtete, keinen Beamten und keinen Menschen zu töten, der ihn kritisierte. Jeder neue Kaiser musste diesen Eid unter Geheimhaltung ablegen. Keiner der Kaiser der Dynastie brach diesen Eid. Selbstbeschränkung konnte also zu einer dauerhaften Übereinkunft zwischen zwei Interessensparteien führen, die über asymmetrische Macht verfügen. Hinter dem Beispiel-Pakt zwischen dem Kaiser und seinem jeweiligen Kritiker stand der gemeinsame Glaube an die konfuzianische Doktrin. Die Kommunistische Partei verfolgt das Ziel der großen Erneuerung Chinas. Dieses Ziel strebt auch das chinesische Volk an. Deshalb sind die beiden Gründe, die im Konfuzianischen Staat dafür sprechen, die Souveränität auf das Volk zu übertragen, auch für Chinas gegenwärtiges politisches System stichhaltig: Das Streben nach Tugendhaftigkeit im Regieren (ren) und die gegenseitige Selbstversicherung von Regierenden und Regierten.
Es gibt verschiedene Gründe, warum Checks and Balances nicht vollständig in China implementiert worden sind. Der wichtigste Grund ist, dass es an Konsens darüber fehlt, ob der Konfuzianische Staat als ein Vorbild einer idealen Regierungsform für das heutige China dienen kann. Die Partei ist nicht bereit, ihren Kurs der Sinisierung zu vollenden und in der Öffentlichkeit dominiert das Narrativ der Demokratie. Als Ergebnis ist der politische Diskurs in China angespannt und wird von einer beiderseitigen Angst bestimmt: Die Öffentlichkeit, insbesondere die Intellektuellen, hoffen voller Angst auf Chinas Wandel zu einer Demokratie und genau darum hat die Partei Angst um ihre eigene Macht. Die zweite Angst ist der Hauptgrund der Zensur.
Die Kommunistische Partei muss ihre Sinisierung vollenden
Die Kommunistische Partei sollte eine Führungsrolle dabei übernehmen, diesen Fluch der Angst zu brechen. Den Kurs der Sinisierung konsequent zu Ende zu führen, ist der einzige Ausweg. Der Marxismus erklärt nicht, was die Partei seit 1978 richtig gemacht hat. Und er führt auch nicht zum Frieden mit der Weltanschauung der Menschen in China. Wenn die Partei den Konfuzianischen Staat als Idealtypus anerkennt, legt sie dem politischen System Chinas ein solides philosophisches Fundament, das deckungsgleich mit den psychologischen Neigungen gewöhnlicher Chinesen ist. Zusätzlich wird dieses Ideal der Kommunistischen Partei im Umgang mit dem Westen helfen.
Der Liberalismus birgt kostbare menschliche Werte, aber er hat auch Nachteile. Das gilt besonders für die Bereiche, die mit dem Individualismus und einer abstrakten Gleichheit verbunden sind und die als Brutstätte für populistische Politik dienen. Der Konfuzianismus verspricht genau in diesen Bereichen Heilung. Die Idee von zhong-yong – das bedeutet friedliche Koexistenz in der politischen Arena – erlaubt es dem Konfuzianismus darüber hinaus, viele liberale Werte zu akzeptieren. Zhong-yong erlaubt China auch für politische Vielfalt in der Welt zu plädieren.
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